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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Gesellschaft, Sitten und Salons unter dem Direktorium

brachten, in denen die Klubmänner, die öffentlichen Redner, die Rädelsführer,
die Kuppler der Guillotine, die Konventsmitglieder und Richter des Revolutions-
tribunals mit allen ihren Lastern, Verbrechen und lächerlichen Eigenarten ver¬
höhnt wurden. Auch die stark ausgeprägte Handels- und Wucherwut wurde
witzig in Stücken bekrittelt. Im Vaudeville zum Beispiel gab man häufig
"?out Is monäs s'su ensis, on la in-mie du Lommerce", worin eine ganze
Familie durch die Agiotage verdorben wird und zugrunde geht. Das tat jedoch
dem Laster nicht den geringsten Einhalt.

Unter dem Direktorium wurde das Rachelied der Muscadins "I^e ^socii
an psuple" in den Theatern verboten. Dafür sollten vor der Vorstellung
und in den Zwischenpausen patriotische Lieder gesungen werden, aber man
machte sich bald nichts mehr daraus. Die beliebtesten Figuren auf der Bühne
waren der Parvenü oder die Parvenüsfrau, die ehemalige Hökerin, die jetzt
reiche und angesehene Frau, die beinahe eine Dame gewesen wäre, wenn ihr
nicht alles gefehlt hätte: Geist, Benehmen, Erziehung und Bildung! So ver¬
höhnte die Gesellschaft ihr eigenes Vorbild, das der berühmten "Madame Angot".

Der bei so vielen Menschen stattgehabte Glückswechsel war höchst seltsam.
Leute, die kein Mensch vorher kannte, die bisher in den dunkelsten Verhält¬
nissen gelebt hatten, waren durch Betrug und Wucher reich geworden und
spielten nun die erste Rolle. Alte angesehene Familien dagegen waren durch
die Revolution um ihr Vermögen gekommen und lebten in größter Dürftigkeit.
Vor allem litt der vornehme Klerus unter den veränderten Verhältnissen. So
war der ehemalige Bischof von Vienne im Jahre 1796 Austräger in der
Arsenalbibliothek und flickte sich seine Hosen und Schuhe selbst.

Die ganze Gesellschaft machte den Eindruck jener Dienerschaft unter dem
"^ncisn röZ'ime", der man, dem Brauche gemäß, jeden Aschermittwoch erlaubte,
einmal die Herren zu spielen. Die Salons standen jedem offen; die Feste und
Bälle waren öffentlich, alle Menschen vergnügten sich gemeinsam. Die jungen
Damen schwebten in den Armen ihnen unbekannter Tänzer dahin. Schau¬
spielerinnen, Tänzerinnen, Abenteurer, Weltdauer und Courtisanen trafen sich
am gleichen Orte und wetteiferten miteinander an Schönheit, Kleiderpracht und
Extravaganz.

Die gesellschaftlichen Manieren ließen viel zu wünschen übrig. Die Herren
behielten die Hüte auf dem Kopfe, wenn sie mit einer Dame sprachen. Man
grüßte sich nur flüchtig mit einem Lüften des Hutes oder mit mehrmaligem
Kopfnicken. Die Frauen sahen die Männer durch ihre langgestielten Augen¬
gläser herausfordernd an; die häßlichsten wurden von ihnen laut kritisiert, und
den hübschen sagten sie die aufdringlichsten Schmeicheleien. Dasselbe taten die
Männer mit den Frauen. Jene Höflichkeit, Zuvorkommenheit, Rücksicht, jenes
Feingefühl der alten, vornehmen Pariser Gesellschaft war verschwunden.

Mehr als je arteten die Genüsse der Tafel in Völlerei aus. Grimod
de la Neynisre, der große Gourmet, sagte, ganz Paris sei in einen einzigen


Gesellschaft, Sitten und Salons unter dem Direktorium

brachten, in denen die Klubmänner, die öffentlichen Redner, die Rädelsführer,
die Kuppler der Guillotine, die Konventsmitglieder und Richter des Revolutions-
tribunals mit allen ihren Lastern, Verbrechen und lächerlichen Eigenarten ver¬
höhnt wurden. Auch die stark ausgeprägte Handels- und Wucherwut wurde
witzig in Stücken bekrittelt. Im Vaudeville zum Beispiel gab man häufig
„?out Is monäs s'su ensis, on la in-mie du Lommerce", worin eine ganze
Familie durch die Agiotage verdorben wird und zugrunde geht. Das tat jedoch
dem Laster nicht den geringsten Einhalt.

Unter dem Direktorium wurde das Rachelied der Muscadins „I^e ^socii
an psuple" in den Theatern verboten. Dafür sollten vor der Vorstellung
und in den Zwischenpausen patriotische Lieder gesungen werden, aber man
machte sich bald nichts mehr daraus. Die beliebtesten Figuren auf der Bühne
waren der Parvenü oder die Parvenüsfrau, die ehemalige Hökerin, die jetzt
reiche und angesehene Frau, die beinahe eine Dame gewesen wäre, wenn ihr
nicht alles gefehlt hätte: Geist, Benehmen, Erziehung und Bildung! So ver¬
höhnte die Gesellschaft ihr eigenes Vorbild, das der berühmten „Madame Angot".

Der bei so vielen Menschen stattgehabte Glückswechsel war höchst seltsam.
Leute, die kein Mensch vorher kannte, die bisher in den dunkelsten Verhält¬
nissen gelebt hatten, waren durch Betrug und Wucher reich geworden und
spielten nun die erste Rolle. Alte angesehene Familien dagegen waren durch
die Revolution um ihr Vermögen gekommen und lebten in größter Dürftigkeit.
Vor allem litt der vornehme Klerus unter den veränderten Verhältnissen. So
war der ehemalige Bischof von Vienne im Jahre 1796 Austräger in der
Arsenalbibliothek und flickte sich seine Hosen und Schuhe selbst.

Die ganze Gesellschaft machte den Eindruck jener Dienerschaft unter dem
»^ncisn röZ'ime", der man, dem Brauche gemäß, jeden Aschermittwoch erlaubte,
einmal die Herren zu spielen. Die Salons standen jedem offen; die Feste und
Bälle waren öffentlich, alle Menschen vergnügten sich gemeinsam. Die jungen
Damen schwebten in den Armen ihnen unbekannter Tänzer dahin. Schau¬
spielerinnen, Tänzerinnen, Abenteurer, Weltdauer und Courtisanen trafen sich
am gleichen Orte und wetteiferten miteinander an Schönheit, Kleiderpracht und
Extravaganz.

Die gesellschaftlichen Manieren ließen viel zu wünschen übrig. Die Herren
behielten die Hüte auf dem Kopfe, wenn sie mit einer Dame sprachen. Man
grüßte sich nur flüchtig mit einem Lüften des Hutes oder mit mehrmaligem
Kopfnicken. Die Frauen sahen die Männer durch ihre langgestielten Augen¬
gläser herausfordernd an; die häßlichsten wurden von ihnen laut kritisiert, und
den hübschen sagten sie die aufdringlichsten Schmeicheleien. Dasselbe taten die
Männer mit den Frauen. Jene Höflichkeit, Zuvorkommenheit, Rücksicht, jenes
Feingefühl der alten, vornehmen Pariser Gesellschaft war verschwunden.

Mehr als je arteten die Genüsse der Tafel in Völlerei aus. Grimod
de la Neynisre, der große Gourmet, sagte, ganz Paris sei in einen einzigen


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[0319] Gesellschaft, Sitten und Salons unter dem Direktorium brachten, in denen die Klubmänner, die öffentlichen Redner, die Rädelsführer, die Kuppler der Guillotine, die Konventsmitglieder und Richter des Revolutions- tribunals mit allen ihren Lastern, Verbrechen und lächerlichen Eigenarten ver¬ höhnt wurden. Auch die stark ausgeprägte Handels- und Wucherwut wurde witzig in Stücken bekrittelt. Im Vaudeville zum Beispiel gab man häufig „?out Is monäs s'su ensis, on la in-mie du Lommerce", worin eine ganze Familie durch die Agiotage verdorben wird und zugrunde geht. Das tat jedoch dem Laster nicht den geringsten Einhalt. Unter dem Direktorium wurde das Rachelied der Muscadins „I^e ^socii an psuple" in den Theatern verboten. Dafür sollten vor der Vorstellung und in den Zwischenpausen patriotische Lieder gesungen werden, aber man machte sich bald nichts mehr daraus. Die beliebtesten Figuren auf der Bühne waren der Parvenü oder die Parvenüsfrau, die ehemalige Hökerin, die jetzt reiche und angesehene Frau, die beinahe eine Dame gewesen wäre, wenn ihr nicht alles gefehlt hätte: Geist, Benehmen, Erziehung und Bildung! So ver¬ höhnte die Gesellschaft ihr eigenes Vorbild, das der berühmten „Madame Angot". Der bei so vielen Menschen stattgehabte Glückswechsel war höchst seltsam. Leute, die kein Mensch vorher kannte, die bisher in den dunkelsten Verhält¬ nissen gelebt hatten, waren durch Betrug und Wucher reich geworden und spielten nun die erste Rolle. Alte angesehene Familien dagegen waren durch die Revolution um ihr Vermögen gekommen und lebten in größter Dürftigkeit. Vor allem litt der vornehme Klerus unter den veränderten Verhältnissen. So war der ehemalige Bischof von Vienne im Jahre 1796 Austräger in der Arsenalbibliothek und flickte sich seine Hosen und Schuhe selbst. Die ganze Gesellschaft machte den Eindruck jener Dienerschaft unter dem »^ncisn röZ'ime", der man, dem Brauche gemäß, jeden Aschermittwoch erlaubte, einmal die Herren zu spielen. Die Salons standen jedem offen; die Feste und Bälle waren öffentlich, alle Menschen vergnügten sich gemeinsam. Die jungen Damen schwebten in den Armen ihnen unbekannter Tänzer dahin. Schau¬ spielerinnen, Tänzerinnen, Abenteurer, Weltdauer und Courtisanen trafen sich am gleichen Orte und wetteiferten miteinander an Schönheit, Kleiderpracht und Extravaganz. Die gesellschaftlichen Manieren ließen viel zu wünschen übrig. Die Herren behielten die Hüte auf dem Kopfe, wenn sie mit einer Dame sprachen. Man grüßte sich nur flüchtig mit einem Lüften des Hutes oder mit mehrmaligem Kopfnicken. Die Frauen sahen die Männer durch ihre langgestielten Augen¬ gläser herausfordernd an; die häßlichsten wurden von ihnen laut kritisiert, und den hübschen sagten sie die aufdringlichsten Schmeicheleien. Dasselbe taten die Männer mit den Frauen. Jene Höflichkeit, Zuvorkommenheit, Rücksicht, jenes Feingefühl der alten, vornehmen Pariser Gesellschaft war verschwunden. Mehr als je arteten die Genüsse der Tafel in Völlerei aus. Grimod de la Neynisre, der große Gourmet, sagte, ganz Paris sei in einen einzigen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/319>, abgerufen am 28.09.2024.