Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.Der volksschullchrer und die deutsche Sprache nicht sehen kann und auch nicht zu sehen braucht. Pannwitz sagt darum sehr richtig, Grenzboten II 1910 69
Der volksschullchrer und die deutsche Sprache nicht sehen kann und auch nicht zu sehen braucht. Pannwitz sagt darum sehr richtig, Grenzboten II 1910 69
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0557" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/316196"/> <fw type="header" place="top"> Der volksschullchrer und die deutsche Sprache</fw><lb/> <p xml:id="ID_2903" prev="#ID_2902" next="#ID_2904"> nicht sehen kann und auch nicht zu sehen braucht. Pannwitz sagt darum sehr richtig,<lb/> daß das Sinnliche des Wortes gefühlt werden muß. Ob er freilich mit meinen<lb/> Ausführungen einverstanden ist, oder ob er nicht vielmehr meint, daß die<lb/> ursprüngliche Sinnlichkeit des Wortes gefühlt werden muß, wage ich nicht zu<lb/> entscheiden. Pannwitz ist so etwas wie ein Fanatiker der Plastik und im<lb/> Gegensatz zur Herrschaft der toten Phrase hat das auch seinen großen Vorteil.<lb/> Er meint, daß in den meisten Füllen die Kinder nicht von dem Lehrer, sondern<lb/> umgekehrt der Lehrer von den Kindern zu lernen hat, und die Aufsätze, die in<lb/> einer vorgeschriebenen und naturwidriger Schriftsprache abgefaßt sein müssen,<lb/> bezeichnet er als Foltergeständnisse. Der Lehrer soll sich in die Altersmundart<lb/> des Schülers hineinfühlen und soll von dem Kind lernen, alle Phrasen und<lb/> alle überflüssige Kompliziertheit von sich abzutun. Pannwitz hat recht: der<lb/> Lehrer kann in diesen: Punkt von den Kindern viel lernen, und die Art, wie<lb/> heute dem Kind die Schriftsprache ohne Rücksicht auf seinen kindlichen Geist<lb/> aufgezwungen wird, ist allerdings ein sehr häßlicher und barbarischer Anblick.<lb/> Die Sprache, die man dem Kind aufzwingt, ist unecht und für das Kind<lb/> Phrase, auch wenn sie es vielleicht an sich nicht ist. Nur wird freilich hier<lb/> Pannwitz wieder von der Grundstimmung seines Wesens zu Konsequenzen<lb/> geführt, die sich nicht halten lassen. Er sagt an einer Stelle: „Wenn ein<lb/> Kind spricht oder schreibt: Ich bin der Meinung, statt „ich meine", so spricht<lb/> oder schreibt es eine Phrase." Ich frage: Warum? Das Sprachgefühl macht<lb/> zwischen den beiden Wendungen einen Unterschied. Man sagt „ich bin der<lb/> Meinung", wenn es sich um einen Gegensatz zu anderen Meinungen handelt,<lb/> wenn also das ich unterstrichen ist, und ich bin fest überzeugt, daß mein ältester<lb/> Junge (ein stolzer Quartaner) diesen Unterschied richtig, wenn auch natürlich<lb/> nur instinktiv, machen würde. Wenn er aber die Wendung „ich bin der<lb/> Meinung" wirklich empfindet, warum sollte er sie dann nicht sagen dürfen?<lb/> Ich freue mich sogar über Wendungen, die er ganz offensichtlich von Erwachsenen über¬<lb/> nommen hat, weil sie ihm Eindruck machten. In einem Aufsatz über die Gründung<lb/> Karthagos schrieb er kürzlich: „Dido erkannte in ihm sofort den König, obgleich<lb/> er mit der Reinlichkeit auf gespanntem Fuß zu stehen schien". Die ironische<lb/> Färbung des zweiten Satzes war selbstverständlich kein eigenes Gewächs, sondern<lb/> war von mir oder einem anderen Erwachsenen übernommen und dann als eine<lb/> „riesig feine Sache" mit Freudenstrahlen in den Aufsatz hineingeschrieben worden.<lb/> Aber was schadet das? Ich überzeugte mich, daß er den Scherz der Wendung<lb/> empfand und teilte dann seine Freude über den famosen Fund, obwohl der<lb/> Satz in seinem Stil natürlich wirkte wie ein fremder Flicken auf einem Gewand.<lb/> Pannwitz selber will ja, daß die Schriftsprache des Kindes entstehen soll, indem<lb/> seine Altersmundart mit der Sprache des Lehrers organisch verschmilzt. In<lb/> irgendeinem Stadium aber muß etwas fremdartig wirken, bevor es über¬<lb/> haupt zu einer Verschmelzung kommen kann. Ein Kind, das sich bei einer<lb/> solchen Wendung riesig erhaben fühlt, gleicht einem anderen Kind, das</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II 1910 69</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0557]
Der volksschullchrer und die deutsche Sprache
nicht sehen kann und auch nicht zu sehen braucht. Pannwitz sagt darum sehr richtig,
daß das Sinnliche des Wortes gefühlt werden muß. Ob er freilich mit meinen
Ausführungen einverstanden ist, oder ob er nicht vielmehr meint, daß die
ursprüngliche Sinnlichkeit des Wortes gefühlt werden muß, wage ich nicht zu
entscheiden. Pannwitz ist so etwas wie ein Fanatiker der Plastik und im
Gegensatz zur Herrschaft der toten Phrase hat das auch seinen großen Vorteil.
Er meint, daß in den meisten Füllen die Kinder nicht von dem Lehrer, sondern
umgekehrt der Lehrer von den Kindern zu lernen hat, und die Aufsätze, die in
einer vorgeschriebenen und naturwidriger Schriftsprache abgefaßt sein müssen,
bezeichnet er als Foltergeständnisse. Der Lehrer soll sich in die Altersmundart
des Schülers hineinfühlen und soll von dem Kind lernen, alle Phrasen und
alle überflüssige Kompliziertheit von sich abzutun. Pannwitz hat recht: der
Lehrer kann in diesen: Punkt von den Kindern viel lernen, und die Art, wie
heute dem Kind die Schriftsprache ohne Rücksicht auf seinen kindlichen Geist
aufgezwungen wird, ist allerdings ein sehr häßlicher und barbarischer Anblick.
Die Sprache, die man dem Kind aufzwingt, ist unecht und für das Kind
Phrase, auch wenn sie es vielleicht an sich nicht ist. Nur wird freilich hier
Pannwitz wieder von der Grundstimmung seines Wesens zu Konsequenzen
geführt, die sich nicht halten lassen. Er sagt an einer Stelle: „Wenn ein
Kind spricht oder schreibt: Ich bin der Meinung, statt „ich meine", so spricht
oder schreibt es eine Phrase." Ich frage: Warum? Das Sprachgefühl macht
zwischen den beiden Wendungen einen Unterschied. Man sagt „ich bin der
Meinung", wenn es sich um einen Gegensatz zu anderen Meinungen handelt,
wenn also das ich unterstrichen ist, und ich bin fest überzeugt, daß mein ältester
Junge (ein stolzer Quartaner) diesen Unterschied richtig, wenn auch natürlich
nur instinktiv, machen würde. Wenn er aber die Wendung „ich bin der
Meinung" wirklich empfindet, warum sollte er sie dann nicht sagen dürfen?
Ich freue mich sogar über Wendungen, die er ganz offensichtlich von Erwachsenen über¬
nommen hat, weil sie ihm Eindruck machten. In einem Aufsatz über die Gründung
Karthagos schrieb er kürzlich: „Dido erkannte in ihm sofort den König, obgleich
er mit der Reinlichkeit auf gespanntem Fuß zu stehen schien". Die ironische
Färbung des zweiten Satzes war selbstverständlich kein eigenes Gewächs, sondern
war von mir oder einem anderen Erwachsenen übernommen und dann als eine
„riesig feine Sache" mit Freudenstrahlen in den Aufsatz hineingeschrieben worden.
Aber was schadet das? Ich überzeugte mich, daß er den Scherz der Wendung
empfand und teilte dann seine Freude über den famosen Fund, obwohl der
Satz in seinem Stil natürlich wirkte wie ein fremder Flicken auf einem Gewand.
Pannwitz selber will ja, daß die Schriftsprache des Kindes entstehen soll, indem
seine Altersmundart mit der Sprache des Lehrers organisch verschmilzt. In
irgendeinem Stadium aber muß etwas fremdartig wirken, bevor es über¬
haupt zu einer Verschmelzung kommen kann. Ein Kind, das sich bei einer
solchen Wendung riesig erhaben fühlt, gleicht einem anderen Kind, das
Grenzboten II 1910 69
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |