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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Der praktische Nutzen der Frauenbewegung

Apothekers, des Chemikers, Technikers, Ingenieurs, Architekten und Bibliothekars;
der Anwaltsberuf ist ihr noch verschlossen, doch gibt es eine Anzahl weiblicher
Juristen in Privatstellungen.

Verbessert wurden Ausbildung und Bezahlung in den älteren Berufen der
Volksschullehrerin, Erzieherin und Krankenpflegerin. Durch den Aufschwung von
Handel und Gewerbe entstand ein steigender Bedarf nach Verkäuferinnen, Buch¬
halterinnen, Kassiererinnen, Korrespondentinnen, Sekretärinnen, Steno- und
Daktylographinnen. Sie begannen mit schlechter Ausbildung und schlechter
Entlohnung. Die Frauenbewegung forderte und förderte Berufsorganisation,
Berufsschulung, auskömmliche Bezahlung. An der Erschließung dieser und ver¬
wandter Berufe hatte der Letteverein, Berlin, schon seit 1865 gearbeitet. Die
praktischen Berufe der Kinderpflegerin und Kindergärtnerin, der Handfertigkeits¬
und Haushaltslehrerin, der gewerblichen oder wissenschaftlichen Zeichnerin, der
Dekorateurin und Reformschneiderin sind alle in neuerer Zeit geregelt oder
erschlossen worden. Seit kurzem wird auch die handwerkliche Ausbildung der
Frau betrieben.

Ganz neue Gebiete haben sich aufgetan, seit Staat und Gemeinden Sozialpolitik
treiben. Seitdem sind Frauen Gewerbeaufseherinnen, Wohnungsaufseherinnen,
Säuglingspflegerinnen, Schulschwestern, Aufseherinnen der Kommunalpflegekinder,
Vormünder, Armenpflegerinnen, Waisenpflegerinnen, Leiterinnen von Fürsorge¬
vereinen, Helferinnen an Jugendgerichten, Leiterinnen von städtischen Arbeits¬
nachweisen, von Rechtsschutzstellen usw.

Die eigentliche Wohltätigkeit, in der sich nach wie vor viele Frauen
betätigen, besteht aber vorwiegend unabhängig von der Frauenbewegung.

Ein großer Teil der obengenannten Berufe wird ehrenamtlich und
unentgeltlich versehen. Er hilft also nicht eigentlich zur Lösung der wirtschaft¬
lichen Frauenfrage, gibt aber der Frauenbewegung ihren gemeinnützigen Charakter.
Denn die Frauenbewegung will nicht allein der bürgerlichen Frau Brot ver¬
schaffen; sie sucht auch den Frauen des Volks zu helfen. Daher beschäftigen die
Frauenrechtlerinnen sich mit der Verbesserung der Volksschulbildung (bis zum
fünfzehnten Jahr, Haushaltsunterricht obligatorisch); sie geben Wegweiser der
Berufswahl für die schulentlassene Jugend heraus, gründen Schulen für Dienst¬
boten, Vereine von Hausbeamtinnen, studieren die Lohnfragen der Arbeiterin, das
Problem der Heimarbeit, befürworten den gesetzlichen Arbeiterschutz und die
Arbeiterinnenorganisation, Mutterschaftsversicherung usw.

Ganz besonders schwierige gemeinnützige Aufgaben hat die Frauenbewegung
dann ergriffen auf dem Gebiet der Alkoholbekämpfung und auf den: Gebiet der
Sittlichkeit (Bekämpfung der Reglementierung), dem Mutterschutz.

Eine solche Arbeit bedarf einer starken Organisation. Sie ist seit dem Jahre
l 894 zentralisiert und dann immer besser ausgebaut worden. In jenem Jahre
entstand nämlich der Bund deutscher Frauenvereine, zu dem die Anregung
1893 auf dem Internationalen Frauenkongreß in Chicago gegeben war. Der


Der praktische Nutzen der Frauenbewegung

Apothekers, des Chemikers, Technikers, Ingenieurs, Architekten und Bibliothekars;
der Anwaltsberuf ist ihr noch verschlossen, doch gibt es eine Anzahl weiblicher
Juristen in Privatstellungen.

Verbessert wurden Ausbildung und Bezahlung in den älteren Berufen der
Volksschullehrerin, Erzieherin und Krankenpflegerin. Durch den Aufschwung von
Handel und Gewerbe entstand ein steigender Bedarf nach Verkäuferinnen, Buch¬
halterinnen, Kassiererinnen, Korrespondentinnen, Sekretärinnen, Steno- und
Daktylographinnen. Sie begannen mit schlechter Ausbildung und schlechter
Entlohnung. Die Frauenbewegung forderte und förderte Berufsorganisation,
Berufsschulung, auskömmliche Bezahlung. An der Erschließung dieser und ver¬
wandter Berufe hatte der Letteverein, Berlin, schon seit 1865 gearbeitet. Die
praktischen Berufe der Kinderpflegerin und Kindergärtnerin, der Handfertigkeits¬
und Haushaltslehrerin, der gewerblichen oder wissenschaftlichen Zeichnerin, der
Dekorateurin und Reformschneiderin sind alle in neuerer Zeit geregelt oder
erschlossen worden. Seit kurzem wird auch die handwerkliche Ausbildung der
Frau betrieben.

Ganz neue Gebiete haben sich aufgetan, seit Staat und Gemeinden Sozialpolitik
treiben. Seitdem sind Frauen Gewerbeaufseherinnen, Wohnungsaufseherinnen,
Säuglingspflegerinnen, Schulschwestern, Aufseherinnen der Kommunalpflegekinder,
Vormünder, Armenpflegerinnen, Waisenpflegerinnen, Leiterinnen von Fürsorge¬
vereinen, Helferinnen an Jugendgerichten, Leiterinnen von städtischen Arbeits¬
nachweisen, von Rechtsschutzstellen usw.

Die eigentliche Wohltätigkeit, in der sich nach wie vor viele Frauen
betätigen, besteht aber vorwiegend unabhängig von der Frauenbewegung.

Ein großer Teil der obengenannten Berufe wird ehrenamtlich und
unentgeltlich versehen. Er hilft also nicht eigentlich zur Lösung der wirtschaft¬
lichen Frauenfrage, gibt aber der Frauenbewegung ihren gemeinnützigen Charakter.
Denn die Frauenbewegung will nicht allein der bürgerlichen Frau Brot ver¬
schaffen; sie sucht auch den Frauen des Volks zu helfen. Daher beschäftigen die
Frauenrechtlerinnen sich mit der Verbesserung der Volksschulbildung (bis zum
fünfzehnten Jahr, Haushaltsunterricht obligatorisch); sie geben Wegweiser der
Berufswahl für die schulentlassene Jugend heraus, gründen Schulen für Dienst¬
boten, Vereine von Hausbeamtinnen, studieren die Lohnfragen der Arbeiterin, das
Problem der Heimarbeit, befürworten den gesetzlichen Arbeiterschutz und die
Arbeiterinnenorganisation, Mutterschaftsversicherung usw.

Ganz besonders schwierige gemeinnützige Aufgaben hat die Frauenbewegung
dann ergriffen auf dem Gebiet der Alkoholbekämpfung und auf den: Gebiet der
Sittlichkeit (Bekämpfung der Reglementierung), dem Mutterschutz.

Eine solche Arbeit bedarf einer starken Organisation. Sie ist seit dem Jahre
l 894 zentralisiert und dann immer besser ausgebaut worden. In jenem Jahre
entstand nämlich der Bund deutscher Frauenvereine, zu dem die Anregung
1893 auf dem Internationalen Frauenkongreß in Chicago gegeben war. Der


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[0265] Der praktische Nutzen der Frauenbewegung Apothekers, des Chemikers, Technikers, Ingenieurs, Architekten und Bibliothekars; der Anwaltsberuf ist ihr noch verschlossen, doch gibt es eine Anzahl weiblicher Juristen in Privatstellungen. Verbessert wurden Ausbildung und Bezahlung in den älteren Berufen der Volksschullehrerin, Erzieherin und Krankenpflegerin. Durch den Aufschwung von Handel und Gewerbe entstand ein steigender Bedarf nach Verkäuferinnen, Buch¬ halterinnen, Kassiererinnen, Korrespondentinnen, Sekretärinnen, Steno- und Daktylographinnen. Sie begannen mit schlechter Ausbildung und schlechter Entlohnung. Die Frauenbewegung forderte und förderte Berufsorganisation, Berufsschulung, auskömmliche Bezahlung. An der Erschließung dieser und ver¬ wandter Berufe hatte der Letteverein, Berlin, schon seit 1865 gearbeitet. Die praktischen Berufe der Kinderpflegerin und Kindergärtnerin, der Handfertigkeits¬ und Haushaltslehrerin, der gewerblichen oder wissenschaftlichen Zeichnerin, der Dekorateurin und Reformschneiderin sind alle in neuerer Zeit geregelt oder erschlossen worden. Seit kurzem wird auch die handwerkliche Ausbildung der Frau betrieben. Ganz neue Gebiete haben sich aufgetan, seit Staat und Gemeinden Sozialpolitik treiben. Seitdem sind Frauen Gewerbeaufseherinnen, Wohnungsaufseherinnen, Säuglingspflegerinnen, Schulschwestern, Aufseherinnen der Kommunalpflegekinder, Vormünder, Armenpflegerinnen, Waisenpflegerinnen, Leiterinnen von Fürsorge¬ vereinen, Helferinnen an Jugendgerichten, Leiterinnen von städtischen Arbeits¬ nachweisen, von Rechtsschutzstellen usw. Die eigentliche Wohltätigkeit, in der sich nach wie vor viele Frauen betätigen, besteht aber vorwiegend unabhängig von der Frauenbewegung. Ein großer Teil der obengenannten Berufe wird ehrenamtlich und unentgeltlich versehen. Er hilft also nicht eigentlich zur Lösung der wirtschaft¬ lichen Frauenfrage, gibt aber der Frauenbewegung ihren gemeinnützigen Charakter. Denn die Frauenbewegung will nicht allein der bürgerlichen Frau Brot ver¬ schaffen; sie sucht auch den Frauen des Volks zu helfen. Daher beschäftigen die Frauenrechtlerinnen sich mit der Verbesserung der Volksschulbildung (bis zum fünfzehnten Jahr, Haushaltsunterricht obligatorisch); sie geben Wegweiser der Berufswahl für die schulentlassene Jugend heraus, gründen Schulen für Dienst¬ boten, Vereine von Hausbeamtinnen, studieren die Lohnfragen der Arbeiterin, das Problem der Heimarbeit, befürworten den gesetzlichen Arbeiterschutz und die Arbeiterinnenorganisation, Mutterschaftsversicherung usw. Ganz besonders schwierige gemeinnützige Aufgaben hat die Frauenbewegung dann ergriffen auf dem Gebiet der Alkoholbekämpfung und auf den: Gebiet der Sittlichkeit (Bekämpfung der Reglementierung), dem Mutterschutz. Eine solche Arbeit bedarf einer starken Organisation. Sie ist seit dem Jahre l 894 zentralisiert und dann immer besser ausgebaut worden. In jenem Jahre entstand nämlich der Bund deutscher Frauenvereine, zu dem die Anregung 1893 auf dem Internationalen Frauenkongreß in Chicago gegeben war. Der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/265>, abgerufen am 26.06.2024.