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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Bismarck und England

enger als unsere Zeit, nämlich nicht nationalökonomisch im Gegensatz zu einer
rein heimatpolitisch gerichteten Staats- und Wirtschaftsleitung, sondern nur
diplomatisch im Gegensatz zur europäischen als Übersee- und Kolonialschutz¬
politik, die zu Bismarcks Zeiten ja bezeichnenderweise auch noch dem auswärtigen
Ressort unterstellt blieb . . .

Niemand wird leugnen, daß Bismarck auch in unseren Tagen die Forderungen
der neuen Zeit erkennen und erfüllen würde, aber eben als ein Bismarck uuserer
Zeit, den man sich nicht recht vorstellen kann und darum lieber auch nicht vor¬
stellen soll. In seinem eigenen Zeitalter, das mit seinem Sturz zur Rüste ging,
wurde er ihnen, als sie schüchtern und dumpf an die Pforten des Reiches klopften,
nur langsam, meist widerstrebend, oft bekanntlich auch nicht gerecht. Selbst¬
verständlich und bekannt ist, daß er festhielt, was er einmal wirklich in die
Hand genommen; das ist auf dem Gebiete der inneren Politik das ungemeine
Verdienst seiner Sozialpolitik, auf auswärtigem Felde das nicht weniger große
seiner Kolonialpolitik, wenn man deren tatsächliche Leistung und nicht die Frage
nach ihrem Ursprung als Kriterium für das Urteil anerkennt. Mit ihr schuf
er dem Reiche eine neue Grundlage, die es brauchte, wenn es als Großmacht
in den wirtschaftlichen Kämpfen des zwanzigsten Jahrhunderts nicht unterliegen
sollte. Freilich übersah er die Tragweite dieses Schrittes kaum in dem Umfange,
in dem Reventlow meint, sondern erfüllte, wenn irgendwo, hier besonders seine
Devise: "^ert unäa use rexitur". Hier vor allem gilt daher das Lamprechtsche
Wort: "Nicht die weite Zukunft meisterte der Fürst so sehr in einer Art
phantasietrunkener Überschau: dein Momente diente er in immer und immer
wieder neu geschaffenen, künstlerisch vollendetem Überblick der europäischen und
der universalen Konstellation des Augenblicks". Sein langjähriges Widerstreben
gegen koloniale Expansion, an dem festzuhalten ist, zumal nach dem Urteile
Eingeweihter auch die Archive nichts Gegenteiliges beweisen sollen, sein zögerndes
Vorgehen nach Überwindung seiner Bedenken, endlich seine kolonialen Programm¬
reden im Reichstag zeigen hinlänglich seine kontinentale, dem "Imperialismus"
abgewandte Denkweise. Wahrscheinlich spielt seine sreihändlerische Vergangenheit
bei seiner Abneigung gegen Kolonialpolitik, die Bismarck selbst des öfteren
betonte, noch eine große Rolle. Jedenfalls läßt sich für Reventlows Behauptung,
Bismarck habe den Anstoß zu ihr gegeben, der vielmehr von kaufmännischer
Seite und von der überseeischen Abteilung des Auswärtigen Amtes unter
Heinrich von Kusserow kam, oder er habe gar die koloniale Begeisterung "recht
eigentlich" hervorgerufen -- die in Wirklichkeit aus Jahren datiert, in denen
er noch jede Kolonialpolitik von sich wies --, den Beweis nicht erbringen;
Reventlow versucht ihn auch gar uicht. Zwar beseitigt er die Widerlegung, die
Bismarck selbst gab, indem er betonte, er sei "kein Kolonialmensch" und durch
die öffentliche Meinung in diese Richtung hineingetrieben worden -- eine Aus¬
sage, die natürlich niemand wörtlich nehmen wird! --, durch den Schluß,
Bismarck habe dadurch nur den Reichstag zur Bewilligung der nötigen Forderungen


Bismarck und England

enger als unsere Zeit, nämlich nicht nationalökonomisch im Gegensatz zu einer
rein heimatpolitisch gerichteten Staats- und Wirtschaftsleitung, sondern nur
diplomatisch im Gegensatz zur europäischen als Übersee- und Kolonialschutz¬
politik, die zu Bismarcks Zeiten ja bezeichnenderweise auch noch dem auswärtigen
Ressort unterstellt blieb . . .

Niemand wird leugnen, daß Bismarck auch in unseren Tagen die Forderungen
der neuen Zeit erkennen und erfüllen würde, aber eben als ein Bismarck uuserer
Zeit, den man sich nicht recht vorstellen kann und darum lieber auch nicht vor¬
stellen soll. In seinem eigenen Zeitalter, das mit seinem Sturz zur Rüste ging,
wurde er ihnen, als sie schüchtern und dumpf an die Pforten des Reiches klopften,
nur langsam, meist widerstrebend, oft bekanntlich auch nicht gerecht. Selbst¬
verständlich und bekannt ist, daß er festhielt, was er einmal wirklich in die
Hand genommen; das ist auf dem Gebiete der inneren Politik das ungemeine
Verdienst seiner Sozialpolitik, auf auswärtigem Felde das nicht weniger große
seiner Kolonialpolitik, wenn man deren tatsächliche Leistung und nicht die Frage
nach ihrem Ursprung als Kriterium für das Urteil anerkennt. Mit ihr schuf
er dem Reiche eine neue Grundlage, die es brauchte, wenn es als Großmacht
in den wirtschaftlichen Kämpfen des zwanzigsten Jahrhunderts nicht unterliegen
sollte. Freilich übersah er die Tragweite dieses Schrittes kaum in dem Umfange,
in dem Reventlow meint, sondern erfüllte, wenn irgendwo, hier besonders seine
Devise: „^ert unäa use rexitur". Hier vor allem gilt daher das Lamprechtsche
Wort: „Nicht die weite Zukunft meisterte der Fürst so sehr in einer Art
phantasietrunkener Überschau: dein Momente diente er in immer und immer
wieder neu geschaffenen, künstlerisch vollendetem Überblick der europäischen und
der universalen Konstellation des Augenblicks". Sein langjähriges Widerstreben
gegen koloniale Expansion, an dem festzuhalten ist, zumal nach dem Urteile
Eingeweihter auch die Archive nichts Gegenteiliges beweisen sollen, sein zögerndes
Vorgehen nach Überwindung seiner Bedenken, endlich seine kolonialen Programm¬
reden im Reichstag zeigen hinlänglich seine kontinentale, dem „Imperialismus"
abgewandte Denkweise. Wahrscheinlich spielt seine sreihändlerische Vergangenheit
bei seiner Abneigung gegen Kolonialpolitik, die Bismarck selbst des öfteren
betonte, noch eine große Rolle. Jedenfalls läßt sich für Reventlows Behauptung,
Bismarck habe den Anstoß zu ihr gegeben, der vielmehr von kaufmännischer
Seite und von der überseeischen Abteilung des Auswärtigen Amtes unter
Heinrich von Kusserow kam, oder er habe gar die koloniale Begeisterung „recht
eigentlich" hervorgerufen — die in Wirklichkeit aus Jahren datiert, in denen
er noch jede Kolonialpolitik von sich wies —, den Beweis nicht erbringen;
Reventlow versucht ihn auch gar uicht. Zwar beseitigt er die Widerlegung, die
Bismarck selbst gab, indem er betonte, er sei „kein Kolonialmensch" und durch
die öffentliche Meinung in diese Richtung hineingetrieben worden — eine Aus¬
sage, die natürlich niemand wörtlich nehmen wird! —, durch den Schluß,
Bismarck habe dadurch nur den Reichstag zur Bewilligung der nötigen Forderungen


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[0503] Bismarck und England enger als unsere Zeit, nämlich nicht nationalökonomisch im Gegensatz zu einer rein heimatpolitisch gerichteten Staats- und Wirtschaftsleitung, sondern nur diplomatisch im Gegensatz zur europäischen als Übersee- und Kolonialschutz¬ politik, die zu Bismarcks Zeiten ja bezeichnenderweise auch noch dem auswärtigen Ressort unterstellt blieb . . . Niemand wird leugnen, daß Bismarck auch in unseren Tagen die Forderungen der neuen Zeit erkennen und erfüllen würde, aber eben als ein Bismarck uuserer Zeit, den man sich nicht recht vorstellen kann und darum lieber auch nicht vor¬ stellen soll. In seinem eigenen Zeitalter, das mit seinem Sturz zur Rüste ging, wurde er ihnen, als sie schüchtern und dumpf an die Pforten des Reiches klopften, nur langsam, meist widerstrebend, oft bekanntlich auch nicht gerecht. Selbst¬ verständlich und bekannt ist, daß er festhielt, was er einmal wirklich in die Hand genommen; das ist auf dem Gebiete der inneren Politik das ungemeine Verdienst seiner Sozialpolitik, auf auswärtigem Felde das nicht weniger große seiner Kolonialpolitik, wenn man deren tatsächliche Leistung und nicht die Frage nach ihrem Ursprung als Kriterium für das Urteil anerkennt. Mit ihr schuf er dem Reiche eine neue Grundlage, die es brauchte, wenn es als Großmacht in den wirtschaftlichen Kämpfen des zwanzigsten Jahrhunderts nicht unterliegen sollte. Freilich übersah er die Tragweite dieses Schrittes kaum in dem Umfange, in dem Reventlow meint, sondern erfüllte, wenn irgendwo, hier besonders seine Devise: „^ert unäa use rexitur". Hier vor allem gilt daher das Lamprechtsche Wort: „Nicht die weite Zukunft meisterte der Fürst so sehr in einer Art phantasietrunkener Überschau: dein Momente diente er in immer und immer wieder neu geschaffenen, künstlerisch vollendetem Überblick der europäischen und der universalen Konstellation des Augenblicks". Sein langjähriges Widerstreben gegen koloniale Expansion, an dem festzuhalten ist, zumal nach dem Urteile Eingeweihter auch die Archive nichts Gegenteiliges beweisen sollen, sein zögerndes Vorgehen nach Überwindung seiner Bedenken, endlich seine kolonialen Programm¬ reden im Reichstag zeigen hinlänglich seine kontinentale, dem „Imperialismus" abgewandte Denkweise. Wahrscheinlich spielt seine sreihändlerische Vergangenheit bei seiner Abneigung gegen Kolonialpolitik, die Bismarck selbst des öfteren betonte, noch eine große Rolle. Jedenfalls läßt sich für Reventlows Behauptung, Bismarck habe den Anstoß zu ihr gegeben, der vielmehr von kaufmännischer Seite und von der überseeischen Abteilung des Auswärtigen Amtes unter Heinrich von Kusserow kam, oder er habe gar die koloniale Begeisterung „recht eigentlich" hervorgerufen — die in Wirklichkeit aus Jahren datiert, in denen er noch jede Kolonialpolitik von sich wies —, den Beweis nicht erbringen; Reventlow versucht ihn auch gar uicht. Zwar beseitigt er die Widerlegung, die Bismarck selbst gab, indem er betonte, er sei „kein Kolonialmensch" und durch die öffentliche Meinung in diese Richtung hineingetrieben worden — eine Aus¬ sage, die natürlich niemand wörtlich nehmen wird! —, durch den Schluß, Bismarck habe dadurch nur den Reichstag zur Bewilligung der nötigen Forderungen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/503>, abgerufen am 01.07.2024.