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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Das Aastensystem Indiens, sein Wesen und seine Bekämpfung

ist, mit den ergreifenden Worten: "Die Parias besitzen gegenwärtig entartete,
übelriechende Körper, weil sie Generationen hindurch von schlechten Nahrungs¬
stoffen und Getränken gelebt haben. Es werden mehrere Menschenalter besserer
Nahrung und besserer Daseinsbedingungen nötig sein, bis sie diese körperlichen
Eigentümlichkeiten verlieren und bis es so überhaupt möglich sein wird, sie mit
anderen Menschen zusammenwohnen zu lassen und ihre Kinder in die gleichen
Schulen wie die Kinder der anderen Inder aufzunehmen." In der Kasten-
ordmmg mit ihrer Tendenz zur Inzucht durch endogame Ehegesetze wurzelt
ferner das System der Kinderchen, einer zweiten Hauptursache der Volks¬
entartung; denn infolge dieser Unsitte werden jährlich Hunderttausende schwäch¬
liche Menschenwesen in die Welt gesetzt, denen jedes Rüstzeug zum Kampf ums
Dasein schon von Geburt an fehlt und deren Eltern gänzlich unfähig sind, für
genügende Ernährung und Erziehung zu sorgen. Endlich ist klar, daß, solange
der Kastenzwang besteht, der keine freie Bewegung des Individuums duldet
und die gewerbliche Tätigkeit in unzählige kleinste und zusammenhanglose Zirkel
zersplittert und einschrumpfen läßt, an eine großzügige, moderne industrielle
Entwicklung des Landes nicht zu denken, und daß damit der Weg abgeschnitten
ist, durch Schaffung neuer Erwerbszweige der darbenden Volksmasse neue
Nahrungsquellen und Wirtschaftskräfte zuzuführen.

Die Urteile über die Tätigkeit der britischen Regierung zur Bekämpfung
der sozialen Not Indiens, die in der Welt ihresgleichen nicht hat,
schwanken zwischen höchstem Lob und absprechendster Verurteilung. Eine
unparteiische Kritik muß zugeben, daß England mit ungemeiner Zähigkeit und
Energie reformatorisch sich betätigt hat, kann dabei aber doch nicht verkennen,
daß im Grunde alle seine Anstrengungen umsonst gewesen sind oder doch
wenigstens keinen irgendwie durchschlagenden Erfolg gehabt haben. Die immer
wiederkehrenden furchtbaren Hungersnöte, die Verheerungen, die Pest und andere
Seuchen periodisch anrichten, die englische Statistik selbst, die feststellt, daß sogar
in guten Erntejahren auf den Kopf der Bevölkerung nur ein Ertrag von
17 Rupien (21,25 Mark) entfällt, daß der durchschnittliche Monatsverdienst
eines gewöhnlichen Ryve (Bauern) 12 Rupien nicht übersteigt, während die auf
den Kopf der Bevölkerung berechnete Steuerlast 3 Rupien beträgt, zeigen das
mit unzweideutiger Schärfe und lassen es sehr zweifelhaft erscheinen, ob das
Volk deu europäischen Herren irgendwelche Besserung der Lebensverhältnisse zu
verdanken hat. Das Versagen aller operativen Eingriffe Englands motiviert
sich nach dem Gesagten leicht. Es wird zunächst schon durch die Ungleichheit
der dynamischen Faktoren bedingt: was kann alle Hilfstätigkeit des Fabricius
Briten gegenüber dem Elend einer solchen Riesenmassen Enterbter bedeuten?
Sodann dringt England bei seinen Neformversuchen offenbar gar nicht
bis zu dem Schwerpunkt vor, wo allein der Hebel zu einer gründlichen
Umformung der Zustände angesetzt werden könnte. Ohne den Sturz der Kasten¬
despotie und ihrer dissozialen Zwangsgesetze wird der Kalvariengang des


Das Aastensystem Indiens, sein Wesen und seine Bekämpfung

ist, mit den ergreifenden Worten: „Die Parias besitzen gegenwärtig entartete,
übelriechende Körper, weil sie Generationen hindurch von schlechten Nahrungs¬
stoffen und Getränken gelebt haben. Es werden mehrere Menschenalter besserer
Nahrung und besserer Daseinsbedingungen nötig sein, bis sie diese körperlichen
Eigentümlichkeiten verlieren und bis es so überhaupt möglich sein wird, sie mit
anderen Menschen zusammenwohnen zu lassen und ihre Kinder in die gleichen
Schulen wie die Kinder der anderen Inder aufzunehmen." In der Kasten-
ordmmg mit ihrer Tendenz zur Inzucht durch endogame Ehegesetze wurzelt
ferner das System der Kinderchen, einer zweiten Hauptursache der Volks¬
entartung; denn infolge dieser Unsitte werden jährlich Hunderttausende schwäch¬
liche Menschenwesen in die Welt gesetzt, denen jedes Rüstzeug zum Kampf ums
Dasein schon von Geburt an fehlt und deren Eltern gänzlich unfähig sind, für
genügende Ernährung und Erziehung zu sorgen. Endlich ist klar, daß, solange
der Kastenzwang besteht, der keine freie Bewegung des Individuums duldet
und die gewerbliche Tätigkeit in unzählige kleinste und zusammenhanglose Zirkel
zersplittert und einschrumpfen läßt, an eine großzügige, moderne industrielle
Entwicklung des Landes nicht zu denken, und daß damit der Weg abgeschnitten
ist, durch Schaffung neuer Erwerbszweige der darbenden Volksmasse neue
Nahrungsquellen und Wirtschaftskräfte zuzuführen.

Die Urteile über die Tätigkeit der britischen Regierung zur Bekämpfung
der sozialen Not Indiens, die in der Welt ihresgleichen nicht hat,
schwanken zwischen höchstem Lob und absprechendster Verurteilung. Eine
unparteiische Kritik muß zugeben, daß England mit ungemeiner Zähigkeit und
Energie reformatorisch sich betätigt hat, kann dabei aber doch nicht verkennen,
daß im Grunde alle seine Anstrengungen umsonst gewesen sind oder doch
wenigstens keinen irgendwie durchschlagenden Erfolg gehabt haben. Die immer
wiederkehrenden furchtbaren Hungersnöte, die Verheerungen, die Pest und andere
Seuchen periodisch anrichten, die englische Statistik selbst, die feststellt, daß sogar
in guten Erntejahren auf den Kopf der Bevölkerung nur ein Ertrag von
17 Rupien (21,25 Mark) entfällt, daß der durchschnittliche Monatsverdienst
eines gewöhnlichen Ryve (Bauern) 12 Rupien nicht übersteigt, während die auf
den Kopf der Bevölkerung berechnete Steuerlast 3 Rupien beträgt, zeigen das
mit unzweideutiger Schärfe und lassen es sehr zweifelhaft erscheinen, ob das
Volk deu europäischen Herren irgendwelche Besserung der Lebensverhältnisse zu
verdanken hat. Das Versagen aller operativen Eingriffe Englands motiviert
sich nach dem Gesagten leicht. Es wird zunächst schon durch die Ungleichheit
der dynamischen Faktoren bedingt: was kann alle Hilfstätigkeit des Fabricius
Briten gegenüber dem Elend einer solchen Riesenmassen Enterbter bedeuten?
Sodann dringt England bei seinen Neformversuchen offenbar gar nicht
bis zu dem Schwerpunkt vor, wo allein der Hebel zu einer gründlichen
Umformung der Zustände angesetzt werden könnte. Ohne den Sturz der Kasten¬
despotie und ihrer dissozialen Zwangsgesetze wird der Kalvariengang des


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[0272] Das Aastensystem Indiens, sein Wesen und seine Bekämpfung ist, mit den ergreifenden Worten: „Die Parias besitzen gegenwärtig entartete, übelriechende Körper, weil sie Generationen hindurch von schlechten Nahrungs¬ stoffen und Getränken gelebt haben. Es werden mehrere Menschenalter besserer Nahrung und besserer Daseinsbedingungen nötig sein, bis sie diese körperlichen Eigentümlichkeiten verlieren und bis es so überhaupt möglich sein wird, sie mit anderen Menschen zusammenwohnen zu lassen und ihre Kinder in die gleichen Schulen wie die Kinder der anderen Inder aufzunehmen." In der Kasten- ordmmg mit ihrer Tendenz zur Inzucht durch endogame Ehegesetze wurzelt ferner das System der Kinderchen, einer zweiten Hauptursache der Volks¬ entartung; denn infolge dieser Unsitte werden jährlich Hunderttausende schwäch¬ liche Menschenwesen in die Welt gesetzt, denen jedes Rüstzeug zum Kampf ums Dasein schon von Geburt an fehlt und deren Eltern gänzlich unfähig sind, für genügende Ernährung und Erziehung zu sorgen. Endlich ist klar, daß, solange der Kastenzwang besteht, der keine freie Bewegung des Individuums duldet und die gewerbliche Tätigkeit in unzählige kleinste und zusammenhanglose Zirkel zersplittert und einschrumpfen läßt, an eine großzügige, moderne industrielle Entwicklung des Landes nicht zu denken, und daß damit der Weg abgeschnitten ist, durch Schaffung neuer Erwerbszweige der darbenden Volksmasse neue Nahrungsquellen und Wirtschaftskräfte zuzuführen. Die Urteile über die Tätigkeit der britischen Regierung zur Bekämpfung der sozialen Not Indiens, die in der Welt ihresgleichen nicht hat, schwanken zwischen höchstem Lob und absprechendster Verurteilung. Eine unparteiische Kritik muß zugeben, daß England mit ungemeiner Zähigkeit und Energie reformatorisch sich betätigt hat, kann dabei aber doch nicht verkennen, daß im Grunde alle seine Anstrengungen umsonst gewesen sind oder doch wenigstens keinen irgendwie durchschlagenden Erfolg gehabt haben. Die immer wiederkehrenden furchtbaren Hungersnöte, die Verheerungen, die Pest und andere Seuchen periodisch anrichten, die englische Statistik selbst, die feststellt, daß sogar in guten Erntejahren auf den Kopf der Bevölkerung nur ein Ertrag von 17 Rupien (21,25 Mark) entfällt, daß der durchschnittliche Monatsverdienst eines gewöhnlichen Ryve (Bauern) 12 Rupien nicht übersteigt, während die auf den Kopf der Bevölkerung berechnete Steuerlast 3 Rupien beträgt, zeigen das mit unzweideutiger Schärfe und lassen es sehr zweifelhaft erscheinen, ob das Volk deu europäischen Herren irgendwelche Besserung der Lebensverhältnisse zu verdanken hat. Das Versagen aller operativen Eingriffe Englands motiviert sich nach dem Gesagten leicht. Es wird zunächst schon durch die Ungleichheit der dynamischen Faktoren bedingt: was kann alle Hilfstätigkeit des Fabricius Briten gegenüber dem Elend einer solchen Riesenmassen Enterbter bedeuten? Sodann dringt England bei seinen Neformversuchen offenbar gar nicht bis zu dem Schwerpunkt vor, wo allein der Hebel zu einer gründlichen Umformung der Zustände angesetzt werden könnte. Ohne den Sturz der Kasten¬ despotie und ihrer dissozialen Zwangsgesetze wird der Kalvariengang des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/272>, abgerufen am 26.06.2024.