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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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plato für die Gegenwart

selbst korrigiert, aber eine Aufgabe, wie diese, trügt eine schwere Verantwortung
für Kunst und Leben in sich.

Wie weit die bei Diederichs erschienene Auswahl den Anforderungen genügt,
soll hier besprochen werden. Die äußere Form ist dem Ziele angemessen. In
der Ausschaltung des wissenschaftlichen Wesens ist man wohl darin etwas weit
gegangen, daß man auch die Kapitelzahl nicht angab; es liegt kein Grund vor,
den Lesern, die dazu fähig sind, die Vergleichung mit dem Urtext zu erschweren.
Das Entscheidende ist natürlich die Persönlichkeit des Übersetzers und man kann
sagen, daß die Wahl, die auf Kaßuer fiel, eine glückliche war; denn in ihm
verband sich die Absicht, das komplizierte Bild zu vereinfachen, mit dem starken
Triebe, die auftischen Tiefen auszuschöpfen. Zweifellos sind in Schleiermachers
Übersetzungen die feinsten Gedankengeflechte genauer und mit höherem philo¬
sophischem Verstände wiedergegeben, aber die philosophische Lehre erschöpft den
Inhalt der Dialoge nicht. Man überdenke einmal das Kunstwerk des Phaidros,
um es in einheitlichen: Bilde vor sich zu sehen. Dann nimmt man voll
Bewunderung wahr, mit wie vielen künstlerischen Mitteln Plato wirkt und daß
noch ganz andere Dinge erfaßt werden müssen als logische Gedankenketten.

Phaidros wandelt z. B. gegen Mittag vor den Mauern Athens, die kürzlich
gehörte Rede des berühmten Lysias memorierend. Da kommt Sokrates. Dem
sehr jugendlichen Phaidros fehlt noch jedes Augenmaß für menschliche Größe;
er will also dem Sokrates-Plato des Lysias Rede aufsagen, indem er sich stellt,
als ob er sie nur vom Hören im Gedächtnis behalten habe. Aber Sokrates
durchschaut seiue geheimsten Regungen und er zwingt ihn mit entzückenden: Spott,
das Manuskript hervorzuziehen, das er unter dem Mantel verborgen hält. Es
ist sehr heiß geworden und sie lagern sich in: Schatten einer sehr hohen Platane,
die Füße in dem heiteren und durchsichtigen Bach; ein Ort, wie die Mädchen
ihn suchen, wenn sie am Ufer spielen wollen. Da werden die Fabelwesen um
sie herum lebendig; Sokrates tut mit leichter Handbewegung die Aufklärer ab,
die mit unzierlicher Weisheit die Zeit vergeuden. Er parodiert die Rede des
Lysias, die Phaidros verlesen hat. Aber der merkt nichts, er ist noch in den
dünnen Gedankenketten des Lysias gefangen. Er versteht noch nicht den Gesang der
Zitaten, die in der Mittagsschwüle singen; der Zitaten, die früher Menschen waren,
und als sie den Gesang der Musen gehört hatten, immer nur sangen und Speise
und Trank vergaßen; darum verwandelten sie die Götter. Phaidros verteidigt
vielmehr uoch die gemeine Nützlichkeitslehre des Lysias. Sokrates muß ihm
erst Herz und Sinn öffnen. Ihn ergreift die Lust des Pan und der Nymphen,
an Eros und Aphrodite richtet er Gebete, er preist den heiligen Wahnsinn und
offenbart die heilige Schau der Seelenwanderung und der ewigen Schönheit.
So reinigt er das Herz des Schülers, dann pflanzt er seine eigene Lehre darein.
Er verwirft die Literatur und gibt ein Bild der lebendigen Wirksamkeit des
währen Philosophen ... Die Mittagsluft hat sich schon abgekühlt und ehe sich
Meister und Schüler zum Gehen wenden, betet Sokrates: "Geliebter Pan und


plato für die Gegenwart

selbst korrigiert, aber eine Aufgabe, wie diese, trügt eine schwere Verantwortung
für Kunst und Leben in sich.

Wie weit die bei Diederichs erschienene Auswahl den Anforderungen genügt,
soll hier besprochen werden. Die äußere Form ist dem Ziele angemessen. In
der Ausschaltung des wissenschaftlichen Wesens ist man wohl darin etwas weit
gegangen, daß man auch die Kapitelzahl nicht angab; es liegt kein Grund vor,
den Lesern, die dazu fähig sind, die Vergleichung mit dem Urtext zu erschweren.
Das Entscheidende ist natürlich die Persönlichkeit des Übersetzers und man kann
sagen, daß die Wahl, die auf Kaßuer fiel, eine glückliche war; denn in ihm
verband sich die Absicht, das komplizierte Bild zu vereinfachen, mit dem starken
Triebe, die auftischen Tiefen auszuschöpfen. Zweifellos sind in Schleiermachers
Übersetzungen die feinsten Gedankengeflechte genauer und mit höherem philo¬
sophischem Verstände wiedergegeben, aber die philosophische Lehre erschöpft den
Inhalt der Dialoge nicht. Man überdenke einmal das Kunstwerk des Phaidros,
um es in einheitlichen: Bilde vor sich zu sehen. Dann nimmt man voll
Bewunderung wahr, mit wie vielen künstlerischen Mitteln Plato wirkt und daß
noch ganz andere Dinge erfaßt werden müssen als logische Gedankenketten.

Phaidros wandelt z. B. gegen Mittag vor den Mauern Athens, die kürzlich
gehörte Rede des berühmten Lysias memorierend. Da kommt Sokrates. Dem
sehr jugendlichen Phaidros fehlt noch jedes Augenmaß für menschliche Größe;
er will also dem Sokrates-Plato des Lysias Rede aufsagen, indem er sich stellt,
als ob er sie nur vom Hören im Gedächtnis behalten habe. Aber Sokrates
durchschaut seiue geheimsten Regungen und er zwingt ihn mit entzückenden: Spott,
das Manuskript hervorzuziehen, das er unter dem Mantel verborgen hält. Es
ist sehr heiß geworden und sie lagern sich in: Schatten einer sehr hohen Platane,
die Füße in dem heiteren und durchsichtigen Bach; ein Ort, wie die Mädchen
ihn suchen, wenn sie am Ufer spielen wollen. Da werden die Fabelwesen um
sie herum lebendig; Sokrates tut mit leichter Handbewegung die Aufklärer ab,
die mit unzierlicher Weisheit die Zeit vergeuden. Er parodiert die Rede des
Lysias, die Phaidros verlesen hat. Aber der merkt nichts, er ist noch in den
dünnen Gedankenketten des Lysias gefangen. Er versteht noch nicht den Gesang der
Zitaten, die in der Mittagsschwüle singen; der Zitaten, die früher Menschen waren,
und als sie den Gesang der Musen gehört hatten, immer nur sangen und Speise
und Trank vergaßen; darum verwandelten sie die Götter. Phaidros verteidigt
vielmehr uoch die gemeine Nützlichkeitslehre des Lysias. Sokrates muß ihm
erst Herz und Sinn öffnen. Ihn ergreift die Lust des Pan und der Nymphen,
an Eros und Aphrodite richtet er Gebete, er preist den heiligen Wahnsinn und
offenbart die heilige Schau der Seelenwanderung und der ewigen Schönheit.
So reinigt er das Herz des Schülers, dann pflanzt er seine eigene Lehre darein.
Er verwirft die Literatur und gibt ein Bild der lebendigen Wirksamkeit des
währen Philosophen ... Die Mittagsluft hat sich schon abgekühlt und ehe sich
Meister und Schüler zum Gehen wenden, betet Sokrates: „Geliebter Pan und


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[0464] plato für die Gegenwart selbst korrigiert, aber eine Aufgabe, wie diese, trügt eine schwere Verantwortung für Kunst und Leben in sich. Wie weit die bei Diederichs erschienene Auswahl den Anforderungen genügt, soll hier besprochen werden. Die äußere Form ist dem Ziele angemessen. In der Ausschaltung des wissenschaftlichen Wesens ist man wohl darin etwas weit gegangen, daß man auch die Kapitelzahl nicht angab; es liegt kein Grund vor, den Lesern, die dazu fähig sind, die Vergleichung mit dem Urtext zu erschweren. Das Entscheidende ist natürlich die Persönlichkeit des Übersetzers und man kann sagen, daß die Wahl, die auf Kaßuer fiel, eine glückliche war; denn in ihm verband sich die Absicht, das komplizierte Bild zu vereinfachen, mit dem starken Triebe, die auftischen Tiefen auszuschöpfen. Zweifellos sind in Schleiermachers Übersetzungen die feinsten Gedankengeflechte genauer und mit höherem philo¬ sophischem Verstände wiedergegeben, aber die philosophische Lehre erschöpft den Inhalt der Dialoge nicht. Man überdenke einmal das Kunstwerk des Phaidros, um es in einheitlichen: Bilde vor sich zu sehen. Dann nimmt man voll Bewunderung wahr, mit wie vielen künstlerischen Mitteln Plato wirkt und daß noch ganz andere Dinge erfaßt werden müssen als logische Gedankenketten. Phaidros wandelt z. B. gegen Mittag vor den Mauern Athens, die kürzlich gehörte Rede des berühmten Lysias memorierend. Da kommt Sokrates. Dem sehr jugendlichen Phaidros fehlt noch jedes Augenmaß für menschliche Größe; er will also dem Sokrates-Plato des Lysias Rede aufsagen, indem er sich stellt, als ob er sie nur vom Hören im Gedächtnis behalten habe. Aber Sokrates durchschaut seiue geheimsten Regungen und er zwingt ihn mit entzückenden: Spott, das Manuskript hervorzuziehen, das er unter dem Mantel verborgen hält. Es ist sehr heiß geworden und sie lagern sich in: Schatten einer sehr hohen Platane, die Füße in dem heiteren und durchsichtigen Bach; ein Ort, wie die Mädchen ihn suchen, wenn sie am Ufer spielen wollen. Da werden die Fabelwesen um sie herum lebendig; Sokrates tut mit leichter Handbewegung die Aufklärer ab, die mit unzierlicher Weisheit die Zeit vergeuden. Er parodiert die Rede des Lysias, die Phaidros verlesen hat. Aber der merkt nichts, er ist noch in den dünnen Gedankenketten des Lysias gefangen. Er versteht noch nicht den Gesang der Zitaten, die in der Mittagsschwüle singen; der Zitaten, die früher Menschen waren, und als sie den Gesang der Musen gehört hatten, immer nur sangen und Speise und Trank vergaßen; darum verwandelten sie die Götter. Phaidros verteidigt vielmehr uoch die gemeine Nützlichkeitslehre des Lysias. Sokrates muß ihm erst Herz und Sinn öffnen. Ihn ergreift die Lust des Pan und der Nymphen, an Eros und Aphrodite richtet er Gebete, er preist den heiligen Wahnsinn und offenbart die heilige Schau der Seelenwanderung und der ewigen Schönheit. So reinigt er das Herz des Schülers, dann pflanzt er seine eigene Lehre darein. Er verwirft die Literatur und gibt ein Bild der lebendigen Wirksamkeit des währen Philosophen ... Die Mittagsluft hat sich schon abgekühlt und ehe sich Meister und Schüler zum Gehen wenden, betet Sokrates: „Geliebter Pan und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/464>, abgerufen am 29.06.2024.