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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Im Kampf gegen die Übermacht

Den Rücken der Gemeinde zugekehrt, verrichtete er die Liturgie. Leise und
undeutlich. Aber als er sich umwandte und die Epistel verlas, lag Kraft in seiner
Stimme. Seine Augen fanden Thorbvrg und noch stärker tönten die Worte durch
die Kirche. . .

Der Küster nahm ihm den Samtüberwurf und das Meßhemd ab, und er
kehrte in die Sakristei zurück.

Wieder wanderte er rastlos auf und nieder. Er hatte sie alle gesehen -- die
Gesichter. Ihm zunächst Madame Foksens strenge, stahlgraue Augen. Aber auch
die andern, die Frauen, die Männer, die jungen Mädchen. Alle Augen stachen
wie Nadeln.

Er zog das Konzept zu seiner Predigt aus der Tasche und versuchte zu
lesen. Und er las und wanderte auf und nieder. Abermals öffnete er den
Schrank. Und beugte sich hastig nach der Flasche nieder und trank.

Während sich der Gesang da drinnen langsam durch die vielen Verse des
Kirchenlieds hindnrchwcmd.

Bei dein letzten Vers schloß er den Schrank ab. Er trocknete den Schweiß
von der Stirn und atmete tief auf.

Dann ging er hinein, und die Treppe zur Kanzel hinauf.

Lange stand er da oben, über die gefalteten Hände anf dem Vetpult gebeugt.

Dann erhob er den Kopf. Mit einem Blick begegnete er allen den vielen
Blicken da unten, und er fühlte, wie ihn eine Kraft, befreit und hoch, durchsauste.
Er warf den Kopf zurück. . .

"Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet..."

Es war das Sonntagsevangelium von der Bergpredigt.

Seine Stimme schallte -- und das Konzept auf dem Pult blieb unbeachtet
liegen.

Es war lange her, daß die Gemeinde ihren Pfarrer so hatte reden hören
wie heute, wo seine Rede Macht und Feuer besaß wie in früheren Zeiten. Wieder
bezwang er aller Sinne, und die gebrechliche Kirche schien zu zittern...

Er beschloß seine Rede und ging.

Das letzte, was er sah, waren ThorborgS große, dunkle Augen, die an den
seineu hingen -- strahlend.

Und er wußte, das; sie ihm ihren glühenden Dank sandte, weil er sich selbst
und sie gerechtfertigt hatte -- hoch über allen Köpfen, über Kleinlichkeit und
niedrigen Gedanken.

In der Sakristei sank er auf dem Stuhl zusammen.

Die Gesänge wurden gesungen und er verrichtete das Ritual wie immer.
Aber man hörte ihm an, daß er müde war.

Endlich war der Gottesdienst beendet. Die meisten Männer verließen die
Kirche. Aber die Frauen blieben zurück.

Und der Pfarrer trat wieder in die Kirche, um die Taufen zu verrichten.

Zwischen den Gevattern stellten sich Herr Fotsen und Anton Just auf. Neben
Thorborg stand Jonina.

Mit erneuter Kraft und Innigkeit hielt der Pfarrer seine Rede. Er war
selber stark bewegt, und die Frauen weinten.

Da waren noch drei andere Täuflinge, und er winkte sie zuerst heran.

Endlich stand Thorborg mit dem Kinde vor ihm. Aus ihren Augen fielen
Tränen, und die Stimme deS Pfarrers zitterte. . .

"Wie soll das Kind heißen?"

Leise, so daß niemand es hörte, antwortete sie:


Im Kampf gegen die Übermacht

Den Rücken der Gemeinde zugekehrt, verrichtete er die Liturgie. Leise und
undeutlich. Aber als er sich umwandte und die Epistel verlas, lag Kraft in seiner
Stimme. Seine Augen fanden Thorbvrg und noch stärker tönten die Worte durch
die Kirche. . .

Der Küster nahm ihm den Samtüberwurf und das Meßhemd ab, und er
kehrte in die Sakristei zurück.

Wieder wanderte er rastlos auf und nieder. Er hatte sie alle gesehen — die
Gesichter. Ihm zunächst Madame Foksens strenge, stahlgraue Augen. Aber auch
die andern, die Frauen, die Männer, die jungen Mädchen. Alle Augen stachen
wie Nadeln.

Er zog das Konzept zu seiner Predigt aus der Tasche und versuchte zu
lesen. Und er las und wanderte auf und nieder. Abermals öffnete er den
Schrank. Und beugte sich hastig nach der Flasche nieder und trank.

Während sich der Gesang da drinnen langsam durch die vielen Verse des
Kirchenlieds hindnrchwcmd.

Bei dein letzten Vers schloß er den Schrank ab. Er trocknete den Schweiß
von der Stirn und atmete tief auf.

Dann ging er hinein, und die Treppe zur Kanzel hinauf.

Lange stand er da oben, über die gefalteten Hände anf dem Vetpult gebeugt.

Dann erhob er den Kopf. Mit einem Blick begegnete er allen den vielen
Blicken da unten, und er fühlte, wie ihn eine Kraft, befreit und hoch, durchsauste.
Er warf den Kopf zurück. . .

„Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet..."

Es war das Sonntagsevangelium von der Bergpredigt.

Seine Stimme schallte — und das Konzept auf dem Pult blieb unbeachtet
liegen.

Es war lange her, daß die Gemeinde ihren Pfarrer so hatte reden hören
wie heute, wo seine Rede Macht und Feuer besaß wie in früheren Zeiten. Wieder
bezwang er aller Sinne, und die gebrechliche Kirche schien zu zittern...

Er beschloß seine Rede und ging.

Das letzte, was er sah, waren ThorborgS große, dunkle Augen, die an den
seineu hingen — strahlend.

Und er wußte, das; sie ihm ihren glühenden Dank sandte, weil er sich selbst
und sie gerechtfertigt hatte — hoch über allen Köpfen, über Kleinlichkeit und
niedrigen Gedanken.

In der Sakristei sank er auf dem Stuhl zusammen.

Die Gesänge wurden gesungen und er verrichtete das Ritual wie immer.
Aber man hörte ihm an, daß er müde war.

Endlich war der Gottesdienst beendet. Die meisten Männer verließen die
Kirche. Aber die Frauen blieben zurück.

Und der Pfarrer trat wieder in die Kirche, um die Taufen zu verrichten.

Zwischen den Gevattern stellten sich Herr Fotsen und Anton Just auf. Neben
Thorborg stand Jonina.

Mit erneuter Kraft und Innigkeit hielt der Pfarrer seine Rede. Er war
selber stark bewegt, und die Frauen weinten.

Da waren noch drei andere Täuflinge, und er winkte sie zuerst heran.

Endlich stand Thorborg mit dem Kinde vor ihm. Aus ihren Augen fielen
Tränen, und die Stimme deS Pfarrers zitterte. . .

„Wie soll das Kind heißen?"

Leise, so daß niemand es hörte, antwortete sie:


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[0280] Im Kampf gegen die Übermacht Den Rücken der Gemeinde zugekehrt, verrichtete er die Liturgie. Leise und undeutlich. Aber als er sich umwandte und die Epistel verlas, lag Kraft in seiner Stimme. Seine Augen fanden Thorbvrg und noch stärker tönten die Worte durch die Kirche. . . Der Küster nahm ihm den Samtüberwurf und das Meßhemd ab, und er kehrte in die Sakristei zurück. Wieder wanderte er rastlos auf und nieder. Er hatte sie alle gesehen — die Gesichter. Ihm zunächst Madame Foksens strenge, stahlgraue Augen. Aber auch die andern, die Frauen, die Männer, die jungen Mädchen. Alle Augen stachen wie Nadeln. Er zog das Konzept zu seiner Predigt aus der Tasche und versuchte zu lesen. Und er las und wanderte auf und nieder. Abermals öffnete er den Schrank. Und beugte sich hastig nach der Flasche nieder und trank. Während sich der Gesang da drinnen langsam durch die vielen Verse des Kirchenlieds hindnrchwcmd. Bei dein letzten Vers schloß er den Schrank ab. Er trocknete den Schweiß von der Stirn und atmete tief auf. Dann ging er hinein, und die Treppe zur Kanzel hinauf. Lange stand er da oben, über die gefalteten Hände anf dem Vetpult gebeugt. Dann erhob er den Kopf. Mit einem Blick begegnete er allen den vielen Blicken da unten, und er fühlte, wie ihn eine Kraft, befreit und hoch, durchsauste. Er warf den Kopf zurück. . . „Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet..." Es war das Sonntagsevangelium von der Bergpredigt. Seine Stimme schallte — und das Konzept auf dem Pult blieb unbeachtet liegen. Es war lange her, daß die Gemeinde ihren Pfarrer so hatte reden hören wie heute, wo seine Rede Macht und Feuer besaß wie in früheren Zeiten. Wieder bezwang er aller Sinne, und die gebrechliche Kirche schien zu zittern... Er beschloß seine Rede und ging. Das letzte, was er sah, waren ThorborgS große, dunkle Augen, die an den seineu hingen — strahlend. Und er wußte, das; sie ihm ihren glühenden Dank sandte, weil er sich selbst und sie gerechtfertigt hatte — hoch über allen Köpfen, über Kleinlichkeit und niedrigen Gedanken. In der Sakristei sank er auf dem Stuhl zusammen. Die Gesänge wurden gesungen und er verrichtete das Ritual wie immer. Aber man hörte ihm an, daß er müde war. Endlich war der Gottesdienst beendet. Die meisten Männer verließen die Kirche. Aber die Frauen blieben zurück. Und der Pfarrer trat wieder in die Kirche, um die Taufen zu verrichten. Zwischen den Gevattern stellten sich Herr Fotsen und Anton Just auf. Neben Thorborg stand Jonina. Mit erneuter Kraft und Innigkeit hielt der Pfarrer seine Rede. Er war selber stark bewegt, und die Frauen weinten. Da waren noch drei andere Täuflinge, und er winkte sie zuerst heran. Endlich stand Thorborg mit dem Kinde vor ihm. Aus ihren Augen fielen Tränen, und die Stimme deS Pfarrers zitterte. . . „Wie soll das Kind heißen?" Leise, so daß niemand es hörte, antwortete sie:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/280>, abgerufen am 26.06.2024.