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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Argentinien

Die Schulen sind im allgemeinen gut; sie überweisen manches, was bei uns
auf den Gymnasien gelehrt wird, der Universität. Aus diesem Grunde müssen
z. B. die Juristen fünf Jahre studieren. Ein Vorzug der Schule besteht darin,
daß sie über die Institutionen des Landes ausreichend unterrichtet. Infolge¬
dessen können sich auch Nichtstudiertc im öffentlichen Leben leicht zurecht¬
finden.

Die hauptstädtische Presse steht auf erstaunlich hoher Stufe. Die beiden
bedeutendsten einheimischen Zeitungen "La nacion" und "La Prensa" sind
Weltblätter ersten Ranges. Der Telegraph spielt für sie die ganze Nacht hin¬
durch. Am Morgen erfährt der Leser alles, was sich in der ganzen Welt
irgendwie von Bedeutung zugetragen hat. Dies bezieht sich uicht nur auf
sogenannte Sensationsnachrichten, sondern auf alles vou Wichtigkeit auf politischem,
geistigem, künstlerischem Gebiete. Ist z. B. heute abend in Mailand ein Konzert,
das Anspruch auf Beachtung machen kann, so liest man bereits am anderen
Morgen einen Bericht davon; die Schlußkritik des Kaisermanövers wird bereits am
nächsten Tage in deu Zeitungen besprochen. Der Grund für den hohen Stand
der großen politischen Zeitungen scheint mir vorzugsweise darin zu liegen,
daß sie Leuten gehören oder von Leuten direkt beeinflußt werden, die die höchsten
Stufen in Staat und Gesellschaft erklommen, die an der Spitze der Geschäfte
und mitten im politischen Leben gestanden haben.

Die Verfassung ist ähnlich derjenigen der Vereinigten Staaten Nordamerikas.
An der Spitze der Zentralregierung steht der Präsident; stirbt er während seiner
Amtsdauer oder dankt er ab, so regiert ohne weiteres für den Rest der Amts¬
periode der Vizepräsident. Die gesetzgebenden Körper sind Deputiertenkammer und
Senat; Präsident dieser ist immer der Vizepräsident der Republik. Bei wichtigen
Fragen treten Deputiertenkammer und Senat zum Kongreß zusammen. An der
Spitze der Bundesstaaten, Provinzen werden sie dort genannt, steht ein Gou¬
verneur, dem wieder Minister und eine gesetzgebende Versammlung zur Seite
stehen. Der Zentralregierung untersteht Armee und Flotte, Post- und Telegraphen¬
wesen, Steuer- und Unterrichtswesen teilweise, die Entscheidung über Krieg und
Frieden; die anderen Angelegenheiten verbleiben den Provinzen.

Der Einfluß des Präsidenten ist mächtiger als der von konstitutionellen
Monarchen. Dies wird erklärlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß er in der
Deputiertenkammer die Majorität hat; denn er ist Chef der Partei, die bei den
Wahlen gesiegt hatte. Außerdem hat er recht viele Posten und Konzessionen zu
vergeben und in einem Lande, wo es noch viel freies Land gibt, Mittel genng,
um Leute, die ihm unbequem werden, mundtot zu machen. Die politische
Selbständigkeit der einzelnen Provinzen ist nicht recht zur Entwicklung gelangt,
weil in der Nation ein ausgesprochen zentralistischer Zug liegt. Der Präsident
wählt seine Minister selbst, die lediglich seinen Willen auszuführen haben und
nur ihm allein verantwortlich sind; seine Individualität drückt der ganzen
Regierung deu Stempel ans; von seiner größeren oder geringeren Initiative


Argentinien

Die Schulen sind im allgemeinen gut; sie überweisen manches, was bei uns
auf den Gymnasien gelehrt wird, der Universität. Aus diesem Grunde müssen
z. B. die Juristen fünf Jahre studieren. Ein Vorzug der Schule besteht darin,
daß sie über die Institutionen des Landes ausreichend unterrichtet. Infolge¬
dessen können sich auch Nichtstudiertc im öffentlichen Leben leicht zurecht¬
finden.

Die hauptstädtische Presse steht auf erstaunlich hoher Stufe. Die beiden
bedeutendsten einheimischen Zeitungen „La nacion" und „La Prensa" sind
Weltblätter ersten Ranges. Der Telegraph spielt für sie die ganze Nacht hin¬
durch. Am Morgen erfährt der Leser alles, was sich in der ganzen Welt
irgendwie von Bedeutung zugetragen hat. Dies bezieht sich uicht nur auf
sogenannte Sensationsnachrichten, sondern auf alles vou Wichtigkeit auf politischem,
geistigem, künstlerischem Gebiete. Ist z. B. heute abend in Mailand ein Konzert,
das Anspruch auf Beachtung machen kann, so liest man bereits am anderen
Morgen einen Bericht davon; die Schlußkritik des Kaisermanövers wird bereits am
nächsten Tage in deu Zeitungen besprochen. Der Grund für den hohen Stand
der großen politischen Zeitungen scheint mir vorzugsweise darin zu liegen,
daß sie Leuten gehören oder von Leuten direkt beeinflußt werden, die die höchsten
Stufen in Staat und Gesellschaft erklommen, die an der Spitze der Geschäfte
und mitten im politischen Leben gestanden haben.

Die Verfassung ist ähnlich derjenigen der Vereinigten Staaten Nordamerikas.
An der Spitze der Zentralregierung steht der Präsident; stirbt er während seiner
Amtsdauer oder dankt er ab, so regiert ohne weiteres für den Rest der Amts¬
periode der Vizepräsident. Die gesetzgebenden Körper sind Deputiertenkammer und
Senat; Präsident dieser ist immer der Vizepräsident der Republik. Bei wichtigen
Fragen treten Deputiertenkammer und Senat zum Kongreß zusammen. An der
Spitze der Bundesstaaten, Provinzen werden sie dort genannt, steht ein Gou¬
verneur, dem wieder Minister und eine gesetzgebende Versammlung zur Seite
stehen. Der Zentralregierung untersteht Armee und Flotte, Post- und Telegraphen¬
wesen, Steuer- und Unterrichtswesen teilweise, die Entscheidung über Krieg und
Frieden; die anderen Angelegenheiten verbleiben den Provinzen.

Der Einfluß des Präsidenten ist mächtiger als der von konstitutionellen
Monarchen. Dies wird erklärlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß er in der
Deputiertenkammer die Majorität hat; denn er ist Chef der Partei, die bei den
Wahlen gesiegt hatte. Außerdem hat er recht viele Posten und Konzessionen zu
vergeben und in einem Lande, wo es noch viel freies Land gibt, Mittel genng,
um Leute, die ihm unbequem werden, mundtot zu machen. Die politische
Selbständigkeit der einzelnen Provinzen ist nicht recht zur Entwicklung gelangt,
weil in der Nation ein ausgesprochen zentralistischer Zug liegt. Der Präsident
wählt seine Minister selbst, die lediglich seinen Willen auszuführen haben und
nur ihm allein verantwortlich sind; seine Individualität drückt der ganzen
Regierung deu Stempel ans; von seiner größeren oder geringeren Initiative


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[0424] Argentinien Die Schulen sind im allgemeinen gut; sie überweisen manches, was bei uns auf den Gymnasien gelehrt wird, der Universität. Aus diesem Grunde müssen z. B. die Juristen fünf Jahre studieren. Ein Vorzug der Schule besteht darin, daß sie über die Institutionen des Landes ausreichend unterrichtet. Infolge¬ dessen können sich auch Nichtstudiertc im öffentlichen Leben leicht zurecht¬ finden. Die hauptstädtische Presse steht auf erstaunlich hoher Stufe. Die beiden bedeutendsten einheimischen Zeitungen „La nacion" und „La Prensa" sind Weltblätter ersten Ranges. Der Telegraph spielt für sie die ganze Nacht hin¬ durch. Am Morgen erfährt der Leser alles, was sich in der ganzen Welt irgendwie von Bedeutung zugetragen hat. Dies bezieht sich uicht nur auf sogenannte Sensationsnachrichten, sondern auf alles vou Wichtigkeit auf politischem, geistigem, künstlerischem Gebiete. Ist z. B. heute abend in Mailand ein Konzert, das Anspruch auf Beachtung machen kann, so liest man bereits am anderen Morgen einen Bericht davon; die Schlußkritik des Kaisermanövers wird bereits am nächsten Tage in deu Zeitungen besprochen. Der Grund für den hohen Stand der großen politischen Zeitungen scheint mir vorzugsweise darin zu liegen, daß sie Leuten gehören oder von Leuten direkt beeinflußt werden, die die höchsten Stufen in Staat und Gesellschaft erklommen, die an der Spitze der Geschäfte und mitten im politischen Leben gestanden haben. Die Verfassung ist ähnlich derjenigen der Vereinigten Staaten Nordamerikas. An der Spitze der Zentralregierung steht der Präsident; stirbt er während seiner Amtsdauer oder dankt er ab, so regiert ohne weiteres für den Rest der Amts¬ periode der Vizepräsident. Die gesetzgebenden Körper sind Deputiertenkammer und Senat; Präsident dieser ist immer der Vizepräsident der Republik. Bei wichtigen Fragen treten Deputiertenkammer und Senat zum Kongreß zusammen. An der Spitze der Bundesstaaten, Provinzen werden sie dort genannt, steht ein Gou¬ verneur, dem wieder Minister und eine gesetzgebende Versammlung zur Seite stehen. Der Zentralregierung untersteht Armee und Flotte, Post- und Telegraphen¬ wesen, Steuer- und Unterrichtswesen teilweise, die Entscheidung über Krieg und Frieden; die anderen Angelegenheiten verbleiben den Provinzen. Der Einfluß des Präsidenten ist mächtiger als der von konstitutionellen Monarchen. Dies wird erklärlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß er in der Deputiertenkammer die Majorität hat; denn er ist Chef der Partei, die bei den Wahlen gesiegt hatte. Außerdem hat er recht viele Posten und Konzessionen zu vergeben und in einem Lande, wo es noch viel freies Land gibt, Mittel genng, um Leute, die ihm unbequem werden, mundtot zu machen. Die politische Selbständigkeit der einzelnen Provinzen ist nicht recht zur Entwicklung gelangt, weil in der Nation ein ausgesprochen zentralistischer Zug liegt. Der Präsident wählt seine Minister selbst, die lediglich seinen Willen auszuführen haben und nur ihm allein verantwortlich sind; seine Individualität drückt der ganzen Regierung deu Stempel ans; von seiner größeren oder geringeren Initiative

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/424>, abgerufen am 29.06.2024.