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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Das Rastcnsystem Indiens, sei" Jochen und seine Bekämpfung

Nationalität hin etwa sich äußern: Ich gehöre der Sloanischen Schneidergilde
von Kalkutta an, oder: ich bin von der wischnuitischen Goldschmiedeinnung in
Madras. Mit anderen Worten: der Kastengeist hat alles nationale Empfinden
und damit jedes die Fremdherrschaft spontan zurückweisende patriotische Ein-
heitsgeftihl bei den Eingeborenen ertötet.

Mit der Zähigkeit marktgängig gewordener Ware hat sich bis auf den
heutigen Tag die der Brahmcmentheorie entlehnte irrtümliche Vorstellung vom
Kastenwesen als einer Vierteilung des indischen Volks in die Kasten der Priester,
Krieger, Landbebauer und Parias erhalten. In Wirklichkeit handelt es sich bei
der Kastenordnung um eine unendlich vielfach und fein verästelte Gliederung
und Differenzierung der Gesellschaft in kleine Einheiten, in Körperschaften, die
nach der Erklärung Senarts "mit einer gewissen überlieferten Organisation,
mit einem Oberhaupt und einem Rat ausgestattet sind, deren Mitgliedschaft
erblich ist, also nicht durch Zufall oder freie Wahl, sondern durch die Geburt
erworben wird, die gemeinsame, insbesondere auf die Heirat, Nahrung, den
Beruf bezügliche Gebräuche ausüben und die schließlich mit einer Gerichtsbarkeit
ausgestattet sind, kraft deren sie, namentlich durch das Mittel der Ausschließung,
ihre Autorität nach außen hin wahren und wirksam machen". Es gibt also
nicht vier Kasten, sondern Tausende von Kasten, und alle diese kleinen Mosaik¬
steine des indischen Volks sind nicht etwa, wie nach der brahmanischen .Klassi¬
fizierung anzunehmen wäre, durch Standesbewußtsein zu größeren Einheiten
verbunden, werden vielmehr dnrch gesellschaftliche Abschattierungen aufs schärfste
voneinander getrennt: der stolze Priester von Benares würde z. B. lieber den
^Hungertod erleiden als eine Speise von dem verachteten, halbnackten, in den
Niederungen des Sindar Kartoffeln bauenden Brahmanen annehmen. Und
endlich ist wiederum die Vorstellung unzutreffend, daß das Bindemittel der
einzelnen Kastensplitter stets die gleiche Berufstätigkeit sei. Es ist zwar richtig,
daß der sogenannte funktionelle, der berufliche Typ der Kaste am weitesten
verbreitet ist. Daneben besteht aber eine ganze Reihe anderer einflußreicher Typen,
so z. B. die konfessionelle (sektarianische) Kaste, die Abwanderungs-
(Emigrations-) Kaste, die Krenzuugskaste usw. Das Kastenwesen stellt so einen
allen seinen Abmessungen, Formen, elementaren Bestandteilen nach äußerst
komplizierten Organismus dar, dessen Wesen und Bedeutung nicht verständlich
ist ohne Untersuchung des Bodens, aus dem er die Triebkräfte dieser mysteriösen
und gigantischen Entfaltung gesogen hat.

Von den vielen Hypothesen/die die Entstehung des indischen Kastenwesens
zu erklären suchen, wird nur eine dessen Charaktereigenart gerecht und gewinnt
daher immer mehr Anerkennung: die von H. H. Risley aufgestellte. Risley
sieht als Ursprung der gesellschaftlichen Abtrennung den Rassengegensatz an.
Herrenvölker, die erobernd in ein fremdes Land eindrangen, haben von jeher
sich vor der Verschmelzung mit den in ihren Augen minderwertigen Angehörigen
der besiegten Rassen dadurch zu schützen gesucht, daß sie ihren Söhnen und


Grenzboten II 1910 32
Das Rastcnsystem Indiens, sei» Jochen und seine Bekämpfung

Nationalität hin etwa sich äußern: Ich gehöre der Sloanischen Schneidergilde
von Kalkutta an, oder: ich bin von der wischnuitischen Goldschmiedeinnung in
Madras. Mit anderen Worten: der Kastengeist hat alles nationale Empfinden
und damit jedes die Fremdherrschaft spontan zurückweisende patriotische Ein-
heitsgeftihl bei den Eingeborenen ertötet.

Mit der Zähigkeit marktgängig gewordener Ware hat sich bis auf den
heutigen Tag die der Brahmcmentheorie entlehnte irrtümliche Vorstellung vom
Kastenwesen als einer Vierteilung des indischen Volks in die Kasten der Priester,
Krieger, Landbebauer und Parias erhalten. In Wirklichkeit handelt es sich bei
der Kastenordnung um eine unendlich vielfach und fein verästelte Gliederung
und Differenzierung der Gesellschaft in kleine Einheiten, in Körperschaften, die
nach der Erklärung Senarts „mit einer gewissen überlieferten Organisation,
mit einem Oberhaupt und einem Rat ausgestattet sind, deren Mitgliedschaft
erblich ist, also nicht durch Zufall oder freie Wahl, sondern durch die Geburt
erworben wird, die gemeinsame, insbesondere auf die Heirat, Nahrung, den
Beruf bezügliche Gebräuche ausüben und die schließlich mit einer Gerichtsbarkeit
ausgestattet sind, kraft deren sie, namentlich durch das Mittel der Ausschließung,
ihre Autorität nach außen hin wahren und wirksam machen". Es gibt also
nicht vier Kasten, sondern Tausende von Kasten, und alle diese kleinen Mosaik¬
steine des indischen Volks sind nicht etwa, wie nach der brahmanischen .Klassi¬
fizierung anzunehmen wäre, durch Standesbewußtsein zu größeren Einheiten
verbunden, werden vielmehr dnrch gesellschaftliche Abschattierungen aufs schärfste
voneinander getrennt: der stolze Priester von Benares würde z. B. lieber den
^Hungertod erleiden als eine Speise von dem verachteten, halbnackten, in den
Niederungen des Sindar Kartoffeln bauenden Brahmanen annehmen. Und
endlich ist wiederum die Vorstellung unzutreffend, daß das Bindemittel der
einzelnen Kastensplitter stets die gleiche Berufstätigkeit sei. Es ist zwar richtig,
daß der sogenannte funktionelle, der berufliche Typ der Kaste am weitesten
verbreitet ist. Daneben besteht aber eine ganze Reihe anderer einflußreicher Typen,
so z. B. die konfessionelle (sektarianische) Kaste, die Abwanderungs-
(Emigrations-) Kaste, die Krenzuugskaste usw. Das Kastenwesen stellt so einen
allen seinen Abmessungen, Formen, elementaren Bestandteilen nach äußerst
komplizierten Organismus dar, dessen Wesen und Bedeutung nicht verständlich
ist ohne Untersuchung des Bodens, aus dem er die Triebkräfte dieser mysteriösen
und gigantischen Entfaltung gesogen hat.

Von den vielen Hypothesen/die die Entstehung des indischen Kastenwesens
zu erklären suchen, wird nur eine dessen Charaktereigenart gerecht und gewinnt
daher immer mehr Anerkennung: die von H. H. Risley aufgestellte. Risley
sieht als Ursprung der gesellschaftlichen Abtrennung den Rassengegensatz an.
Herrenvölker, die erobernd in ein fremdes Land eindrangen, haben von jeher
sich vor der Verschmelzung mit den in ihren Augen minderwertigen Angehörigen
der besiegten Rassen dadurch zu schützen gesucht, daß sie ihren Söhnen und


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[0269] Das Rastcnsystem Indiens, sei» Jochen und seine Bekämpfung Nationalität hin etwa sich äußern: Ich gehöre der Sloanischen Schneidergilde von Kalkutta an, oder: ich bin von der wischnuitischen Goldschmiedeinnung in Madras. Mit anderen Worten: der Kastengeist hat alles nationale Empfinden und damit jedes die Fremdherrschaft spontan zurückweisende patriotische Ein- heitsgeftihl bei den Eingeborenen ertötet. Mit der Zähigkeit marktgängig gewordener Ware hat sich bis auf den heutigen Tag die der Brahmcmentheorie entlehnte irrtümliche Vorstellung vom Kastenwesen als einer Vierteilung des indischen Volks in die Kasten der Priester, Krieger, Landbebauer und Parias erhalten. In Wirklichkeit handelt es sich bei der Kastenordnung um eine unendlich vielfach und fein verästelte Gliederung und Differenzierung der Gesellschaft in kleine Einheiten, in Körperschaften, die nach der Erklärung Senarts „mit einer gewissen überlieferten Organisation, mit einem Oberhaupt und einem Rat ausgestattet sind, deren Mitgliedschaft erblich ist, also nicht durch Zufall oder freie Wahl, sondern durch die Geburt erworben wird, die gemeinsame, insbesondere auf die Heirat, Nahrung, den Beruf bezügliche Gebräuche ausüben und die schließlich mit einer Gerichtsbarkeit ausgestattet sind, kraft deren sie, namentlich durch das Mittel der Ausschließung, ihre Autorität nach außen hin wahren und wirksam machen". Es gibt also nicht vier Kasten, sondern Tausende von Kasten, und alle diese kleinen Mosaik¬ steine des indischen Volks sind nicht etwa, wie nach der brahmanischen .Klassi¬ fizierung anzunehmen wäre, durch Standesbewußtsein zu größeren Einheiten verbunden, werden vielmehr dnrch gesellschaftliche Abschattierungen aufs schärfste voneinander getrennt: der stolze Priester von Benares würde z. B. lieber den ^Hungertod erleiden als eine Speise von dem verachteten, halbnackten, in den Niederungen des Sindar Kartoffeln bauenden Brahmanen annehmen. Und endlich ist wiederum die Vorstellung unzutreffend, daß das Bindemittel der einzelnen Kastensplitter stets die gleiche Berufstätigkeit sei. Es ist zwar richtig, daß der sogenannte funktionelle, der berufliche Typ der Kaste am weitesten verbreitet ist. Daneben besteht aber eine ganze Reihe anderer einflußreicher Typen, so z. B. die konfessionelle (sektarianische) Kaste, die Abwanderungs- (Emigrations-) Kaste, die Krenzuugskaste usw. Das Kastenwesen stellt so einen allen seinen Abmessungen, Formen, elementaren Bestandteilen nach äußerst komplizierten Organismus dar, dessen Wesen und Bedeutung nicht verständlich ist ohne Untersuchung des Bodens, aus dem er die Triebkräfte dieser mysteriösen und gigantischen Entfaltung gesogen hat. Von den vielen Hypothesen/die die Entstehung des indischen Kastenwesens zu erklären suchen, wird nur eine dessen Charaktereigenart gerecht und gewinnt daher immer mehr Anerkennung: die von H. H. Risley aufgestellte. Risley sieht als Ursprung der gesellschaftlichen Abtrennung den Rassengegensatz an. Herrenvölker, die erobernd in ein fremdes Land eindrangen, haben von jeher sich vor der Verschmelzung mit den in ihren Augen minderwertigen Angehörigen der besiegten Rassen dadurch zu schützen gesucht, daß sie ihren Söhnen und Grenzboten II 1910 32

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/269>, abgerufen am 26.06.2024.