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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Der Volksschullehrer und die deutsche Sprache

ich fühle aber gleichzeitig, daß Pännwitz sich hier selber an das Pathos
seiner Persönlichkeit verliert und daß ihm dabei wie in einem Rausch alle
Sinne schwinden. Ich räume ein, daß es ein sehr nobler und wertvoller Rausch
ist, aber es ist ein Rausch und die Klarheit des Gedankens geht dahin. Um
übrigens auf den verwandten Punkt zu kommen, von dem ich eben sprach:
Wie Pannwitz von der Natur der Kinder mehr erwartet, als sie meines
Erachtens leisten kann, so verwirft er auch zugunsten der Natur die Fach¬
einteilung des Unterrichts; der oben geschilderte Unterricht hat ja schon die
Abwesenheit einer Facheinteilung zur Voraussetzung. Ich verstehe, wie ich
bereits erwähnte, auch hier seinen Gedankengang, nur daß ich ihn in seinen
Konsequenzen nicht zu billigen vermag. Wenn ich von meinem Schreibtisch
aufblicke und zum Fenster hinaussehe, liegt vor mir die holsteinische Landschaft.
Die holsteinische Landschaft ist, wie die Natur überhaupt, eine Einheit, in der
eins immer organisch und fest zum andern gehört. Im Unterricht aber reißen
wir dieses Bild in lauter Fetzen. Wir reißen den Baum heraus und stecken
ihn in die Botanik; wir scheuchen die Kuh von der Weide und sperren sie in
die Zoologie ein; wir heben den Fettstein auf und tragen ihn fein säuberlich
von seinem Feld fort, um ihn der Mineralogie zu überweisen; wir jagen
plötzlich alles, was in der Landschaft vorhanden ist, zum Teufel, um uns
einzig und allein in abstrakter Abgesondertheit mit den Erdschichten zu
beschäftigen, und nennen das Geologie; wir nehmen dem Bauernhaus den
Hintergrund des schwarzen Waldes und stellen es in die Architektur. Wir
sprengen also die ganze einheitliche Landschaft wie mit Dynamik auseinander,
um die einzelnen Teile zu betrachten, und das sieht auf den ersten Blick ja
freilich roh und barbarisch aus und schmeckt nach der Henkersarbeit eines
Systems. Aber doch nur auf den ersten Blick. Wenn wir den ganzen
Prozeß näher überlegen, tun wir schließlich doch nichts anderes, als was auch
Pannwitz tut, wenn er die holsteinische Landschaft betrachtet. Kein menschliches
Auge vermag die Einheit der ganzen Landschaft zu fassen. Selbst wenn wir
nur schauen, um zu schauen, also nicht um zu erkennen, sehen wir immer nur
einen Ausschnitt der Landschaft -- ein Etwas also, das wir aus dem ganzen
Zusammenhang der Natur herausreißen, um es überhaupt anschauen zu können.
Wollen wir aber schauen um der Erkenntnis willen (und das ist im Unterricht
der allgemeine Fall), so nehmen wir aus dem Ausschnitt wieder einen Aus¬
schnitt zu gesonderter Betrachtung vor, denn die Betrachtung um der Erkenntnis
willen muß häufig eine Betrachtung durch die Lupe sein, was ich hier nur
bildlich verstanden wissen will, obwohl es ja oft genug auch buchstäblich
zutrifft. Wenn aber die eigene Natur von uns fordert, daß wir die Land¬
schaft zerlegen müssen, um sie überhaupt betrachten zu können, so befinden wir
uns auf einem durchaus natürlichen Weg, wenn wir dieselbe Zerlegung in
Fächer auch im Unterricht vornehmen. Es darf natürlich nicht versäumt
werden, das Einzelne wieder zum Ganzen zusammenzufügen; es darf nicht


Der Volksschullehrer und die deutsche Sprache

ich fühle aber gleichzeitig, daß Pännwitz sich hier selber an das Pathos
seiner Persönlichkeit verliert und daß ihm dabei wie in einem Rausch alle
Sinne schwinden. Ich räume ein, daß es ein sehr nobler und wertvoller Rausch
ist, aber es ist ein Rausch und die Klarheit des Gedankens geht dahin. Um
übrigens auf den verwandten Punkt zu kommen, von dem ich eben sprach:
Wie Pannwitz von der Natur der Kinder mehr erwartet, als sie meines
Erachtens leisten kann, so verwirft er auch zugunsten der Natur die Fach¬
einteilung des Unterrichts; der oben geschilderte Unterricht hat ja schon die
Abwesenheit einer Facheinteilung zur Voraussetzung. Ich verstehe, wie ich
bereits erwähnte, auch hier seinen Gedankengang, nur daß ich ihn in seinen
Konsequenzen nicht zu billigen vermag. Wenn ich von meinem Schreibtisch
aufblicke und zum Fenster hinaussehe, liegt vor mir die holsteinische Landschaft.
Die holsteinische Landschaft ist, wie die Natur überhaupt, eine Einheit, in der
eins immer organisch und fest zum andern gehört. Im Unterricht aber reißen
wir dieses Bild in lauter Fetzen. Wir reißen den Baum heraus und stecken
ihn in die Botanik; wir scheuchen die Kuh von der Weide und sperren sie in
die Zoologie ein; wir heben den Fettstein auf und tragen ihn fein säuberlich
von seinem Feld fort, um ihn der Mineralogie zu überweisen; wir jagen
plötzlich alles, was in der Landschaft vorhanden ist, zum Teufel, um uns
einzig und allein in abstrakter Abgesondertheit mit den Erdschichten zu
beschäftigen, und nennen das Geologie; wir nehmen dem Bauernhaus den
Hintergrund des schwarzen Waldes und stellen es in die Architektur. Wir
sprengen also die ganze einheitliche Landschaft wie mit Dynamik auseinander,
um die einzelnen Teile zu betrachten, und das sieht auf den ersten Blick ja
freilich roh und barbarisch aus und schmeckt nach der Henkersarbeit eines
Systems. Aber doch nur auf den ersten Blick. Wenn wir den ganzen
Prozeß näher überlegen, tun wir schließlich doch nichts anderes, als was auch
Pannwitz tut, wenn er die holsteinische Landschaft betrachtet. Kein menschliches
Auge vermag die Einheit der ganzen Landschaft zu fassen. Selbst wenn wir
nur schauen, um zu schauen, also nicht um zu erkennen, sehen wir immer nur
einen Ausschnitt der Landschaft — ein Etwas also, das wir aus dem ganzen
Zusammenhang der Natur herausreißen, um es überhaupt anschauen zu können.
Wollen wir aber schauen um der Erkenntnis willen (und das ist im Unterricht
der allgemeine Fall), so nehmen wir aus dem Ausschnitt wieder einen Aus¬
schnitt zu gesonderter Betrachtung vor, denn die Betrachtung um der Erkenntnis
willen muß häufig eine Betrachtung durch die Lupe sein, was ich hier nur
bildlich verstanden wissen will, obwohl es ja oft genug auch buchstäblich
zutrifft. Wenn aber die eigene Natur von uns fordert, daß wir die Land¬
schaft zerlegen müssen, um sie überhaupt betrachten zu können, so befinden wir
uns auf einem durchaus natürlichen Weg, wenn wir dieselbe Zerlegung in
Fächer auch im Unterricht vornehmen. Es darf natürlich nicht versäumt
werden, das Einzelne wieder zum Ganzen zusammenzufügen; es darf nicht


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[0554] Der Volksschullehrer und die deutsche Sprache ich fühle aber gleichzeitig, daß Pännwitz sich hier selber an das Pathos seiner Persönlichkeit verliert und daß ihm dabei wie in einem Rausch alle Sinne schwinden. Ich räume ein, daß es ein sehr nobler und wertvoller Rausch ist, aber es ist ein Rausch und die Klarheit des Gedankens geht dahin. Um übrigens auf den verwandten Punkt zu kommen, von dem ich eben sprach: Wie Pannwitz von der Natur der Kinder mehr erwartet, als sie meines Erachtens leisten kann, so verwirft er auch zugunsten der Natur die Fach¬ einteilung des Unterrichts; der oben geschilderte Unterricht hat ja schon die Abwesenheit einer Facheinteilung zur Voraussetzung. Ich verstehe, wie ich bereits erwähnte, auch hier seinen Gedankengang, nur daß ich ihn in seinen Konsequenzen nicht zu billigen vermag. Wenn ich von meinem Schreibtisch aufblicke und zum Fenster hinaussehe, liegt vor mir die holsteinische Landschaft. Die holsteinische Landschaft ist, wie die Natur überhaupt, eine Einheit, in der eins immer organisch und fest zum andern gehört. Im Unterricht aber reißen wir dieses Bild in lauter Fetzen. Wir reißen den Baum heraus und stecken ihn in die Botanik; wir scheuchen die Kuh von der Weide und sperren sie in die Zoologie ein; wir heben den Fettstein auf und tragen ihn fein säuberlich von seinem Feld fort, um ihn der Mineralogie zu überweisen; wir jagen plötzlich alles, was in der Landschaft vorhanden ist, zum Teufel, um uns einzig und allein in abstrakter Abgesondertheit mit den Erdschichten zu beschäftigen, und nennen das Geologie; wir nehmen dem Bauernhaus den Hintergrund des schwarzen Waldes und stellen es in die Architektur. Wir sprengen also die ganze einheitliche Landschaft wie mit Dynamik auseinander, um die einzelnen Teile zu betrachten, und das sieht auf den ersten Blick ja freilich roh und barbarisch aus und schmeckt nach der Henkersarbeit eines Systems. Aber doch nur auf den ersten Blick. Wenn wir den ganzen Prozeß näher überlegen, tun wir schließlich doch nichts anderes, als was auch Pannwitz tut, wenn er die holsteinische Landschaft betrachtet. Kein menschliches Auge vermag die Einheit der ganzen Landschaft zu fassen. Selbst wenn wir nur schauen, um zu schauen, also nicht um zu erkennen, sehen wir immer nur einen Ausschnitt der Landschaft — ein Etwas also, das wir aus dem ganzen Zusammenhang der Natur herausreißen, um es überhaupt anschauen zu können. Wollen wir aber schauen um der Erkenntnis willen (und das ist im Unterricht der allgemeine Fall), so nehmen wir aus dem Ausschnitt wieder einen Aus¬ schnitt zu gesonderter Betrachtung vor, denn die Betrachtung um der Erkenntnis willen muß häufig eine Betrachtung durch die Lupe sein, was ich hier nur bildlich verstanden wissen will, obwohl es ja oft genug auch buchstäblich zutrifft. Wenn aber die eigene Natur von uns fordert, daß wir die Land¬ schaft zerlegen müssen, um sie überhaupt betrachten zu können, so befinden wir uns auf einem durchaus natürlichen Weg, wenn wir dieselbe Zerlegung in Fächer auch im Unterricht vornehmen. Es darf natürlich nicht versäumt werden, das Einzelne wieder zum Ganzen zusammenzufügen; es darf nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/554>, abgerufen am 01.07.2024.