Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der praktische Nutzen der Frauenbewegung

Die Gründung des Reichs hatte es unvermeidlich gemacht, daß auch der
Schwerpunkt der Frauenbewegung nach Berlin überging. In den politisch¬
parlamentarisch-sozialen Kämpfen der Reichshauptstadt entstand hier die jüngere,
die sozial-politische Richtung der Bewegung unter Führung von Frau Cauer,
die seit 1890 eine Reihe von Mitarbeiterinnen um sich sammelte, Frau Bieber-
Böhm, Dr. Augspurg, Fräulein Heymann, Anna Pappritz, Frau stritt,
M. Lischnewska, M. Schnee, Dr. Schirmacher, Dr. Stöcker, E. Lüders, Lily
Braun usw. Für diesen linken Flügel traten Rechtsfragen, Frauenstimmrecht,
Sittlichkeit, Arbeiterfrage, Organisation in erste Linie. So gelang es z. B.
Frau Cauer, die kaufmännischen Angestellten weiblichen Geschlechts in einem
Berufsverbande zu organisieren.

In diesen Kreisen begann auch die Arbeit der bürgerlichen Frau für die
Proletarierin, die von den Begründerinnen der deutschen Frauenbewegung 1865
wohl prinzipiell mit erstrebt worden, praktisch aber nicht wesentlich gefördert
war. Das lag in der Natur der Sache: die bürgerliche Frau wurde durch
die Großindustrie von der früheren Hausarbeit entlastet und daher in: Hause
brotlos. Die Großindustrie trieb Hunderte und Tausende bürgerlicher
Mädchen aus dem Haus. Deren Not schuf die Frauenbewegung, die eben
deshalb bürgerlichen Ursprungs ist. Die Frauenbewegung in: Volk, aber
insofern sie nicht konfessionell, fiel fast ganz mit dem Sozialismus zusammen.
Das ist leicht erklärlich: die Großindustrie lockte die Frau des Volks in die
Fabrik, wo sie die Interessen des Arbeiters teilte und am stärksten von der
sozialistischen Propaganda erfaßt wurde, die ihre Kundschaft im Volke sucht.

Die eigentliche Frauenbewegung begann aber in Bürgerkreisen. Was hat
sie seit 1865 für diese auf außerhäusliche Berufsarbeit angewiesenen Frauen
geleistet? Sie hat ihnen Arbeit geschafft und ihre Arbeitsbedingungen verbessert.
War ein anderer Weg gangbar? Stand es in menschlicher Macht, diese Frauen
wieder in: Hause zu versorgen? Nein, das Haus war nicht mehr aufnahme¬
fähig für diese Arbeitskräfte, es versagte als Versorgung des gesamten weiblichen
Geschlechts, es stieß Hunderttausende von seiner Schwelle.

Diesen mußte geholfen werden. Das geschah zuerst durch Verbesserung
der Frauenbildung. Die deutsche Frauenbewegung bezweckt die Ebenbürtigkeit
und Gleichwertigkeit der auf Arbeit angewiesenen Frau in jedem Beruf, den
sie ergreift. Denn halbgebildete Arbeiter sind unfähige Arbeiter und notwendiger¬
weise Schmutzkonkurrenten, gleichzeitig aber auch eine soziale Last, da sie zuletzt
der Allgemeinheit aufliegen. -- Seit 1865 wurden in mühsamem Ringen nach
und nach die nötigen Schritte getan, um die höheren Mädchenschulen zu wirklich
höheren Schulen auszubauen, den Mädchen die höheren Knabenschulen zu öffnen
oder besondere Mädchengymnasien zu gründen, die Frauen zum akademischen
Studium und zur Immatrikulation zuzulassen, sowie zu den meisten Staats¬
prüfungen. So erschloß sich der deutschen Frau seit 1890 der höhere Lehrberuf,
die Universitntslaufbahn (eine Dozentin), der Beruf des Arztes, Zahnarztes und


Der praktische Nutzen der Frauenbewegung

Die Gründung des Reichs hatte es unvermeidlich gemacht, daß auch der
Schwerpunkt der Frauenbewegung nach Berlin überging. In den politisch¬
parlamentarisch-sozialen Kämpfen der Reichshauptstadt entstand hier die jüngere,
die sozial-politische Richtung der Bewegung unter Führung von Frau Cauer,
die seit 1890 eine Reihe von Mitarbeiterinnen um sich sammelte, Frau Bieber-
Böhm, Dr. Augspurg, Fräulein Heymann, Anna Pappritz, Frau stritt,
M. Lischnewska, M. Schnee, Dr. Schirmacher, Dr. Stöcker, E. Lüders, Lily
Braun usw. Für diesen linken Flügel traten Rechtsfragen, Frauenstimmrecht,
Sittlichkeit, Arbeiterfrage, Organisation in erste Linie. So gelang es z. B.
Frau Cauer, die kaufmännischen Angestellten weiblichen Geschlechts in einem
Berufsverbande zu organisieren.

In diesen Kreisen begann auch die Arbeit der bürgerlichen Frau für die
Proletarierin, die von den Begründerinnen der deutschen Frauenbewegung 1865
wohl prinzipiell mit erstrebt worden, praktisch aber nicht wesentlich gefördert
war. Das lag in der Natur der Sache: die bürgerliche Frau wurde durch
die Großindustrie von der früheren Hausarbeit entlastet und daher in: Hause
brotlos. Die Großindustrie trieb Hunderte und Tausende bürgerlicher
Mädchen aus dem Haus. Deren Not schuf die Frauenbewegung, die eben
deshalb bürgerlichen Ursprungs ist. Die Frauenbewegung in: Volk, aber
insofern sie nicht konfessionell, fiel fast ganz mit dem Sozialismus zusammen.
Das ist leicht erklärlich: die Großindustrie lockte die Frau des Volks in die
Fabrik, wo sie die Interessen des Arbeiters teilte und am stärksten von der
sozialistischen Propaganda erfaßt wurde, die ihre Kundschaft im Volke sucht.

Die eigentliche Frauenbewegung begann aber in Bürgerkreisen. Was hat
sie seit 1865 für diese auf außerhäusliche Berufsarbeit angewiesenen Frauen
geleistet? Sie hat ihnen Arbeit geschafft und ihre Arbeitsbedingungen verbessert.
War ein anderer Weg gangbar? Stand es in menschlicher Macht, diese Frauen
wieder in: Hause zu versorgen? Nein, das Haus war nicht mehr aufnahme¬
fähig für diese Arbeitskräfte, es versagte als Versorgung des gesamten weiblichen
Geschlechts, es stieß Hunderttausende von seiner Schwelle.

Diesen mußte geholfen werden. Das geschah zuerst durch Verbesserung
der Frauenbildung. Die deutsche Frauenbewegung bezweckt die Ebenbürtigkeit
und Gleichwertigkeit der auf Arbeit angewiesenen Frau in jedem Beruf, den
sie ergreift. Denn halbgebildete Arbeiter sind unfähige Arbeiter und notwendiger¬
weise Schmutzkonkurrenten, gleichzeitig aber auch eine soziale Last, da sie zuletzt
der Allgemeinheit aufliegen. — Seit 1865 wurden in mühsamem Ringen nach
und nach die nötigen Schritte getan, um die höheren Mädchenschulen zu wirklich
höheren Schulen auszubauen, den Mädchen die höheren Knabenschulen zu öffnen
oder besondere Mädchengymnasien zu gründen, die Frauen zum akademischen
Studium und zur Immatrikulation zuzulassen, sowie zu den meisten Staats¬
prüfungen. So erschloß sich der deutschen Frau seit 1890 der höhere Lehrberuf,
die Universitntslaufbahn (eine Dozentin), der Beruf des Arztes, Zahnarztes und


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0264" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/315903"/>
          <fw type="header" place="top"> Der praktische Nutzen der Frauenbewegung</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1431"> Die Gründung des Reichs hatte es unvermeidlich gemacht, daß auch der<lb/>
Schwerpunkt der Frauenbewegung nach Berlin überging. In den politisch¬<lb/>
parlamentarisch-sozialen Kämpfen der Reichshauptstadt entstand hier die jüngere,<lb/>
die sozial-politische Richtung der Bewegung unter Führung von Frau Cauer,<lb/>
die seit 1890 eine Reihe von Mitarbeiterinnen um sich sammelte, Frau Bieber-<lb/>
Böhm, Dr. Augspurg, Fräulein Heymann, Anna Pappritz, Frau stritt,<lb/>
M. Lischnewska, M. Schnee, Dr. Schirmacher, Dr. Stöcker, E. Lüders, Lily<lb/>
Braun usw. Für diesen linken Flügel traten Rechtsfragen, Frauenstimmrecht,<lb/>
Sittlichkeit, Arbeiterfrage, Organisation in erste Linie. So gelang es z. B.<lb/>
Frau Cauer, die kaufmännischen Angestellten weiblichen Geschlechts in einem<lb/>
Berufsverbande zu organisieren.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1432"> In diesen Kreisen begann auch die Arbeit der bürgerlichen Frau für die<lb/>
Proletarierin, die von den Begründerinnen der deutschen Frauenbewegung 1865<lb/>
wohl prinzipiell mit erstrebt worden, praktisch aber nicht wesentlich gefördert<lb/>
war. Das lag in der Natur der Sache: die bürgerliche Frau wurde durch<lb/>
die Großindustrie von der früheren Hausarbeit entlastet und daher in: Hause<lb/>
brotlos. Die Großindustrie trieb Hunderte und Tausende bürgerlicher<lb/>
Mädchen aus dem Haus. Deren Not schuf die Frauenbewegung, die eben<lb/>
deshalb bürgerlichen Ursprungs ist. Die Frauenbewegung in: Volk, aber<lb/>
insofern sie nicht konfessionell, fiel fast ganz mit dem Sozialismus zusammen.<lb/>
Das ist leicht erklärlich: die Großindustrie lockte die Frau des Volks in die<lb/>
Fabrik, wo sie die Interessen des Arbeiters teilte und am stärksten von der<lb/>
sozialistischen Propaganda erfaßt wurde, die ihre Kundschaft im Volke sucht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1433"> Die eigentliche Frauenbewegung begann aber in Bürgerkreisen. Was hat<lb/>
sie seit 1865 für diese auf außerhäusliche Berufsarbeit angewiesenen Frauen<lb/>
geleistet? Sie hat ihnen Arbeit geschafft und ihre Arbeitsbedingungen verbessert.<lb/>
War ein anderer Weg gangbar? Stand es in menschlicher Macht, diese Frauen<lb/>
wieder in: Hause zu versorgen? Nein, das Haus war nicht mehr aufnahme¬<lb/>
fähig für diese Arbeitskräfte, es versagte als Versorgung des gesamten weiblichen<lb/>
Geschlechts, es stieß Hunderttausende von seiner Schwelle.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1434" next="#ID_1435"> Diesen mußte geholfen werden. Das geschah zuerst durch Verbesserung<lb/>
der Frauenbildung. Die deutsche Frauenbewegung bezweckt die Ebenbürtigkeit<lb/>
und Gleichwertigkeit der auf Arbeit angewiesenen Frau in jedem Beruf, den<lb/>
sie ergreift. Denn halbgebildete Arbeiter sind unfähige Arbeiter und notwendiger¬<lb/>
weise Schmutzkonkurrenten, gleichzeitig aber auch eine soziale Last, da sie zuletzt<lb/>
der Allgemeinheit aufliegen. &#x2014; Seit 1865 wurden in mühsamem Ringen nach<lb/>
und nach die nötigen Schritte getan, um die höheren Mädchenschulen zu wirklich<lb/>
höheren Schulen auszubauen, den Mädchen die höheren Knabenschulen zu öffnen<lb/>
oder besondere Mädchengymnasien zu gründen, die Frauen zum akademischen<lb/>
Studium und zur Immatrikulation zuzulassen, sowie zu den meisten Staats¬<lb/>
prüfungen. So erschloß sich der deutschen Frau seit 1890 der höhere Lehrberuf,<lb/>
die Universitntslaufbahn (eine Dozentin), der Beruf des Arztes, Zahnarztes und</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0264] Der praktische Nutzen der Frauenbewegung Die Gründung des Reichs hatte es unvermeidlich gemacht, daß auch der Schwerpunkt der Frauenbewegung nach Berlin überging. In den politisch¬ parlamentarisch-sozialen Kämpfen der Reichshauptstadt entstand hier die jüngere, die sozial-politische Richtung der Bewegung unter Führung von Frau Cauer, die seit 1890 eine Reihe von Mitarbeiterinnen um sich sammelte, Frau Bieber- Böhm, Dr. Augspurg, Fräulein Heymann, Anna Pappritz, Frau stritt, M. Lischnewska, M. Schnee, Dr. Schirmacher, Dr. Stöcker, E. Lüders, Lily Braun usw. Für diesen linken Flügel traten Rechtsfragen, Frauenstimmrecht, Sittlichkeit, Arbeiterfrage, Organisation in erste Linie. So gelang es z. B. Frau Cauer, die kaufmännischen Angestellten weiblichen Geschlechts in einem Berufsverbande zu organisieren. In diesen Kreisen begann auch die Arbeit der bürgerlichen Frau für die Proletarierin, die von den Begründerinnen der deutschen Frauenbewegung 1865 wohl prinzipiell mit erstrebt worden, praktisch aber nicht wesentlich gefördert war. Das lag in der Natur der Sache: die bürgerliche Frau wurde durch die Großindustrie von der früheren Hausarbeit entlastet und daher in: Hause brotlos. Die Großindustrie trieb Hunderte und Tausende bürgerlicher Mädchen aus dem Haus. Deren Not schuf die Frauenbewegung, die eben deshalb bürgerlichen Ursprungs ist. Die Frauenbewegung in: Volk, aber insofern sie nicht konfessionell, fiel fast ganz mit dem Sozialismus zusammen. Das ist leicht erklärlich: die Großindustrie lockte die Frau des Volks in die Fabrik, wo sie die Interessen des Arbeiters teilte und am stärksten von der sozialistischen Propaganda erfaßt wurde, die ihre Kundschaft im Volke sucht. Die eigentliche Frauenbewegung begann aber in Bürgerkreisen. Was hat sie seit 1865 für diese auf außerhäusliche Berufsarbeit angewiesenen Frauen geleistet? Sie hat ihnen Arbeit geschafft und ihre Arbeitsbedingungen verbessert. War ein anderer Weg gangbar? Stand es in menschlicher Macht, diese Frauen wieder in: Hause zu versorgen? Nein, das Haus war nicht mehr aufnahme¬ fähig für diese Arbeitskräfte, es versagte als Versorgung des gesamten weiblichen Geschlechts, es stieß Hunderttausende von seiner Schwelle. Diesen mußte geholfen werden. Das geschah zuerst durch Verbesserung der Frauenbildung. Die deutsche Frauenbewegung bezweckt die Ebenbürtigkeit und Gleichwertigkeit der auf Arbeit angewiesenen Frau in jedem Beruf, den sie ergreift. Denn halbgebildete Arbeiter sind unfähige Arbeiter und notwendiger¬ weise Schmutzkonkurrenten, gleichzeitig aber auch eine soziale Last, da sie zuletzt der Allgemeinheit aufliegen. — Seit 1865 wurden in mühsamem Ringen nach und nach die nötigen Schritte getan, um die höheren Mädchenschulen zu wirklich höheren Schulen auszubauen, den Mädchen die höheren Knabenschulen zu öffnen oder besondere Mädchengymnasien zu gründen, die Frauen zum akademischen Studium und zur Immatrikulation zuzulassen, sowie zu den meisten Staats¬ prüfungen. So erschloß sich der deutschen Frau seit 1890 der höhere Lehrberuf, die Universitntslaufbahn (eine Dozentin), der Beruf des Arztes, Zahnarztes und

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/264
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/264>, abgerufen am 26.06.2024.