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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Gesellschaft, Sitten und Salons unter dem Direktorium

mattesten Aschblond bis zum feurigsten Rotgold. Die eleganten Damen der Zeit,
wie Madame Raguel, die junge kokette Schauspielerin Lange, Madame Tallien,
Madame Hamelin und andere, besaßen jede an die dreißig Stück blonde Perücken,
ungerechnet die dunklen! Jede Perücke kostete wenigstens 500 Francs!

Mit Recht durfte man zu jener Zeit behaupten, die Garderobe einer
eleganten Pariserin bestehe aus dreihundertfünfundsechzig Frisuren, ebenso vielen
Schuhen, sechshundert Kleidern und sechs Hemden! Und selbst dieses alther¬
gebrachte Kleidungsstück war, wie schon erwähnt, eine Zeitlang ganz aus dem
Kleiderschatz der Damen verschwunden.

Nicht weniger herausfordernd waren die Herrenmoden. Neben dem wegen
seiner Vorliebe für ein starkes Moschusparfüm sogenannten "Muscadin", der
sehr enge Hosen, eine Flachsperücke und einen hohen grünen oder schwarzen
Kragen als Zeichen seiner antirevolutionären Gesinnung trug, waren die
"Jncrouables" die wahren Löwen des Tages. Ihre Stutzerhaftigkeit überstieg alle
Begriffe. Das im Nacken ^ la Brutus kurz geschnittene Haar fiel in unzähligen,
Pfropfenziehern ähnlichen Löckchen tief in die Stirn, so daß es die mit dem
Stift stark aufgetragenen Augenbrauen fast ganz verdeckte. Der Kopf, den ein
hoher schwarzer Seidenhut mit einer winzigen Kokarde zierte, verschwand voll¬
kommen in dem unheimlich hohen Rockkragen und der noch umfangreicheren
Mull- oder Seidenkrawatte: nur Augen und Nase eines solchen Gecken waren
sichtbar. Die meist blauen Röcke hatten überlange, manchmal bis zu den
Füßen reichende Schöße. Die Arme steckten in vielzu langen undviel zu engen Ärmeln;
nur mit Mühe waren die Fingerspitzen zu sehen. Dazu trug man bestickte Hand¬
schuhe. Die englisch geschnittene, helle oder braune Weste wies zivei Reihen
ungeheurer Perlmutterknöpfe auf. In einer ihrer Taschen trug man möglichst
sichtbar die massiv goldene Luxusuhr, während die, welche man zum täglichen
Gebrauch benutzte, in einer kleinen Tasche im Innern der Weste ruhte. Um
den Hals eines Jncroyable hing an einem winzigen Kettchen das Bild der
Geliebten vom Tage, denn auch sie wechselte man täglich. Das rechte Hand¬
gelenk schmückte ein dünnes goldenes Filigranarmband, die linke Hand dagegen
ruhte beständig nachlässig in einer Tasche der langen engen Nankingbeinkleider.

Man verstümmelte seine Gestalt soviel wie möglich. Alle Jncrouables
hielten sich so krumm, als wären sie verwachsen. Sie spielten die Kurzsichtigen
und trugen entweder Riesenbrillen auf der Nase oder bewaffneten sich mit
unförmlichen Lorgnetten, die sie bei jeder Gelegenheit affektiert an die Augen
führten. Man schützte fast immer Kopfschmerzen vor, um möglichst oft Gelegen¬
heit zu haben, das kostbare Riechfläschchen an die Nase zu halten. Kurz man
gab sich ein blasiertes, zimperliches Aussehen, was indes nicht verhinderte, mit
gewaltigen Knütteln spazieren zu gehen. Später verwandelten sich diese aller¬
dings in biegsame Stöckchen.

Um für einen Mann von Welt, einen Dandy zu gelten, mußte man
möglichst lange und schmale Füße haben; diejenigen, welche die Natur uicht


Gesellschaft, Sitten und Salons unter dem Direktorium

mattesten Aschblond bis zum feurigsten Rotgold. Die eleganten Damen der Zeit,
wie Madame Raguel, die junge kokette Schauspielerin Lange, Madame Tallien,
Madame Hamelin und andere, besaßen jede an die dreißig Stück blonde Perücken,
ungerechnet die dunklen! Jede Perücke kostete wenigstens 500 Francs!

Mit Recht durfte man zu jener Zeit behaupten, die Garderobe einer
eleganten Pariserin bestehe aus dreihundertfünfundsechzig Frisuren, ebenso vielen
Schuhen, sechshundert Kleidern und sechs Hemden! Und selbst dieses alther¬
gebrachte Kleidungsstück war, wie schon erwähnt, eine Zeitlang ganz aus dem
Kleiderschatz der Damen verschwunden.

Nicht weniger herausfordernd waren die Herrenmoden. Neben dem wegen
seiner Vorliebe für ein starkes Moschusparfüm sogenannten „Muscadin", der
sehr enge Hosen, eine Flachsperücke und einen hohen grünen oder schwarzen
Kragen als Zeichen seiner antirevolutionären Gesinnung trug, waren die
„Jncrouables" die wahren Löwen des Tages. Ihre Stutzerhaftigkeit überstieg alle
Begriffe. Das im Nacken ^ la Brutus kurz geschnittene Haar fiel in unzähligen,
Pfropfenziehern ähnlichen Löckchen tief in die Stirn, so daß es die mit dem
Stift stark aufgetragenen Augenbrauen fast ganz verdeckte. Der Kopf, den ein
hoher schwarzer Seidenhut mit einer winzigen Kokarde zierte, verschwand voll¬
kommen in dem unheimlich hohen Rockkragen und der noch umfangreicheren
Mull- oder Seidenkrawatte: nur Augen und Nase eines solchen Gecken waren
sichtbar. Die meist blauen Röcke hatten überlange, manchmal bis zu den
Füßen reichende Schöße. Die Arme steckten in vielzu langen undviel zu engen Ärmeln;
nur mit Mühe waren die Fingerspitzen zu sehen. Dazu trug man bestickte Hand¬
schuhe. Die englisch geschnittene, helle oder braune Weste wies zivei Reihen
ungeheurer Perlmutterknöpfe auf. In einer ihrer Taschen trug man möglichst
sichtbar die massiv goldene Luxusuhr, während die, welche man zum täglichen
Gebrauch benutzte, in einer kleinen Tasche im Innern der Weste ruhte. Um
den Hals eines Jncroyable hing an einem winzigen Kettchen das Bild der
Geliebten vom Tage, denn auch sie wechselte man täglich. Das rechte Hand¬
gelenk schmückte ein dünnes goldenes Filigranarmband, die linke Hand dagegen
ruhte beständig nachlässig in einer Tasche der langen engen Nankingbeinkleider.

Man verstümmelte seine Gestalt soviel wie möglich. Alle Jncrouables
hielten sich so krumm, als wären sie verwachsen. Sie spielten die Kurzsichtigen
und trugen entweder Riesenbrillen auf der Nase oder bewaffneten sich mit
unförmlichen Lorgnetten, die sie bei jeder Gelegenheit affektiert an die Augen
führten. Man schützte fast immer Kopfschmerzen vor, um möglichst oft Gelegen¬
heit zu haben, das kostbare Riechfläschchen an die Nase zu halten. Kurz man
gab sich ein blasiertes, zimperliches Aussehen, was indes nicht verhinderte, mit
gewaltigen Knütteln spazieren zu gehen. Später verwandelten sich diese aller¬
dings in biegsame Stöckchen.

Um für einen Mann von Welt, einen Dandy zu gelten, mußte man
möglichst lange und schmale Füße haben; diejenigen, welche die Natur uicht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/326>, abgerufen am 29.06.2024.