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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

"Die Geschichten der Erden geschehen im Himmel, ehe dies auf Erden angegangen
und geschehen ist. Als so einen träumt, das morgen geschieht, also läuft der Himmel
vor und tut alle Werke, die nachher der Mensch auf Erden vollbringt" (Paracelsus).
"Die Gestirne werden von Geistern höherer Art bewohnt, die die Schicksale der
Menschen regieren. Was in der großen Welt, im Makrokosmos, der Jupiter,
das ist Mikrokosmos im Menschen, der Quintessenz der großen Welt, die Lunge.
Ebenso ist die Sonne das Herz, die Milz Saturn, die Nieren Venus
usw. Nichts ist tot in der Natur, die Erde atmet, so auch die Pflanzen"
(man wird hier wieder an gewisse moderne Ideen von Fechner u. a. erinnert).
Aber man höre Reiche weiter: "Die Rinde ist die Haut der Pflanzen, die Blätter
sind ihre Haare, die Wurzel ihr Mund und ihr Magen, Harz und Gummi ihre
Exkremente. Nicht anders die Steine. Auch sie leben, sie essen und trinken und
geben Ausleerungen von sich. In allen vier Elementen sind unendlich viele geistige
Substanzen, im Wasser die Nymphen oder Undinen, in der Luft Sylvanen, in der
Erde die Gnomen, im Feuer die Salamander. Sie sind wie die reinen Geister
durchsichtig und unglaublich schnell, haben aber auch Körper wie die Menschen,
leben, essen und sprechen wie diese; wenn sie aber sterben, bleibt keine Seele
zurück, denn sie haben keine. Wir sehen, selbst Anklänge aus Märchen machen
sich bemerkbar." Soweit Reiche. In wunderbarer Weise verquicken sich
in solchen Anschauungen Poesie, Volksglaube, Irrtum und Ahnungen. Mag man
diese astrologischen Phantastereien einen Wahn nennen, es verrät sich doch in
solcher Vorstellungsweise das edle Naturgefühl der Germanen, die Sehnsucht nach
einer universalen Weltanschauung, für die auch das Kleinste Sinn und Bedeutung
hat. Daß Paracelsus ein überaus starkes Naturgefühl besessen habe, gerade




Maßgebliches und Unmaßgebliches

„Die Geschichten der Erden geschehen im Himmel, ehe dies auf Erden angegangen
und geschehen ist. Als so einen träumt, das morgen geschieht, also läuft der Himmel
vor und tut alle Werke, die nachher der Mensch auf Erden vollbringt" (Paracelsus).
„Die Gestirne werden von Geistern höherer Art bewohnt, die die Schicksale der
Menschen regieren. Was in der großen Welt, im Makrokosmos, der Jupiter,
das ist Mikrokosmos im Menschen, der Quintessenz der großen Welt, die Lunge.
Ebenso ist die Sonne das Herz, die Milz Saturn, die Nieren Venus
usw. Nichts ist tot in der Natur, die Erde atmet, so auch die Pflanzen"
(man wird hier wieder an gewisse moderne Ideen von Fechner u. a. erinnert).
Aber man höre Reiche weiter: „Die Rinde ist die Haut der Pflanzen, die Blätter
sind ihre Haare, die Wurzel ihr Mund und ihr Magen, Harz und Gummi ihre
Exkremente. Nicht anders die Steine. Auch sie leben, sie essen und trinken und
geben Ausleerungen von sich. In allen vier Elementen sind unendlich viele geistige
Substanzen, im Wasser die Nymphen oder Undinen, in der Luft Sylvanen, in der
Erde die Gnomen, im Feuer die Salamander. Sie sind wie die reinen Geister
durchsichtig und unglaublich schnell, haben aber auch Körper wie die Menschen,
leben, essen und sprechen wie diese; wenn sie aber sterben, bleibt keine Seele
zurück, denn sie haben keine. Wir sehen, selbst Anklänge aus Märchen machen
sich bemerkbar." Soweit Reiche. In wunderbarer Weise verquicken sich
in solchen Anschauungen Poesie, Volksglaube, Irrtum und Ahnungen. Mag man
diese astrologischen Phantastereien einen Wahn nennen, es verrät sich doch in
solcher Vorstellungsweise das edle Naturgefühl der Germanen, die Sehnsucht nach
einer universalen Weltanschauung, für die auch das Kleinste Sinn und Bedeutung
hat. Daß Paracelsus ein überaus starkes Naturgefühl besessen habe, gerade




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[0250] Maßgebliches und Unmaßgebliches „Die Geschichten der Erden geschehen im Himmel, ehe dies auf Erden angegangen und geschehen ist. Als so einen träumt, das morgen geschieht, also läuft der Himmel vor und tut alle Werke, die nachher der Mensch auf Erden vollbringt" (Paracelsus). „Die Gestirne werden von Geistern höherer Art bewohnt, die die Schicksale der Menschen regieren. Was in der großen Welt, im Makrokosmos, der Jupiter, das ist Mikrokosmos im Menschen, der Quintessenz der großen Welt, die Lunge. Ebenso ist die Sonne das Herz, die Milz Saturn, die Nieren Venus usw. Nichts ist tot in der Natur, die Erde atmet, so auch die Pflanzen" (man wird hier wieder an gewisse moderne Ideen von Fechner u. a. erinnert). Aber man höre Reiche weiter: „Die Rinde ist die Haut der Pflanzen, die Blätter sind ihre Haare, die Wurzel ihr Mund und ihr Magen, Harz und Gummi ihre Exkremente. Nicht anders die Steine. Auch sie leben, sie essen und trinken und geben Ausleerungen von sich. In allen vier Elementen sind unendlich viele geistige Substanzen, im Wasser die Nymphen oder Undinen, in der Luft Sylvanen, in der Erde die Gnomen, im Feuer die Salamander. Sie sind wie die reinen Geister durchsichtig und unglaublich schnell, haben aber auch Körper wie die Menschen, leben, essen und sprechen wie diese; wenn sie aber sterben, bleibt keine Seele zurück, denn sie haben keine. Wir sehen, selbst Anklänge aus Märchen machen sich bemerkbar." Soweit Reiche. In wunderbarer Weise verquicken sich in solchen Anschauungen Poesie, Volksglaube, Irrtum und Ahnungen. Mag man diese astrologischen Phantastereien einen Wahn nennen, es verrät sich doch in solcher Vorstellungsweise das edle Naturgefühl der Germanen, die Sehnsucht nach einer universalen Weltanschauung, für die auch das Kleinste Sinn und Bedeutung hat. Daß Paracelsus ein überaus starkes Naturgefühl besessen habe, gerade

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/250>, abgerufen am 29.06.2024.