Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Plato für die Gegenwart

hellenische Kulturentwicklung ist durch ihren viel größeren Abstand von uns so
viel leichter in ein einheitliches Bild zu fassen als die komplizierte und aus¬
gedehnte folgende Entwicklung Europas, daß man es immer wieder wie eine
Notwendigkeit empfindet, zu dem einfachen Paradigma der hellenischen Antike
zurückzukehren. Nur ein Genius kann hier in Betracht kommen, der in dem
Knotenpunkt hellenischer Bildung, welcher der Goethescher Zeit bei uns entspricht,
die so widerstrebenden Kräfte seiner Zeit wie Goethe in sich zusammenfaßt und nach
allen Seiten wieder ausstrahlt. Dieser Riese im Aufnehmen wie im Beleben ist Plato.

Es darf gesagt werde", daß das Bild Platos, wie es heute in weiteren
Kreisen lebt, so verflaut und entstellt wie nur denkbar ist. Er gilt als der
weltfremde Träumer, dessen Träume ganz schön, aber nicht zu großer Wirkung
auf die Menschen bestimmt waren. Daher versteht man heute in: Alltags-
Deutsch unter platonischer Liebe eine mattherzige, verblasene Sympathie und
faßt im übertragenen Sinne unter diesen Begriff jedes untadige Interesse, jede
Anteilnahme zusammen, die sich in schönen Theorien verschwendet, aber nicht
des geringsten Opfers fähig ist. Wenn man die platonische Liebe dergestalt
verwässert, so deutet man sonderbarerweise den platonischen Eros in einer so
plumpen, materiellen Weise, daß wir gar nicht davon reden mögen. Hier kann
nicht nachgewiesen werden, daß hohe Werte damit entwertet sind; denn es erfordert
ein langes Versenken in Platos Schriften und in das Wachstum geistigen Lebens
überhaupt, um hier vom Kern der Dinge etwas zu sehen, und es würde der
Ehrfurcht vor dieser Aufgabe nicht entsprechen, wenn man sie so im Vorbei¬
gehen berühren wollte. Da sich aber doch die Frage aufdrängt, ob denn nicht
die berufenen Gelehrten auch deu weiteren Kreisen das Bild Platos vermitteln,
so sei diese Frage mit wenigen Worten gestreift.

Paters Buch, im einzelnen voller Schönheit, kann heute doch nicht mehr
als genügend gelten. Nietzsche hat aphoristisch glänzendes Lob und harten
Tadel gemischt; seine Kenntnis war wohl nicht vollkommen. In Erwin Rostes
Psyche ist ein nicht genug zu rühmendes Kapitel über Plato, aber es behandelt
natürlich nur ein begrenztes Thema. Windelbands Fähigkeit liegt mehr im
Verfolgen der philosophischen Gewebe; die Darstellung einer gewaltigen
Persönlichkeit liegt ihm viel ferner als die Entwicklung rein gedanklicher
Probleme. Daher ist sein Plato bei Frommanns Klassikern eine recht brauchbare
Einführung in die gedankliche Materie, aber kein sehr lebendiges Bild. Was
Wilamowitz in der "Kultur der Gegenwart" gegeben hat, ist ganz verwerflich.
Gerade was uns Plato zu einer neben Goethe einzigartigen Gestalt gemacht,
die reiche und komplizierte Entfaltung des Geistes und der Seele, die trotz der
tiefsten inneren Gegensätze als Harmonie empfunden wird, zerstört Wilamowitz
gewaltsam, um den Priester und Künstler in die Form eines Wissenschaftlers
zu pressen, wie sie oft existierten und existieren werden.

Einer besonderen Erwähnung bedarf der "Platon" von Konstantin
Ritter (München bei C. H. Beck), dessen erster Band kürzlich erschien. Ritter


Plato für die Gegenwart

hellenische Kulturentwicklung ist durch ihren viel größeren Abstand von uns so
viel leichter in ein einheitliches Bild zu fassen als die komplizierte und aus¬
gedehnte folgende Entwicklung Europas, daß man es immer wieder wie eine
Notwendigkeit empfindet, zu dem einfachen Paradigma der hellenischen Antike
zurückzukehren. Nur ein Genius kann hier in Betracht kommen, der in dem
Knotenpunkt hellenischer Bildung, welcher der Goethescher Zeit bei uns entspricht,
die so widerstrebenden Kräfte seiner Zeit wie Goethe in sich zusammenfaßt und nach
allen Seiten wieder ausstrahlt. Dieser Riese im Aufnehmen wie im Beleben ist Plato.

Es darf gesagt werde», daß das Bild Platos, wie es heute in weiteren
Kreisen lebt, so verflaut und entstellt wie nur denkbar ist. Er gilt als der
weltfremde Träumer, dessen Träume ganz schön, aber nicht zu großer Wirkung
auf die Menschen bestimmt waren. Daher versteht man heute in: Alltags-
Deutsch unter platonischer Liebe eine mattherzige, verblasene Sympathie und
faßt im übertragenen Sinne unter diesen Begriff jedes untadige Interesse, jede
Anteilnahme zusammen, die sich in schönen Theorien verschwendet, aber nicht
des geringsten Opfers fähig ist. Wenn man die platonische Liebe dergestalt
verwässert, so deutet man sonderbarerweise den platonischen Eros in einer so
plumpen, materiellen Weise, daß wir gar nicht davon reden mögen. Hier kann
nicht nachgewiesen werden, daß hohe Werte damit entwertet sind; denn es erfordert
ein langes Versenken in Platos Schriften und in das Wachstum geistigen Lebens
überhaupt, um hier vom Kern der Dinge etwas zu sehen, und es würde der
Ehrfurcht vor dieser Aufgabe nicht entsprechen, wenn man sie so im Vorbei¬
gehen berühren wollte. Da sich aber doch die Frage aufdrängt, ob denn nicht
die berufenen Gelehrten auch deu weiteren Kreisen das Bild Platos vermitteln,
so sei diese Frage mit wenigen Worten gestreift.

Paters Buch, im einzelnen voller Schönheit, kann heute doch nicht mehr
als genügend gelten. Nietzsche hat aphoristisch glänzendes Lob und harten
Tadel gemischt; seine Kenntnis war wohl nicht vollkommen. In Erwin Rostes
Psyche ist ein nicht genug zu rühmendes Kapitel über Plato, aber es behandelt
natürlich nur ein begrenztes Thema. Windelbands Fähigkeit liegt mehr im
Verfolgen der philosophischen Gewebe; die Darstellung einer gewaltigen
Persönlichkeit liegt ihm viel ferner als die Entwicklung rein gedanklicher
Probleme. Daher ist sein Plato bei Frommanns Klassikern eine recht brauchbare
Einführung in die gedankliche Materie, aber kein sehr lebendiges Bild. Was
Wilamowitz in der „Kultur der Gegenwart" gegeben hat, ist ganz verwerflich.
Gerade was uns Plato zu einer neben Goethe einzigartigen Gestalt gemacht,
die reiche und komplizierte Entfaltung des Geistes und der Seele, die trotz der
tiefsten inneren Gegensätze als Harmonie empfunden wird, zerstört Wilamowitz
gewaltsam, um den Priester und Künstler in die Form eines Wissenschaftlers
zu pressen, wie sie oft existierten und existieren werden.

Einer besonderen Erwähnung bedarf der „Platon" von Konstantin
Ritter (München bei C. H. Beck), dessen erster Band kürzlich erschien. Ritter


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0462" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/316101"/>
          <fw type="header" place="top"> Plato für die Gegenwart</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2411" prev="#ID_2410"> hellenische Kulturentwicklung ist durch ihren viel größeren Abstand von uns so<lb/>
viel leichter in ein einheitliches Bild zu fassen als die komplizierte und aus¬<lb/>
gedehnte folgende Entwicklung Europas, daß man es immer wieder wie eine<lb/>
Notwendigkeit empfindet, zu dem einfachen Paradigma der hellenischen Antike<lb/>
zurückzukehren. Nur ein Genius kann hier in Betracht kommen, der in dem<lb/>
Knotenpunkt hellenischer Bildung, welcher der Goethescher Zeit bei uns entspricht,<lb/>
die so widerstrebenden Kräfte seiner Zeit wie Goethe in sich zusammenfaßt und nach<lb/>
allen Seiten wieder ausstrahlt. Dieser Riese im Aufnehmen wie im Beleben ist Plato.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2412"> Es darf gesagt werde», daß das Bild Platos, wie es heute in weiteren<lb/>
Kreisen lebt, so verflaut und entstellt wie nur denkbar ist. Er gilt als der<lb/>
weltfremde Träumer, dessen Träume ganz schön, aber nicht zu großer Wirkung<lb/>
auf die Menschen bestimmt waren. Daher versteht man heute in: Alltags-<lb/>
Deutsch unter platonischer Liebe eine mattherzige, verblasene Sympathie und<lb/>
faßt im übertragenen Sinne unter diesen Begriff jedes untadige Interesse, jede<lb/>
Anteilnahme zusammen, die sich in schönen Theorien verschwendet, aber nicht<lb/>
des geringsten Opfers fähig ist. Wenn man die platonische Liebe dergestalt<lb/>
verwässert, so deutet man sonderbarerweise den platonischen Eros in einer so<lb/>
plumpen, materiellen Weise, daß wir gar nicht davon reden mögen. Hier kann<lb/>
nicht nachgewiesen werden, daß hohe Werte damit entwertet sind; denn es erfordert<lb/>
ein langes Versenken in Platos Schriften und in das Wachstum geistigen Lebens<lb/>
überhaupt, um hier vom Kern der Dinge etwas zu sehen, und es würde der<lb/>
Ehrfurcht vor dieser Aufgabe nicht entsprechen, wenn man sie so im Vorbei¬<lb/>
gehen berühren wollte. Da sich aber doch die Frage aufdrängt, ob denn nicht<lb/>
die berufenen Gelehrten auch deu weiteren Kreisen das Bild Platos vermitteln,<lb/>
so sei diese Frage mit wenigen Worten gestreift.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2413"> Paters Buch, im einzelnen voller Schönheit, kann heute doch nicht mehr<lb/>
als genügend gelten. Nietzsche hat aphoristisch glänzendes Lob und harten<lb/>
Tadel gemischt; seine Kenntnis war wohl nicht vollkommen. In Erwin Rostes<lb/>
Psyche ist ein nicht genug zu rühmendes Kapitel über Plato, aber es behandelt<lb/>
natürlich nur ein begrenztes Thema. Windelbands Fähigkeit liegt mehr im<lb/>
Verfolgen der philosophischen Gewebe; die Darstellung einer gewaltigen<lb/>
Persönlichkeit liegt ihm viel ferner als die Entwicklung rein gedanklicher<lb/>
Probleme. Daher ist sein Plato bei Frommanns Klassikern eine recht brauchbare<lb/>
Einführung in die gedankliche Materie, aber kein sehr lebendiges Bild. Was<lb/>
Wilamowitz in der &#x201E;Kultur der Gegenwart" gegeben hat, ist ganz verwerflich.<lb/>
Gerade was uns Plato zu einer neben Goethe einzigartigen Gestalt gemacht,<lb/>
die reiche und komplizierte Entfaltung des Geistes und der Seele, die trotz der<lb/>
tiefsten inneren Gegensätze als Harmonie empfunden wird, zerstört Wilamowitz<lb/>
gewaltsam, um den Priester und Künstler in die Form eines Wissenschaftlers<lb/>
zu pressen, wie sie oft existierten und existieren werden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2414" next="#ID_2415"> Einer besonderen Erwähnung bedarf der &#x201E;Platon" von Konstantin<lb/>
Ritter (München bei C. H. Beck), dessen erster Band kürzlich erschien. Ritter</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0462] Plato für die Gegenwart hellenische Kulturentwicklung ist durch ihren viel größeren Abstand von uns so viel leichter in ein einheitliches Bild zu fassen als die komplizierte und aus¬ gedehnte folgende Entwicklung Europas, daß man es immer wieder wie eine Notwendigkeit empfindet, zu dem einfachen Paradigma der hellenischen Antike zurückzukehren. Nur ein Genius kann hier in Betracht kommen, der in dem Knotenpunkt hellenischer Bildung, welcher der Goethescher Zeit bei uns entspricht, die so widerstrebenden Kräfte seiner Zeit wie Goethe in sich zusammenfaßt und nach allen Seiten wieder ausstrahlt. Dieser Riese im Aufnehmen wie im Beleben ist Plato. Es darf gesagt werde», daß das Bild Platos, wie es heute in weiteren Kreisen lebt, so verflaut und entstellt wie nur denkbar ist. Er gilt als der weltfremde Träumer, dessen Träume ganz schön, aber nicht zu großer Wirkung auf die Menschen bestimmt waren. Daher versteht man heute in: Alltags- Deutsch unter platonischer Liebe eine mattherzige, verblasene Sympathie und faßt im übertragenen Sinne unter diesen Begriff jedes untadige Interesse, jede Anteilnahme zusammen, die sich in schönen Theorien verschwendet, aber nicht des geringsten Opfers fähig ist. Wenn man die platonische Liebe dergestalt verwässert, so deutet man sonderbarerweise den platonischen Eros in einer so plumpen, materiellen Weise, daß wir gar nicht davon reden mögen. Hier kann nicht nachgewiesen werden, daß hohe Werte damit entwertet sind; denn es erfordert ein langes Versenken in Platos Schriften und in das Wachstum geistigen Lebens überhaupt, um hier vom Kern der Dinge etwas zu sehen, und es würde der Ehrfurcht vor dieser Aufgabe nicht entsprechen, wenn man sie so im Vorbei¬ gehen berühren wollte. Da sich aber doch die Frage aufdrängt, ob denn nicht die berufenen Gelehrten auch deu weiteren Kreisen das Bild Platos vermitteln, so sei diese Frage mit wenigen Worten gestreift. Paters Buch, im einzelnen voller Schönheit, kann heute doch nicht mehr als genügend gelten. Nietzsche hat aphoristisch glänzendes Lob und harten Tadel gemischt; seine Kenntnis war wohl nicht vollkommen. In Erwin Rostes Psyche ist ein nicht genug zu rühmendes Kapitel über Plato, aber es behandelt natürlich nur ein begrenztes Thema. Windelbands Fähigkeit liegt mehr im Verfolgen der philosophischen Gewebe; die Darstellung einer gewaltigen Persönlichkeit liegt ihm viel ferner als die Entwicklung rein gedanklicher Probleme. Daher ist sein Plato bei Frommanns Klassikern eine recht brauchbare Einführung in die gedankliche Materie, aber kein sehr lebendiges Bild. Was Wilamowitz in der „Kultur der Gegenwart" gegeben hat, ist ganz verwerflich. Gerade was uns Plato zu einer neben Goethe einzigartigen Gestalt gemacht, die reiche und komplizierte Entfaltung des Geistes und der Seele, die trotz der tiefsten inneren Gegensätze als Harmonie empfunden wird, zerstört Wilamowitz gewaltsam, um den Priester und Künstler in die Form eines Wissenschaftlers zu pressen, wie sie oft existierten und existieren werden. Einer besonderen Erwähnung bedarf der „Platon" von Konstantin Ritter (München bei C. H. Beck), dessen erster Band kürzlich erschien. Ritter

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/462
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/462>, abgerufen am 29.06.2024.