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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Das Rastensystem Indiens, sein !vnsen und seine Bekämpfung

und jetzt erst nun den grausame Strafen über die Übertreter solcher Gebote
verhängt.

Drei Faktoren sind es also, die vorzüglich als Antriebskräfte der Kasten¬
bildung gewirkt haben: Nassenpolitik, Standesstolz, hierarchischer Dogmatismus.
Durch das Zusammen- und Durcheinanderwirken dieser Energien entstand ein
Abkavselungssystem, das sich in unendlich vielen Kombinationen fortsetzte, bis
die Gesellschaft zu kleinsten Splittern atomisiert war. Hier nur ein theoretisches
Beispiel, das ein ungefähres Bild der unzähligen Möglichkeiten solcher Abschnürungs-
prozesse geben dürfte. Ein Teil der Angehörigen einer Kreuzungskaste zieht
nach anderen Wohnsitzen mit günstigeren Wirtschaftsbedingungen; es bildet sich
eine Abwanderungskaste. Die Ankömmlinge werden in dem fremden Land mit
einer religiösen Reformbewegung vertraut und ein weiterer Teil splittert sich
als konfessionelle Kaste ab. Die neuen dogmatischen Anschauungen haben wieder
zur Folge, daß sich die Ansichten über Ehegesetze, etwa über die Wieder¬
verheiratung der Witwen, ändern, und der Streit hierüber gibt den Anstoß zu
einer dritten Absonderung. In der so entstandenen neuen Gruppe überwiegt
ein einzelner Beruf, etwa der priesterliche*), was diesen veranlaßt, wiederum
eine Unterkaste zu bilden. So erst, dnrch einen Einblick in die Wirrnis der
Entwicklung und der unermeßlichen Vielgestaltigkeit des Kastenwesens, wird eine
zutreffende Würdigung seiner gegenwärtigen politischen Bedeutung möglich. Auf
der einen Seite erkennt man, wie die Kaste mit allen, nicht nur den wirt¬
schaftlichen, sondern auch den religiösen, sittlichen, rechtlichen, gesellschaftlichen
Lebensformen des indischen Volks aufs innigste verflochten ist, so daß ohne
Übertreibung gesagt werden kann, sie sei der Käfig, in dem Körper und Geist
jedes einzelnen Inders von der Wiege bis zum Grabe eingeschlossen ist. Auf
der anderen Seite ist aber eben diese diktatorische Macht zweifellos die Haupt¬
ursache all des namenlosen sozialen Elends, das am Mark des indischen Staats¬
wesens zehrt. In den europäischen Wirtschaftsgebieten bildet die unterste Volks¬
schicht ein zahlreiches Proletariat, dessen Daseinsbedingungen sich an der Grenze
menschenwürdigen Daseins bewegen. Und doch erscheint diese tiefe Wunde am
gesellschaftlichen Organismus des Westens fast winzig gegenüber dem Umfang
und dem Grad der Verelendung, in der die Hefe des indischen Volks, die
Parias, leben. Denn diese Gruppe der Ausgestoßenen, die sich bekanntlich aus
den Angehörigen unterworfener Stämme und aus solchen Personen zusammen¬
setzt, die aus einer Kaste wegen irgendeines Vergehens ausgeschlossen wurden,
umfaßt angeblich nicht weniger als sechzig Millionen Menschen, also ungefähr so viel,
als das Deutsche Reich Einwohner zählt, und den Abgrund der Not, in den: dies
Riesenheer der Enterbten dahinvegetiert, schildert die Theosophin Mrs. Besant,
die durch ihre Wohltätigkeitsarbeit mit dessen Lebenshaltung vertraut wie wenige



") Entgegen landläufiger Anschauung sind gerade die Brahmanenlnsten selten "rein"!
von den Brahmnnen Bengalens z. B. üben nur 17, von denen Bihars sogar nur 8 Prozeui
priesterliche Funktionen ans.
Das Rastensystem Indiens, sein !vnsen und seine Bekämpfung

und jetzt erst nun den grausame Strafen über die Übertreter solcher Gebote
verhängt.

Drei Faktoren sind es also, die vorzüglich als Antriebskräfte der Kasten¬
bildung gewirkt haben: Nassenpolitik, Standesstolz, hierarchischer Dogmatismus.
Durch das Zusammen- und Durcheinanderwirken dieser Energien entstand ein
Abkavselungssystem, das sich in unendlich vielen Kombinationen fortsetzte, bis
die Gesellschaft zu kleinsten Splittern atomisiert war. Hier nur ein theoretisches
Beispiel, das ein ungefähres Bild der unzähligen Möglichkeiten solcher Abschnürungs-
prozesse geben dürfte. Ein Teil der Angehörigen einer Kreuzungskaste zieht
nach anderen Wohnsitzen mit günstigeren Wirtschaftsbedingungen; es bildet sich
eine Abwanderungskaste. Die Ankömmlinge werden in dem fremden Land mit
einer religiösen Reformbewegung vertraut und ein weiterer Teil splittert sich
als konfessionelle Kaste ab. Die neuen dogmatischen Anschauungen haben wieder
zur Folge, daß sich die Ansichten über Ehegesetze, etwa über die Wieder¬
verheiratung der Witwen, ändern, und der Streit hierüber gibt den Anstoß zu
einer dritten Absonderung. In der so entstandenen neuen Gruppe überwiegt
ein einzelner Beruf, etwa der priesterliche*), was diesen veranlaßt, wiederum
eine Unterkaste zu bilden. So erst, dnrch einen Einblick in die Wirrnis der
Entwicklung und der unermeßlichen Vielgestaltigkeit des Kastenwesens, wird eine
zutreffende Würdigung seiner gegenwärtigen politischen Bedeutung möglich. Auf
der einen Seite erkennt man, wie die Kaste mit allen, nicht nur den wirt¬
schaftlichen, sondern auch den religiösen, sittlichen, rechtlichen, gesellschaftlichen
Lebensformen des indischen Volks aufs innigste verflochten ist, so daß ohne
Übertreibung gesagt werden kann, sie sei der Käfig, in dem Körper und Geist
jedes einzelnen Inders von der Wiege bis zum Grabe eingeschlossen ist. Auf
der anderen Seite ist aber eben diese diktatorische Macht zweifellos die Haupt¬
ursache all des namenlosen sozialen Elends, das am Mark des indischen Staats¬
wesens zehrt. In den europäischen Wirtschaftsgebieten bildet die unterste Volks¬
schicht ein zahlreiches Proletariat, dessen Daseinsbedingungen sich an der Grenze
menschenwürdigen Daseins bewegen. Und doch erscheint diese tiefe Wunde am
gesellschaftlichen Organismus des Westens fast winzig gegenüber dem Umfang
und dem Grad der Verelendung, in der die Hefe des indischen Volks, die
Parias, leben. Denn diese Gruppe der Ausgestoßenen, die sich bekanntlich aus
den Angehörigen unterworfener Stämme und aus solchen Personen zusammen¬
setzt, die aus einer Kaste wegen irgendeines Vergehens ausgeschlossen wurden,
umfaßt angeblich nicht weniger als sechzig Millionen Menschen, also ungefähr so viel,
als das Deutsche Reich Einwohner zählt, und den Abgrund der Not, in den: dies
Riesenheer der Enterbten dahinvegetiert, schildert die Theosophin Mrs. Besant,
die durch ihre Wohltätigkeitsarbeit mit dessen Lebenshaltung vertraut wie wenige



") Entgegen landläufiger Anschauung sind gerade die Brahmanenlnsten selten „rein"!
von den Brahmnnen Bengalens z. B. üben nur 17, von denen Bihars sogar nur 8 Prozeui
priesterliche Funktionen ans.
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[0271] Das Rastensystem Indiens, sein !vnsen und seine Bekämpfung und jetzt erst nun den grausame Strafen über die Übertreter solcher Gebote verhängt. Drei Faktoren sind es also, die vorzüglich als Antriebskräfte der Kasten¬ bildung gewirkt haben: Nassenpolitik, Standesstolz, hierarchischer Dogmatismus. Durch das Zusammen- und Durcheinanderwirken dieser Energien entstand ein Abkavselungssystem, das sich in unendlich vielen Kombinationen fortsetzte, bis die Gesellschaft zu kleinsten Splittern atomisiert war. Hier nur ein theoretisches Beispiel, das ein ungefähres Bild der unzähligen Möglichkeiten solcher Abschnürungs- prozesse geben dürfte. Ein Teil der Angehörigen einer Kreuzungskaste zieht nach anderen Wohnsitzen mit günstigeren Wirtschaftsbedingungen; es bildet sich eine Abwanderungskaste. Die Ankömmlinge werden in dem fremden Land mit einer religiösen Reformbewegung vertraut und ein weiterer Teil splittert sich als konfessionelle Kaste ab. Die neuen dogmatischen Anschauungen haben wieder zur Folge, daß sich die Ansichten über Ehegesetze, etwa über die Wieder¬ verheiratung der Witwen, ändern, und der Streit hierüber gibt den Anstoß zu einer dritten Absonderung. In der so entstandenen neuen Gruppe überwiegt ein einzelner Beruf, etwa der priesterliche*), was diesen veranlaßt, wiederum eine Unterkaste zu bilden. So erst, dnrch einen Einblick in die Wirrnis der Entwicklung und der unermeßlichen Vielgestaltigkeit des Kastenwesens, wird eine zutreffende Würdigung seiner gegenwärtigen politischen Bedeutung möglich. Auf der einen Seite erkennt man, wie die Kaste mit allen, nicht nur den wirt¬ schaftlichen, sondern auch den religiösen, sittlichen, rechtlichen, gesellschaftlichen Lebensformen des indischen Volks aufs innigste verflochten ist, so daß ohne Übertreibung gesagt werden kann, sie sei der Käfig, in dem Körper und Geist jedes einzelnen Inders von der Wiege bis zum Grabe eingeschlossen ist. Auf der anderen Seite ist aber eben diese diktatorische Macht zweifellos die Haupt¬ ursache all des namenlosen sozialen Elends, das am Mark des indischen Staats¬ wesens zehrt. In den europäischen Wirtschaftsgebieten bildet die unterste Volks¬ schicht ein zahlreiches Proletariat, dessen Daseinsbedingungen sich an der Grenze menschenwürdigen Daseins bewegen. Und doch erscheint diese tiefe Wunde am gesellschaftlichen Organismus des Westens fast winzig gegenüber dem Umfang und dem Grad der Verelendung, in der die Hefe des indischen Volks, die Parias, leben. Denn diese Gruppe der Ausgestoßenen, die sich bekanntlich aus den Angehörigen unterworfener Stämme und aus solchen Personen zusammen¬ setzt, die aus einer Kaste wegen irgendeines Vergehens ausgeschlossen wurden, umfaßt angeblich nicht weniger als sechzig Millionen Menschen, also ungefähr so viel, als das Deutsche Reich Einwohner zählt, und den Abgrund der Not, in den: dies Riesenheer der Enterbten dahinvegetiert, schildert die Theosophin Mrs. Besant, die durch ihre Wohltätigkeitsarbeit mit dessen Lebenshaltung vertraut wie wenige ") Entgegen landläufiger Anschauung sind gerade die Brahmanenlnsten selten „rein"! von den Brahmnnen Bengalens z. B. üben nur 17, von denen Bihars sogar nur 8 Prozeui priesterliche Funktionen ans.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/271>, abgerufen am 26.06.2024.