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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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T>as Rastensystem Indiens, sein Jochen und seine Bekämpfung

indischen Volks niemals ein Ende nehmen. Gerade England hat aber um der
Erhaltung der eigenen Herrschaft willen das größte Interesse daran, daß dies
Netz, in dein Indien sich selbst politisch gefangen hält, uicht zerrissen wird.

Der Organismus des indischen Staats übt, trotz seinem ungelenken und
unharmonischen Gefüge, durch seine Masse und Eigenschwere eine solche Abstoßungs¬
kraft aus, daß jeder Versuch, vou außen her auf seine Funktionen regulierend
einzuwirken, scheitern muß. Die Umbildung und Gesundung kann nur von
innen heraus, aus der Seele des Volks, kommen. Eine solche Gärung hat
nnn tatsächlich, vom Westen wenig beachtet, schon in den zwanziger Jahren des
vorigen Jahrhunderts eingesetzt und ist seitdem von Jahrzehnt zu Jahrzehnt zu
immer gewaltigerer geistiger Erneuerungsmacht angewachsen. Ihrem Gesamt-
charaktcr nach könnte sie als religiöser Sozialismus bezeichnet werden. Der
dogmatische Neformgedanke ist auf das Ziel gerichtet, die ursprüngliche
brahmanische Lehre von allen späteren Zutaten, künstlichen Auslegungen und
Verzerrungen zu befreien, die hoheitsvollen Gesetze der alten Veden in Ehren
einzusetzen und durch Säuberung des Götterhimmels von allen mythologischen
und synibolischen Gestalten den reinen Pantheismus wiederherzustellen. Da die
alten Texte das Kastenwesen nicht kennen, so ergab sich aus diesen puristischen
Bestrebungen ganz von selbst der Wille, auch mit dieser Einrichtung, auf die
sich die Macht der heutigen Orthodoxie stützt, aufzuräumen. Am rücksichts¬
losesten ging Rammohun Roi, der Schrittmacher der ganzen Bewegung und
Gründer der Brahnw-Samadsch"), vor. Er war ein glühender Verehrer des
westlichen Demokratismus und wollte die indische Gesellschaft ganz nach dessen
freiheitlichen Vorbild umformen. Indessen fand diese radikale Richtung nur
bei der indischen Intelligenz Beifall; als Erwecker der Volksmassen ist Rammohun
Roi bei weitem Swami Djanard Saraswati, dem Begründer der Uria-Samadsch,
überlegen, deren festes Fundament der Nationalstolz des arischen Herrenvolks
ist, und die zwar gleichfalls für die Ideen des westlichen Liberalismus sich ein¬
setzte, diese aber aus der alten Vedantaphilosophie heraus entwickeln will, um
so ein modernes fortschrittliches und doch fest im Boden Indiens und seiner
Eigenart wurzeludes Staatswesen aufzubauen. Eine dritte von Swami
Vivekananda gegründete Reformgemeinde, die Ramakrischna - Mission, war
ursprünglich nichts als eine reaktionäre Rückflutung, die die streng orthodoxe
und konservative Partei den neuerem entgegenstellte. Sehr bald brach jedoch
der moderne, alles durchsäuernde Geist auch in diese Feste sich Bresche, und
zwar namentlich dank der Bemühungen des hochangesehenen Philosophen
Tripathi. Der vor zwei Jahren gestorbene "Weise von Indien" war Eklektiker.
Er erstrebte in tiefsinniger Begründung eine Versöhnung der Prinzipien des
westlichen Demokratismus und des indischen Aristokratismus, indem er beide
Gegensätze ans die Antithese der Lamarckschen und Darwinschen Entwicklungs-



Samndsch-Gemeinde,
T>as Rastensystem Indiens, sein Jochen und seine Bekämpfung

indischen Volks niemals ein Ende nehmen. Gerade England hat aber um der
Erhaltung der eigenen Herrschaft willen das größte Interesse daran, daß dies
Netz, in dein Indien sich selbst politisch gefangen hält, uicht zerrissen wird.

Der Organismus des indischen Staats übt, trotz seinem ungelenken und
unharmonischen Gefüge, durch seine Masse und Eigenschwere eine solche Abstoßungs¬
kraft aus, daß jeder Versuch, vou außen her auf seine Funktionen regulierend
einzuwirken, scheitern muß. Die Umbildung und Gesundung kann nur von
innen heraus, aus der Seele des Volks, kommen. Eine solche Gärung hat
nnn tatsächlich, vom Westen wenig beachtet, schon in den zwanziger Jahren des
vorigen Jahrhunderts eingesetzt und ist seitdem von Jahrzehnt zu Jahrzehnt zu
immer gewaltigerer geistiger Erneuerungsmacht angewachsen. Ihrem Gesamt-
charaktcr nach könnte sie als religiöser Sozialismus bezeichnet werden. Der
dogmatische Neformgedanke ist auf das Ziel gerichtet, die ursprüngliche
brahmanische Lehre von allen späteren Zutaten, künstlichen Auslegungen und
Verzerrungen zu befreien, die hoheitsvollen Gesetze der alten Veden in Ehren
einzusetzen und durch Säuberung des Götterhimmels von allen mythologischen
und synibolischen Gestalten den reinen Pantheismus wiederherzustellen. Da die
alten Texte das Kastenwesen nicht kennen, so ergab sich aus diesen puristischen
Bestrebungen ganz von selbst der Wille, auch mit dieser Einrichtung, auf die
sich die Macht der heutigen Orthodoxie stützt, aufzuräumen. Am rücksichts¬
losesten ging Rammohun Roi, der Schrittmacher der ganzen Bewegung und
Gründer der Brahnw-Samadsch"), vor. Er war ein glühender Verehrer des
westlichen Demokratismus und wollte die indische Gesellschaft ganz nach dessen
freiheitlichen Vorbild umformen. Indessen fand diese radikale Richtung nur
bei der indischen Intelligenz Beifall; als Erwecker der Volksmassen ist Rammohun
Roi bei weitem Swami Djanard Saraswati, dem Begründer der Uria-Samadsch,
überlegen, deren festes Fundament der Nationalstolz des arischen Herrenvolks
ist, und die zwar gleichfalls für die Ideen des westlichen Liberalismus sich ein¬
setzte, diese aber aus der alten Vedantaphilosophie heraus entwickeln will, um
so ein modernes fortschrittliches und doch fest im Boden Indiens und seiner
Eigenart wurzeludes Staatswesen aufzubauen. Eine dritte von Swami
Vivekananda gegründete Reformgemeinde, die Ramakrischna - Mission, war
ursprünglich nichts als eine reaktionäre Rückflutung, die die streng orthodoxe
und konservative Partei den neuerem entgegenstellte. Sehr bald brach jedoch
der moderne, alles durchsäuernde Geist auch in diese Feste sich Bresche, und
zwar namentlich dank der Bemühungen des hochangesehenen Philosophen
Tripathi. Der vor zwei Jahren gestorbene „Weise von Indien" war Eklektiker.
Er erstrebte in tiefsinniger Begründung eine Versöhnung der Prinzipien des
westlichen Demokratismus und des indischen Aristokratismus, indem er beide
Gegensätze ans die Antithese der Lamarckschen und Darwinschen Entwicklungs-



Samndsch-Gemeinde,
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/273>, abgerufen am 26.06.2024.