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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Die polnischen Volksbanken in Gbcrschlesien

ist dies Koszutki in seiner Broschüre: "Die polnische Frage im Lichte der Sozial¬
wissenschaft". Schultze-Delitsch hatte in einem 1861 in Bromberg gehaltenen
Vortrage die Aufsaugung der Polen durch die Deutschen prophezeit. In Form
eines offenen Briefes antwortete ihm Koszutki und stellte dabei die These auf:
Ein Volk, welches seine politische Selbständigkeit nicht wiedererlangen könne,
könne trotzdem fortleben, wenn es sich nur die Requisiten der staatlichen
Existenz erhalte und diese weiter entwickele. Als diese Requisiten aber bezeichnet
er die polnische Sprache, ein ausgiebiges Maß Grundbesitz und eine zuverlässige
soziale Organisation der Bevölkerung.

Die Sprache wird den Polen von keiner Seite angetastet, so sehr sie auch
das Gegenteil behaupten. Wie sie um den Grund und Boden in Posen und
Westpreußen kämpfen, ist allgemein bekannt. Was aber die soziale Organisation
angeht, so haben sie verstanden, diese auf einem Gebiete zu schaffen, auf dem
man eine solche am wenigsten erwarten durfte. Zunächst war es das Gegebene,
daß eine Bevölkerung, die in letzter Linie politische Endziele erstrebt, sich
auch in politischen Vereinen zusammentat. Bei diesen Versuchen aber stießen
sie an allen Ecken an die Grenzen und Zäune des alten preußischen Vereins¬
rechts und konnten vor allem für ihre Vereine die so wichtige juristische Per¬
sönlichkeit nicht erlangen. Da kamen sie auf die geniale Idee, sich der
wirtschaftlichen Form der Genossenschaft zu bedienen; denn wer hier die
handelsrechtlichen Bestimmungen erfüllt, kann kraft des Genossenschaftsgesetzes
eine juristische Person schaffen, ohne daß die Staatsbehörden bei aller Erkenntnis
von der Gefährlichkeit dieser Rechtspersönlichkeiten ein Veto einlegen dürfen.
So wurde das Netz von Genossenschaften gespannt, das die Provinzen Posen
und Westpreußen überzieht und heut das Rückgrat aller polnischen Organisation
in diesen Provinzen ist. Wie die Polen damit verstanden haben, einen Staat
im Staate aufzubauen, und wie die äußerlich ihren wirtschaftlichen Charakter
streng währenden Genossenschaften doch auf das politische Leben dank der Personal-
Union der Genossenschaftsleiter und der politischen Führer alleweil übergreifen,
das hat uns Professor Bernhard in seinem epochemachenden Werke "Das
polnische Gemeinwesen im Preußischen Staat" in glänzender Weise aufgehellt.

Es ist begreiflich, daß die Polen, sobald sie die Eroberung Oberschlesiens
in Aussicht nahmen, auch bemüht waren, ihr Genossenschaftssustem dorthin zu
verpflanzen. Sie fanden in Oberschlesien eine ganz anders geschichtete Bevölkerung
vor als in Posen und Westpreußen. Die Mittel- und Oberschicht war rein
deutsch. Für die Polonisierung in Betracht kamen allein die noch zu keinem
politischen Leben erwachten, dumpf dahin vegetierenden Massen der Arbeiter in
Gruben und Hütten und in ländlichen Bezirken eine gleich tiefstehende Bauern¬
schaft. Auf diese Proletariermassen mußte natürlich zunächst durch Agitation
gröbster Art eingewirkt werden, daneben aber unternahm es der "Beutheuer
Führer", vielfache Zeitungsbesitzer und Abgeordnete, Napieralski von vornherein
auch, durch sozialpolitische Einrichtungen und wirtschaftliche Hebung diese Kreise


Die polnischen Volksbanken in Gbcrschlesien

ist dies Koszutki in seiner Broschüre: „Die polnische Frage im Lichte der Sozial¬
wissenschaft". Schultze-Delitsch hatte in einem 1861 in Bromberg gehaltenen
Vortrage die Aufsaugung der Polen durch die Deutschen prophezeit. In Form
eines offenen Briefes antwortete ihm Koszutki und stellte dabei die These auf:
Ein Volk, welches seine politische Selbständigkeit nicht wiedererlangen könne,
könne trotzdem fortleben, wenn es sich nur die Requisiten der staatlichen
Existenz erhalte und diese weiter entwickele. Als diese Requisiten aber bezeichnet
er die polnische Sprache, ein ausgiebiges Maß Grundbesitz und eine zuverlässige
soziale Organisation der Bevölkerung.

Die Sprache wird den Polen von keiner Seite angetastet, so sehr sie auch
das Gegenteil behaupten. Wie sie um den Grund und Boden in Posen und
Westpreußen kämpfen, ist allgemein bekannt. Was aber die soziale Organisation
angeht, so haben sie verstanden, diese auf einem Gebiete zu schaffen, auf dem
man eine solche am wenigsten erwarten durfte. Zunächst war es das Gegebene,
daß eine Bevölkerung, die in letzter Linie politische Endziele erstrebt, sich
auch in politischen Vereinen zusammentat. Bei diesen Versuchen aber stießen
sie an allen Ecken an die Grenzen und Zäune des alten preußischen Vereins¬
rechts und konnten vor allem für ihre Vereine die so wichtige juristische Per¬
sönlichkeit nicht erlangen. Da kamen sie auf die geniale Idee, sich der
wirtschaftlichen Form der Genossenschaft zu bedienen; denn wer hier die
handelsrechtlichen Bestimmungen erfüllt, kann kraft des Genossenschaftsgesetzes
eine juristische Person schaffen, ohne daß die Staatsbehörden bei aller Erkenntnis
von der Gefährlichkeit dieser Rechtspersönlichkeiten ein Veto einlegen dürfen.
So wurde das Netz von Genossenschaften gespannt, das die Provinzen Posen
und Westpreußen überzieht und heut das Rückgrat aller polnischen Organisation
in diesen Provinzen ist. Wie die Polen damit verstanden haben, einen Staat
im Staate aufzubauen, und wie die äußerlich ihren wirtschaftlichen Charakter
streng währenden Genossenschaften doch auf das politische Leben dank der Personal-
Union der Genossenschaftsleiter und der politischen Führer alleweil übergreifen,
das hat uns Professor Bernhard in seinem epochemachenden Werke „Das
polnische Gemeinwesen im Preußischen Staat" in glänzender Weise aufgehellt.

Es ist begreiflich, daß die Polen, sobald sie die Eroberung Oberschlesiens
in Aussicht nahmen, auch bemüht waren, ihr Genossenschaftssustem dorthin zu
verpflanzen. Sie fanden in Oberschlesien eine ganz anders geschichtete Bevölkerung
vor als in Posen und Westpreußen. Die Mittel- und Oberschicht war rein
deutsch. Für die Polonisierung in Betracht kamen allein die noch zu keinem
politischen Leben erwachten, dumpf dahin vegetierenden Massen der Arbeiter in
Gruben und Hütten und in ländlichen Bezirken eine gleich tiefstehende Bauern¬
schaft. Auf diese Proletariermassen mußte natürlich zunächst durch Agitation
gröbster Art eingewirkt werden, daneben aber unternahm es der „Beutheuer
Führer", vielfache Zeitungsbesitzer und Abgeordnete, Napieralski von vornherein
auch, durch sozialpolitische Einrichtungen und wirtschaftliche Hebung diese Kreise


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[0254] Die polnischen Volksbanken in Gbcrschlesien ist dies Koszutki in seiner Broschüre: „Die polnische Frage im Lichte der Sozial¬ wissenschaft". Schultze-Delitsch hatte in einem 1861 in Bromberg gehaltenen Vortrage die Aufsaugung der Polen durch die Deutschen prophezeit. In Form eines offenen Briefes antwortete ihm Koszutki und stellte dabei die These auf: Ein Volk, welches seine politische Selbständigkeit nicht wiedererlangen könne, könne trotzdem fortleben, wenn es sich nur die Requisiten der staatlichen Existenz erhalte und diese weiter entwickele. Als diese Requisiten aber bezeichnet er die polnische Sprache, ein ausgiebiges Maß Grundbesitz und eine zuverlässige soziale Organisation der Bevölkerung. Die Sprache wird den Polen von keiner Seite angetastet, so sehr sie auch das Gegenteil behaupten. Wie sie um den Grund und Boden in Posen und Westpreußen kämpfen, ist allgemein bekannt. Was aber die soziale Organisation angeht, so haben sie verstanden, diese auf einem Gebiete zu schaffen, auf dem man eine solche am wenigsten erwarten durfte. Zunächst war es das Gegebene, daß eine Bevölkerung, die in letzter Linie politische Endziele erstrebt, sich auch in politischen Vereinen zusammentat. Bei diesen Versuchen aber stießen sie an allen Ecken an die Grenzen und Zäune des alten preußischen Vereins¬ rechts und konnten vor allem für ihre Vereine die so wichtige juristische Per¬ sönlichkeit nicht erlangen. Da kamen sie auf die geniale Idee, sich der wirtschaftlichen Form der Genossenschaft zu bedienen; denn wer hier die handelsrechtlichen Bestimmungen erfüllt, kann kraft des Genossenschaftsgesetzes eine juristische Person schaffen, ohne daß die Staatsbehörden bei aller Erkenntnis von der Gefährlichkeit dieser Rechtspersönlichkeiten ein Veto einlegen dürfen. So wurde das Netz von Genossenschaften gespannt, das die Provinzen Posen und Westpreußen überzieht und heut das Rückgrat aller polnischen Organisation in diesen Provinzen ist. Wie die Polen damit verstanden haben, einen Staat im Staate aufzubauen, und wie die äußerlich ihren wirtschaftlichen Charakter streng währenden Genossenschaften doch auf das politische Leben dank der Personal- Union der Genossenschaftsleiter und der politischen Führer alleweil übergreifen, das hat uns Professor Bernhard in seinem epochemachenden Werke „Das polnische Gemeinwesen im Preußischen Staat" in glänzender Weise aufgehellt. Es ist begreiflich, daß die Polen, sobald sie die Eroberung Oberschlesiens in Aussicht nahmen, auch bemüht waren, ihr Genossenschaftssustem dorthin zu verpflanzen. Sie fanden in Oberschlesien eine ganz anders geschichtete Bevölkerung vor als in Posen und Westpreußen. Die Mittel- und Oberschicht war rein deutsch. Für die Polonisierung in Betracht kamen allein die noch zu keinem politischen Leben erwachten, dumpf dahin vegetierenden Massen der Arbeiter in Gruben und Hütten und in ländlichen Bezirken eine gleich tiefstehende Bauern¬ schaft. Auf diese Proletariermassen mußte natürlich zunächst durch Agitation gröbster Art eingewirkt werden, daneben aber unternahm es der „Beutheuer Führer", vielfache Zeitungsbesitzer und Abgeordnete, Napieralski von vornherein auch, durch sozialpolitische Einrichtungen und wirtschaftliche Hebung diese Kreise

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/254>, abgerufen am 26.06.2024.