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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Gesellschaft, Sitten und Talons unter dem Direktorium

Die Ehe mit ihren Verpflichtungen auf Lebenszeit gefiel den Franzosen
schon lange nicht mehr. Durch ein Dekret vom 23. April 1794 war die Ehe¬
scheidung eingeführt worden, die jedem gestattete, das Glück, das er nicht
gefunden, anderweitig zu suchen. Diese Einrichtung der Revolution hatte wohl
sehr viel Gutes, aber auch manches nachteilige an sich. Sie machte viel ehe¬
lichen Elend ein Ende, aber sie verleitete auch zu ungeheuren Mißbräuchen.
Man ließ sich heute trauen und morgen scheiden, je nach Laune und Bedürfnis.
Das geringste Mißverständnis zwischen Eheleuten galt schließlich als Tyrannei
und führte vor das Ehescheidungsgericht. Es kam vor, daß sich Leute mehr¬
mals in einem Jahre scheiden ließen und wieder verheirateten. Im "Moniteur"
vom 27. Dezember 1796 wurde das Gesuch eines Mannes veröffentlicht, der
um die Erlaubnis bat, seine Schwiegermutter zu heiraten, nachdem er sich von
deren beideu Töchtern in kurz aufeinander folgenden Zeiträumen hatte scheiden
lassen.

Unter diesen Verhältnissen machte ein gewisser Liardot Schule. Er hatte
während der Revolution ein Heiratsbureau eröffnet, wo sich die beiden Parteien
"treffen und verständigen" konnten. Nach dem 9. Thermidor kam ein anderer
auf die findige Idee, eine "Pension für heiratsfähige junge Mädchen" ein¬
zurichten. Dreimal in der Woche war bei ihm Ball oder Konzert, wozu alle
eleganten, reichen, liebenswürdigen und heiratslustigeil Männer eingeladen
wurden. Die Ehe war für die Franzosen bald nichts weiter als ein Handel,
den man nach Belieben abbrechen oder aufgeben konnte.

Solche Zustände waren natürlich nicht dazu angetan, die Männer in den
Hafen der Ehe zu locken. Sie sagten sich, wozu heiraten, wenn die Frauen
anderer so entgegenkommend sind? Und sie hatten nicht unrecht. Unter dem
Direktorium mangelte es der Fran an jenem Takt- und Feingefühl, das die
Gesellschaft des "^malen röZime" trotz aller ihrer Fehler und Laster besaß.
Es kam der Frau in jener sittenlosen Zeit vor allem daraus an, ihre Reize so
unverhüllt wie möglich den Blicken der Männer preiszugeben, um sie für sich
zu gewinnen. Paris glich einer Stadt von Prostituierten.

Neben diesem ungeheuren Luxus, dieser Prachtentfaltung, dieser Genußsucht der
höheren Klassen gähnte wie ein schrecklicher Abgrund das Elend und die Not der
niederen Bevölkerung von Paris. Welche Ironie! Die Revolution mit ihrem
Streben nach Gleichheit hatte mehr als je die Ungleichheit der Gesellschaft herbei¬
geführt! Dem Unbemittelten fehlte es an allem; in der Hauptstadt mangelte es
am nötigsten. Während für die seltensten Dinge gesorgt war, während Tausende
und aber Tausende an einem Abende für Vergnügungen, Toiletten, Frauen, für
eine einzige Laune ausgegeben wurden, hatten die Armen kein Brot. Und wie
viele mußten mit leeren Händen wieder fortgehen, weil der Vorrat der Bäcker
für die vielen Hungernden nicht reichte! Mehr als die Hälfte des Pariser
Volkes nährte sich ausschließlich vou Kartoffeln. Für ein Pfund Fleisch bezahlte
man im Jahre 179V 60 Frs. und für ein Pfund Brot 50 Frs. Ein Pfund Zucker


Gesellschaft, Sitten und Talons unter dem Direktorium

Die Ehe mit ihren Verpflichtungen auf Lebenszeit gefiel den Franzosen
schon lange nicht mehr. Durch ein Dekret vom 23. April 1794 war die Ehe¬
scheidung eingeführt worden, die jedem gestattete, das Glück, das er nicht
gefunden, anderweitig zu suchen. Diese Einrichtung der Revolution hatte wohl
sehr viel Gutes, aber auch manches nachteilige an sich. Sie machte viel ehe¬
lichen Elend ein Ende, aber sie verleitete auch zu ungeheuren Mißbräuchen.
Man ließ sich heute trauen und morgen scheiden, je nach Laune und Bedürfnis.
Das geringste Mißverständnis zwischen Eheleuten galt schließlich als Tyrannei
und führte vor das Ehescheidungsgericht. Es kam vor, daß sich Leute mehr¬
mals in einem Jahre scheiden ließen und wieder verheirateten. Im „Moniteur"
vom 27. Dezember 1796 wurde das Gesuch eines Mannes veröffentlicht, der
um die Erlaubnis bat, seine Schwiegermutter zu heiraten, nachdem er sich von
deren beideu Töchtern in kurz aufeinander folgenden Zeiträumen hatte scheiden
lassen.

Unter diesen Verhältnissen machte ein gewisser Liardot Schule. Er hatte
während der Revolution ein Heiratsbureau eröffnet, wo sich die beiden Parteien
„treffen und verständigen" konnten. Nach dem 9. Thermidor kam ein anderer
auf die findige Idee, eine „Pension für heiratsfähige junge Mädchen" ein¬
zurichten. Dreimal in der Woche war bei ihm Ball oder Konzert, wozu alle
eleganten, reichen, liebenswürdigen und heiratslustigeil Männer eingeladen
wurden. Die Ehe war für die Franzosen bald nichts weiter als ein Handel,
den man nach Belieben abbrechen oder aufgeben konnte.

Solche Zustände waren natürlich nicht dazu angetan, die Männer in den
Hafen der Ehe zu locken. Sie sagten sich, wozu heiraten, wenn die Frauen
anderer so entgegenkommend sind? Und sie hatten nicht unrecht. Unter dem
Direktorium mangelte es der Fran an jenem Takt- und Feingefühl, das die
Gesellschaft des „^malen röZime" trotz aller ihrer Fehler und Laster besaß.
Es kam der Frau in jener sittenlosen Zeit vor allem daraus an, ihre Reize so
unverhüllt wie möglich den Blicken der Männer preiszugeben, um sie für sich
zu gewinnen. Paris glich einer Stadt von Prostituierten.

Neben diesem ungeheuren Luxus, dieser Prachtentfaltung, dieser Genußsucht der
höheren Klassen gähnte wie ein schrecklicher Abgrund das Elend und die Not der
niederen Bevölkerung von Paris. Welche Ironie! Die Revolution mit ihrem
Streben nach Gleichheit hatte mehr als je die Ungleichheit der Gesellschaft herbei¬
geführt! Dem Unbemittelten fehlte es an allem; in der Hauptstadt mangelte es
am nötigsten. Während für die seltensten Dinge gesorgt war, während Tausende
und aber Tausende an einem Abende für Vergnügungen, Toiletten, Frauen, für
eine einzige Laune ausgegeben wurden, hatten die Armen kein Brot. Und wie
viele mußten mit leeren Händen wieder fortgehen, weil der Vorrat der Bäcker
für die vielen Hungernden nicht reichte! Mehr als die Hälfte des Pariser
Volkes nährte sich ausschließlich vou Kartoffeln. Für ein Pfund Fleisch bezahlte
man im Jahre 179V 60 Frs. und für ein Pfund Brot 50 Frs. Ein Pfund Zucker


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[0328] Gesellschaft, Sitten und Talons unter dem Direktorium Die Ehe mit ihren Verpflichtungen auf Lebenszeit gefiel den Franzosen schon lange nicht mehr. Durch ein Dekret vom 23. April 1794 war die Ehe¬ scheidung eingeführt worden, die jedem gestattete, das Glück, das er nicht gefunden, anderweitig zu suchen. Diese Einrichtung der Revolution hatte wohl sehr viel Gutes, aber auch manches nachteilige an sich. Sie machte viel ehe¬ lichen Elend ein Ende, aber sie verleitete auch zu ungeheuren Mißbräuchen. Man ließ sich heute trauen und morgen scheiden, je nach Laune und Bedürfnis. Das geringste Mißverständnis zwischen Eheleuten galt schließlich als Tyrannei und führte vor das Ehescheidungsgericht. Es kam vor, daß sich Leute mehr¬ mals in einem Jahre scheiden ließen und wieder verheirateten. Im „Moniteur" vom 27. Dezember 1796 wurde das Gesuch eines Mannes veröffentlicht, der um die Erlaubnis bat, seine Schwiegermutter zu heiraten, nachdem er sich von deren beideu Töchtern in kurz aufeinander folgenden Zeiträumen hatte scheiden lassen. Unter diesen Verhältnissen machte ein gewisser Liardot Schule. Er hatte während der Revolution ein Heiratsbureau eröffnet, wo sich die beiden Parteien „treffen und verständigen" konnten. Nach dem 9. Thermidor kam ein anderer auf die findige Idee, eine „Pension für heiratsfähige junge Mädchen" ein¬ zurichten. Dreimal in der Woche war bei ihm Ball oder Konzert, wozu alle eleganten, reichen, liebenswürdigen und heiratslustigeil Männer eingeladen wurden. Die Ehe war für die Franzosen bald nichts weiter als ein Handel, den man nach Belieben abbrechen oder aufgeben konnte. Solche Zustände waren natürlich nicht dazu angetan, die Männer in den Hafen der Ehe zu locken. Sie sagten sich, wozu heiraten, wenn die Frauen anderer so entgegenkommend sind? Und sie hatten nicht unrecht. Unter dem Direktorium mangelte es der Fran an jenem Takt- und Feingefühl, das die Gesellschaft des „^malen röZime" trotz aller ihrer Fehler und Laster besaß. Es kam der Frau in jener sittenlosen Zeit vor allem daraus an, ihre Reize so unverhüllt wie möglich den Blicken der Männer preiszugeben, um sie für sich zu gewinnen. Paris glich einer Stadt von Prostituierten. Neben diesem ungeheuren Luxus, dieser Prachtentfaltung, dieser Genußsucht der höheren Klassen gähnte wie ein schrecklicher Abgrund das Elend und die Not der niederen Bevölkerung von Paris. Welche Ironie! Die Revolution mit ihrem Streben nach Gleichheit hatte mehr als je die Ungleichheit der Gesellschaft herbei¬ geführt! Dem Unbemittelten fehlte es an allem; in der Hauptstadt mangelte es am nötigsten. Während für die seltensten Dinge gesorgt war, während Tausende und aber Tausende an einem Abende für Vergnügungen, Toiletten, Frauen, für eine einzige Laune ausgegeben wurden, hatten die Armen kein Brot. Und wie viele mußten mit leeren Händen wieder fortgehen, weil der Vorrat der Bäcker für die vielen Hungernden nicht reichte! Mehr als die Hälfte des Pariser Volkes nährte sich ausschließlich vou Kartoffeln. Für ein Pfund Fleisch bezahlte man im Jahre 179V 60 Frs. und für ein Pfund Brot 50 Frs. Ein Pfund Zucker

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/328>, abgerufen am 29.06.2024.