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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Bismarck und England

Denn er hielt, wie wir wissen, zu seiner Zeit eine solche Seemacht nicht für
notwendig, weil die britische "Gefahr" nicht für gegeben. Ja, er ging im
anderen Extrem so weit, offiziell einen aufrichtigen und freundschaftlichen Verkehr
beider Völker für das -- Natürlichste zu halten, da keins von beiden vitale
Interessen habe, die einander widersprächen, und da England ein mindestens
hundertfünfzig Jahre alter historischer "Bundesgenosse" Deutschlands bezw.
Preußens sei, wenn auch nicht immer im diplomatischen, so doch im tatsäch¬
lichen Sinne.




Sein Wunsch nach freundschaftlichem Verkehr und guten: Einvernehmen
war aber weit entfernt von romantischer Sehnsucht nach einem Bund mit England.
Denn sein System wollte saturiert und kontinental bleiben, und wenn auch
"nicht notwendig antienglisch", so doch nicht abhängig sein von einer Politik,
die, den: Wechsel der öffentlichen Meinung in den Parlamenten und deren
Kabinetten unterworfen, ihre Verbündeten (nach einen: Worte Friedrichs des
Großen) wie die Fregatte die Schaluppe nach sich zieht. Bei seiner "Option"
von Gegengewichten gegen das revancheinstige Frankreich entschied er daher für
den Bund mit weniger mächtigen Staaten des Kontinents, mit denen seine
Politik nach seiner eigenen Erklärung "immer mehr" zu rechnen hatte als mit
England, von dessen Freundschaft er sich selten mehr Gewinn versprochen haben
mag als "platonisches Wohlwollen" und "theoretische Sympathie". Daher zog
er auch den Rückhalt an Rußland, Deutschlands traditionellen! Bundesgenossen
und Englands geborenen Gegner, einen: unsicheren und "unberechenbaren"
Verhältnis mit England vor, das bei seiner unvergleichlich günstigen und über¬
legenen Lage dem deutschen Kontrahenten ohne Schaden wieder den Laufpaß
geben und dadurch eine Koalitionsmisere bereiten konnte, wie sie Deutschland
in unserer Zeit erlebt hat mit der unglücklichen Aufgabe der russischen "Rück¬
versicherung" -- die bekanntlich die russische Neutralität bei einem französischen
Überfall Deutschlands gegen die deutsche Neutralität bei einem österreichischen
Angriff auf Rußland garantierte. Da dem Kanzler jede Verbindung mit dem
mächtigeren England, das nach seiner Voraussicht allein davon Vorteil haben
würde, zu riskiert war, so wird sich auch die Verständigung, die er 1884 wegen
der Kolonien suchte und nicht fand, soweit wir heute sehen können, in denselben
Bahnen bewegt haben, wie die darauffolgende Entente mit dem Frankreich
Jules Ferrys, die auch nur für den Augenblick gedacht sein konnte. Und so
wird auch die 1872 vergeblich erstrebte Verbindung mit England, die als erster
Damm gegen Frankreich geplant war, ebensowenig in der Absicht eines dauernden
Systems gelegen haben, zumal Bismarck nebenbei an: Dreikaiserverhältnis fest¬
halten wollte. Denn er hat nie glauben können, daß eine Politik, die sich fest
auf den Grundstock der kontinentalen Mächte stützt, auch den Interessen der
größten Seemacht längere Zeit genügen kann, ohne ihre eigene Lebensfähigkeit


Bismarck und England

Denn er hielt, wie wir wissen, zu seiner Zeit eine solche Seemacht nicht für
notwendig, weil die britische „Gefahr" nicht für gegeben. Ja, er ging im
anderen Extrem so weit, offiziell einen aufrichtigen und freundschaftlichen Verkehr
beider Völker für das — Natürlichste zu halten, da keins von beiden vitale
Interessen habe, die einander widersprächen, und da England ein mindestens
hundertfünfzig Jahre alter historischer „Bundesgenosse" Deutschlands bezw.
Preußens sei, wenn auch nicht immer im diplomatischen, so doch im tatsäch¬
lichen Sinne.




Sein Wunsch nach freundschaftlichem Verkehr und guten: Einvernehmen
war aber weit entfernt von romantischer Sehnsucht nach einem Bund mit England.
Denn sein System wollte saturiert und kontinental bleiben, und wenn auch
„nicht notwendig antienglisch", so doch nicht abhängig sein von einer Politik,
die, den: Wechsel der öffentlichen Meinung in den Parlamenten und deren
Kabinetten unterworfen, ihre Verbündeten (nach einen: Worte Friedrichs des
Großen) wie die Fregatte die Schaluppe nach sich zieht. Bei seiner „Option"
von Gegengewichten gegen das revancheinstige Frankreich entschied er daher für
den Bund mit weniger mächtigen Staaten des Kontinents, mit denen seine
Politik nach seiner eigenen Erklärung „immer mehr" zu rechnen hatte als mit
England, von dessen Freundschaft er sich selten mehr Gewinn versprochen haben
mag als „platonisches Wohlwollen" und „theoretische Sympathie". Daher zog
er auch den Rückhalt an Rußland, Deutschlands traditionellen! Bundesgenossen
und Englands geborenen Gegner, einen: unsicheren und „unberechenbaren"
Verhältnis mit England vor, das bei seiner unvergleichlich günstigen und über¬
legenen Lage dem deutschen Kontrahenten ohne Schaden wieder den Laufpaß
geben und dadurch eine Koalitionsmisere bereiten konnte, wie sie Deutschland
in unserer Zeit erlebt hat mit der unglücklichen Aufgabe der russischen „Rück¬
versicherung" — die bekanntlich die russische Neutralität bei einem französischen
Überfall Deutschlands gegen die deutsche Neutralität bei einem österreichischen
Angriff auf Rußland garantierte. Da dem Kanzler jede Verbindung mit dem
mächtigeren England, das nach seiner Voraussicht allein davon Vorteil haben
würde, zu riskiert war, so wird sich auch die Verständigung, die er 1884 wegen
der Kolonien suchte und nicht fand, soweit wir heute sehen können, in denselben
Bahnen bewegt haben, wie die darauffolgende Entente mit dem Frankreich
Jules Ferrys, die auch nur für den Augenblick gedacht sein konnte. Und so
wird auch die 1872 vergeblich erstrebte Verbindung mit England, die als erster
Damm gegen Frankreich geplant war, ebensowenig in der Absicht eines dauernden
Systems gelegen haben, zumal Bismarck nebenbei an: Dreikaiserverhältnis fest¬
halten wollte. Denn er hat nie glauben können, daß eine Politik, die sich fest
auf den Grundstock der kontinentalen Mächte stützt, auch den Interessen der
größten Seemacht längere Zeit genügen kann, ohne ihre eigene Lebensfähigkeit


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[0508] Bismarck und England Denn er hielt, wie wir wissen, zu seiner Zeit eine solche Seemacht nicht für notwendig, weil die britische „Gefahr" nicht für gegeben. Ja, er ging im anderen Extrem so weit, offiziell einen aufrichtigen und freundschaftlichen Verkehr beider Völker für das — Natürlichste zu halten, da keins von beiden vitale Interessen habe, die einander widersprächen, und da England ein mindestens hundertfünfzig Jahre alter historischer „Bundesgenosse" Deutschlands bezw. Preußens sei, wenn auch nicht immer im diplomatischen, so doch im tatsäch¬ lichen Sinne. Sein Wunsch nach freundschaftlichem Verkehr und guten: Einvernehmen war aber weit entfernt von romantischer Sehnsucht nach einem Bund mit England. Denn sein System wollte saturiert und kontinental bleiben, und wenn auch „nicht notwendig antienglisch", so doch nicht abhängig sein von einer Politik, die, den: Wechsel der öffentlichen Meinung in den Parlamenten und deren Kabinetten unterworfen, ihre Verbündeten (nach einen: Worte Friedrichs des Großen) wie die Fregatte die Schaluppe nach sich zieht. Bei seiner „Option" von Gegengewichten gegen das revancheinstige Frankreich entschied er daher für den Bund mit weniger mächtigen Staaten des Kontinents, mit denen seine Politik nach seiner eigenen Erklärung „immer mehr" zu rechnen hatte als mit England, von dessen Freundschaft er sich selten mehr Gewinn versprochen haben mag als „platonisches Wohlwollen" und „theoretische Sympathie". Daher zog er auch den Rückhalt an Rußland, Deutschlands traditionellen! Bundesgenossen und Englands geborenen Gegner, einen: unsicheren und „unberechenbaren" Verhältnis mit England vor, das bei seiner unvergleichlich günstigen und über¬ legenen Lage dem deutschen Kontrahenten ohne Schaden wieder den Laufpaß geben und dadurch eine Koalitionsmisere bereiten konnte, wie sie Deutschland in unserer Zeit erlebt hat mit der unglücklichen Aufgabe der russischen „Rück¬ versicherung" — die bekanntlich die russische Neutralität bei einem französischen Überfall Deutschlands gegen die deutsche Neutralität bei einem österreichischen Angriff auf Rußland garantierte. Da dem Kanzler jede Verbindung mit dem mächtigeren England, das nach seiner Voraussicht allein davon Vorteil haben würde, zu riskiert war, so wird sich auch die Verständigung, die er 1884 wegen der Kolonien suchte und nicht fand, soweit wir heute sehen können, in denselben Bahnen bewegt haben, wie die darauffolgende Entente mit dem Frankreich Jules Ferrys, die auch nur für den Augenblick gedacht sein konnte. Und so wird auch die 1872 vergeblich erstrebte Verbindung mit England, die als erster Damm gegen Frankreich geplant war, ebensowenig in der Absicht eines dauernden Systems gelegen haben, zumal Bismarck nebenbei an: Dreikaiserverhältnis fest¬ halten wollte. Denn er hat nie glauben können, daß eine Politik, die sich fest auf den Grundstock der kontinentalen Mächte stützt, auch den Interessen der größten Seemacht längere Zeit genügen kann, ohne ihre eigene Lebensfähigkeit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/508>, abgerufen am 01.07.2024.