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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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plato für die Gegenwart

hat in selbstloser Arbeit aus den Ergebnissen der heutigen Wissenschaft über
Plato das zusammengefaßt, was für den Laien wichtig ist. Den ersten Teil
bildet die Biographie. Bei der relativ dürftigen Überlieferung ist es ja
unmöglich, eine klare und vollständige Lebensdarstellimg zu geben, deswegen
verfuhr Ritter durchaus zweckmäßig, als er nicht einfach darstellte, sondern auch
die verschiedenen Möglichkeiten erwog und die Glaubwürdigkeit der Berichte
kritisierte. Auch aus den wichtigen Dokumenten der Platonischen Briefe über¬
nahm er einen Teil als echt. Der zweite Teil besteht in kritischen Voruntersuchungen,
besonders über die chronologische Reihenfolge der Werke. Ritter, der selbst an
der Sprachkritik entscheidend mitgearbeitet, berichtet hier vergleichend über deren
Erfolge. Von besonderem Interesse ist, daß er den Phaidros auf Grund der
Sprachkritik nach dem Symposion ansetzt; inhaltlich liegen hier doch so große
Bedenken vor, daß andere Sprachkritiker sich gegen diese Konsequenz sträubten.
Der dritte Teil beginnt die ausführliche Inhaltsangabe der Werke, denen
erläuternde Bemerkungen und ein Kapitel über Ethik und Jdeenlehre ein¬
gefügt sind. Die einfache und klare Darstellung und die überall durchdringende
Verehrung der großen Meister sind durchaus sympathisch. Das Werk ist für alle,
die in das Studium der Platonischen Schriften eingeführt werden wollen, das
gewiesene Hilfsmittel. Auch für den, der ohne eigenes Studium eine Übersicht
über die Platonische Gedankenwelt erwerben will, sind die objektiven Inhalts¬
angaben genügend. Den Anspruch, die Tiefen der Persönlichkeit und der
Philosophie zu erschöpfen, wird der Verfasser wohl nicht erhebe"; nach dieser
Richtung sind die vorher genannten Werke noch nicht überflüssig geworden.
Ritters Werk bedeutet eine nutzbare Arbeit und eine Vorstufe; das Ziel liegt
immer noch in der Ferne.

Heute gibt es einen Kreis von Gebildeten, der fähig ist, die platonische
Welt sich einzugliedern, uicht aus archäologischein oder schulmäßig philosophischem
Interesse, sondern im unmittelbaren Triebe eigenen geistigen Wachstums. Es
wäre also, um dies Wachstum anzuregen und zu fördern, eine Auswahl neuer
Plato-Übersetzungen sehr erwünscht. Denn das ist die eine Forderung: Der
größte Heitere muß selbst zum Lesenden reden; der wird dann bald empfinden,
daß dieser Plato ein anderer ist als der, welcher so gemeinhin in? Bewußtsein
der Gebildeten lebt. Die andere Forderung ist die, daß sein Werk in eine
Form gebracht wird, die auch dem Umgekehrten als einheitliche, wirkende und
lebendige Erscheinung faßlich ist. In diesem Punkte ist das Mißverständnis
am bedrohlichsten! Eine lebendige und wirkende Erscheinung, das heißt, wir
dürfen ihn nicht dem Wüste heutiger Banalitäteu angleichen; wir dürfen seine
Härten nicht mildern, seine Leidenschaften nicht moralistisch umdeuten, den
Wein seiner Lust nicht verwässern. Es steht uns nicht an, ihn nach unserem
Maße zu messen oder gar entschuldigen zu wollen. Wir müssen seinem Dämon
nachspüren, um der Dinge willen, die uns noch fehlen, nicht um deretwillen,
die wir schon erwarben. Irrtümer der Wissenschaft werden von der Wissenschaft


plato für die Gegenwart

hat in selbstloser Arbeit aus den Ergebnissen der heutigen Wissenschaft über
Plato das zusammengefaßt, was für den Laien wichtig ist. Den ersten Teil
bildet die Biographie. Bei der relativ dürftigen Überlieferung ist es ja
unmöglich, eine klare und vollständige Lebensdarstellimg zu geben, deswegen
verfuhr Ritter durchaus zweckmäßig, als er nicht einfach darstellte, sondern auch
die verschiedenen Möglichkeiten erwog und die Glaubwürdigkeit der Berichte
kritisierte. Auch aus den wichtigen Dokumenten der Platonischen Briefe über¬
nahm er einen Teil als echt. Der zweite Teil besteht in kritischen Voruntersuchungen,
besonders über die chronologische Reihenfolge der Werke. Ritter, der selbst an
der Sprachkritik entscheidend mitgearbeitet, berichtet hier vergleichend über deren
Erfolge. Von besonderem Interesse ist, daß er den Phaidros auf Grund der
Sprachkritik nach dem Symposion ansetzt; inhaltlich liegen hier doch so große
Bedenken vor, daß andere Sprachkritiker sich gegen diese Konsequenz sträubten.
Der dritte Teil beginnt die ausführliche Inhaltsangabe der Werke, denen
erläuternde Bemerkungen und ein Kapitel über Ethik und Jdeenlehre ein¬
gefügt sind. Die einfache und klare Darstellung und die überall durchdringende
Verehrung der großen Meister sind durchaus sympathisch. Das Werk ist für alle,
die in das Studium der Platonischen Schriften eingeführt werden wollen, das
gewiesene Hilfsmittel. Auch für den, der ohne eigenes Studium eine Übersicht
über die Platonische Gedankenwelt erwerben will, sind die objektiven Inhalts¬
angaben genügend. Den Anspruch, die Tiefen der Persönlichkeit und der
Philosophie zu erschöpfen, wird der Verfasser wohl nicht erhebe»; nach dieser
Richtung sind die vorher genannten Werke noch nicht überflüssig geworden.
Ritters Werk bedeutet eine nutzbare Arbeit und eine Vorstufe; das Ziel liegt
immer noch in der Ferne.

Heute gibt es einen Kreis von Gebildeten, der fähig ist, die platonische
Welt sich einzugliedern, uicht aus archäologischein oder schulmäßig philosophischem
Interesse, sondern im unmittelbaren Triebe eigenen geistigen Wachstums. Es
wäre also, um dies Wachstum anzuregen und zu fördern, eine Auswahl neuer
Plato-Übersetzungen sehr erwünscht. Denn das ist die eine Forderung: Der
größte Heitere muß selbst zum Lesenden reden; der wird dann bald empfinden,
daß dieser Plato ein anderer ist als der, welcher so gemeinhin in? Bewußtsein
der Gebildeten lebt. Die andere Forderung ist die, daß sein Werk in eine
Form gebracht wird, die auch dem Umgekehrten als einheitliche, wirkende und
lebendige Erscheinung faßlich ist. In diesem Punkte ist das Mißverständnis
am bedrohlichsten! Eine lebendige und wirkende Erscheinung, das heißt, wir
dürfen ihn nicht dem Wüste heutiger Banalitäteu angleichen; wir dürfen seine
Härten nicht mildern, seine Leidenschaften nicht moralistisch umdeuten, den
Wein seiner Lust nicht verwässern. Es steht uns nicht an, ihn nach unserem
Maße zu messen oder gar entschuldigen zu wollen. Wir müssen seinem Dämon
nachspüren, um der Dinge willen, die uns noch fehlen, nicht um deretwillen,
die wir schon erwarben. Irrtümer der Wissenschaft werden von der Wissenschaft


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[0463] plato für die Gegenwart hat in selbstloser Arbeit aus den Ergebnissen der heutigen Wissenschaft über Plato das zusammengefaßt, was für den Laien wichtig ist. Den ersten Teil bildet die Biographie. Bei der relativ dürftigen Überlieferung ist es ja unmöglich, eine klare und vollständige Lebensdarstellimg zu geben, deswegen verfuhr Ritter durchaus zweckmäßig, als er nicht einfach darstellte, sondern auch die verschiedenen Möglichkeiten erwog und die Glaubwürdigkeit der Berichte kritisierte. Auch aus den wichtigen Dokumenten der Platonischen Briefe über¬ nahm er einen Teil als echt. Der zweite Teil besteht in kritischen Voruntersuchungen, besonders über die chronologische Reihenfolge der Werke. Ritter, der selbst an der Sprachkritik entscheidend mitgearbeitet, berichtet hier vergleichend über deren Erfolge. Von besonderem Interesse ist, daß er den Phaidros auf Grund der Sprachkritik nach dem Symposion ansetzt; inhaltlich liegen hier doch so große Bedenken vor, daß andere Sprachkritiker sich gegen diese Konsequenz sträubten. Der dritte Teil beginnt die ausführliche Inhaltsangabe der Werke, denen erläuternde Bemerkungen und ein Kapitel über Ethik und Jdeenlehre ein¬ gefügt sind. Die einfache und klare Darstellung und die überall durchdringende Verehrung der großen Meister sind durchaus sympathisch. Das Werk ist für alle, die in das Studium der Platonischen Schriften eingeführt werden wollen, das gewiesene Hilfsmittel. Auch für den, der ohne eigenes Studium eine Übersicht über die Platonische Gedankenwelt erwerben will, sind die objektiven Inhalts¬ angaben genügend. Den Anspruch, die Tiefen der Persönlichkeit und der Philosophie zu erschöpfen, wird der Verfasser wohl nicht erhebe»; nach dieser Richtung sind die vorher genannten Werke noch nicht überflüssig geworden. Ritters Werk bedeutet eine nutzbare Arbeit und eine Vorstufe; das Ziel liegt immer noch in der Ferne. Heute gibt es einen Kreis von Gebildeten, der fähig ist, die platonische Welt sich einzugliedern, uicht aus archäologischein oder schulmäßig philosophischem Interesse, sondern im unmittelbaren Triebe eigenen geistigen Wachstums. Es wäre also, um dies Wachstum anzuregen und zu fördern, eine Auswahl neuer Plato-Übersetzungen sehr erwünscht. Denn das ist die eine Forderung: Der größte Heitere muß selbst zum Lesenden reden; der wird dann bald empfinden, daß dieser Plato ein anderer ist als der, welcher so gemeinhin in? Bewußtsein der Gebildeten lebt. Die andere Forderung ist die, daß sein Werk in eine Form gebracht wird, die auch dem Umgekehrten als einheitliche, wirkende und lebendige Erscheinung faßlich ist. In diesem Punkte ist das Mißverständnis am bedrohlichsten! Eine lebendige und wirkende Erscheinung, das heißt, wir dürfen ihn nicht dem Wüste heutiger Banalitäteu angleichen; wir dürfen seine Härten nicht mildern, seine Leidenschaften nicht moralistisch umdeuten, den Wein seiner Lust nicht verwässern. Es steht uns nicht an, ihn nach unserem Maße zu messen oder gar entschuldigen zu wollen. Wir müssen seinem Dämon nachspüren, um der Dinge willen, die uns noch fehlen, nicht um deretwillen, die wir schon erwarben. Irrtümer der Wissenschaft werden von der Wissenschaft

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/463>, abgerufen am 29.06.2024.