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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Der Superlativ in der Kritik

unfehlbar den längsten Grenadier einer Kompagnie feststellen, man kann auch
mit Hilfe der Statistik zuverlässig berechnen, welches Land in einem Jahre die
höchsten Geburtsziffern erzielt hat. Zur Abschätzung geistiger Werte ist jedoch
noch keine Goldwage erfunden worden, und im Bereiche des Geschmacks gibt
es nur subjektive Urteile und relative Maßstäbe. Der Lehrer hüte sich wohl,
irgendeinen seiner Schüler, und muß er sich über ihn noch so sehr ärgern,
sür schlechtweg den dümmsten zu erklären. Denn es könnte sich gar zu leicht
ereignen, daß dieser "Dümmste" hinterher das angenehme Talent entfaltet,
Millionen zusammenzuscharren, oder sich durch irgendeine geniale technische
Erfindung in die vorderste Reihe derZeitgenossen zu stellen. Wenn jeder schwärmende
Jüngling, der für seinen Schatz den Ruhmestitel des schönsten Mädchens im
Städtchen beansprucht, damit im Recht wäre, so gäbe es dort eben nicht ein
schönstes Mädchen, sondern deren ein Halbhundert. Man ist in Deutschland so
ungefähr darüber einig, daß Bismarck der erste Staatsmann und Richard
Wagner das stärkste musikdramatische Genie des neunzehnten Jahrhunderts
gewesen sind. Aber wenn man nach dem größten Dramatiker seit Schiller frägt,
so schwirren in bunten Durcheinander die Namen Kleist, Hebbel, Grillparzer,
Ibsen usw. durch die Luft, und über die Rangordnung innerhalb der modernen
Malerei herrscht dieselbe Uneinigkeit. Die wenigsten haben überhaupt die nötige
übersichtliche Erfahrung und umfassende Kenntnis, um eine ästhetische Einschätzung
vornehmen zu können. Genau genommen, dürfte man keiner Person oder Sache
einen bestimmten Platz anweisen, ohne die gesamte Mitbewerberschast zu kennen.
Wer mit Kühnheit einige Vorsicht paaren will, bedient sich eines einschränkenden
Wörtchens, wie "wohl" oder "vielleicht", ohne daß damit viel gewonnen wäre.
Ein Musikkritiker erklärt frischweg die und die Sängerin für die beste derzeitige
Isolde. Wenn es gut geht, hat er von einem Halbhundert namhafter Ver¬
treterinnen der Rolle ein Dutzend gesehen. Solange aber seine Kenntnis so
lückenhaft ist, fällt der Gebrauch des absoluten Superlativs unter den Begriff
des groben Unfugs. Ein anderer höchst beliebter Fall: Ein Rezensent greift
aus einem Gedicht- oder Novellenband, den er nicht ganz lesen mag, auf gut
Glück ein paar Stücke heraus und stempelt dann diese zu den Perlen der
Sammlung. Auf solche Weise wird der Superlativ allerdings zum Merkmal
eines ungenierter Draufgängertums, und Berthold Auerbach hat nicht so unrecht,
wenn er ihm durch den Mund des Hofarzts in "Auf der Höhe" den Krieg
mit den Worten erklärt: "Ich möchte der Welt für die nächsten fünfzig Jahre
jeden Superlativ verbieten; das würde die Menschen zwingen, einfacher und
bestimmter zu denken und zu empfinden." Indessen muß man sich hüten, das
Kind mit dem Bade auszuschütten. Absolute Verbote taugen selten etwas.
Man darf unsere Sprache keiner Ausdrucksmöglichkeiten berauben; denn immer
reicher soll sie werden, nicht ärmer. Genug, wenn sich der Autor prüft, ehe
er Superlative anwendet, und der Leser, ehe er -- sie glaubt.




Der Superlativ in der Kritik

unfehlbar den längsten Grenadier einer Kompagnie feststellen, man kann auch
mit Hilfe der Statistik zuverlässig berechnen, welches Land in einem Jahre die
höchsten Geburtsziffern erzielt hat. Zur Abschätzung geistiger Werte ist jedoch
noch keine Goldwage erfunden worden, und im Bereiche des Geschmacks gibt
es nur subjektive Urteile und relative Maßstäbe. Der Lehrer hüte sich wohl,
irgendeinen seiner Schüler, und muß er sich über ihn noch so sehr ärgern,
sür schlechtweg den dümmsten zu erklären. Denn es könnte sich gar zu leicht
ereignen, daß dieser „Dümmste" hinterher das angenehme Talent entfaltet,
Millionen zusammenzuscharren, oder sich durch irgendeine geniale technische
Erfindung in die vorderste Reihe derZeitgenossen zu stellen. Wenn jeder schwärmende
Jüngling, der für seinen Schatz den Ruhmestitel des schönsten Mädchens im
Städtchen beansprucht, damit im Recht wäre, so gäbe es dort eben nicht ein
schönstes Mädchen, sondern deren ein Halbhundert. Man ist in Deutschland so
ungefähr darüber einig, daß Bismarck der erste Staatsmann und Richard
Wagner das stärkste musikdramatische Genie des neunzehnten Jahrhunderts
gewesen sind. Aber wenn man nach dem größten Dramatiker seit Schiller frägt,
so schwirren in bunten Durcheinander die Namen Kleist, Hebbel, Grillparzer,
Ibsen usw. durch die Luft, und über die Rangordnung innerhalb der modernen
Malerei herrscht dieselbe Uneinigkeit. Die wenigsten haben überhaupt die nötige
übersichtliche Erfahrung und umfassende Kenntnis, um eine ästhetische Einschätzung
vornehmen zu können. Genau genommen, dürfte man keiner Person oder Sache
einen bestimmten Platz anweisen, ohne die gesamte Mitbewerberschast zu kennen.
Wer mit Kühnheit einige Vorsicht paaren will, bedient sich eines einschränkenden
Wörtchens, wie „wohl" oder „vielleicht", ohne daß damit viel gewonnen wäre.
Ein Musikkritiker erklärt frischweg die und die Sängerin für die beste derzeitige
Isolde. Wenn es gut geht, hat er von einem Halbhundert namhafter Ver¬
treterinnen der Rolle ein Dutzend gesehen. Solange aber seine Kenntnis so
lückenhaft ist, fällt der Gebrauch des absoluten Superlativs unter den Begriff
des groben Unfugs. Ein anderer höchst beliebter Fall: Ein Rezensent greift
aus einem Gedicht- oder Novellenband, den er nicht ganz lesen mag, auf gut
Glück ein paar Stücke heraus und stempelt dann diese zu den Perlen der
Sammlung. Auf solche Weise wird der Superlativ allerdings zum Merkmal
eines ungenierter Draufgängertums, und Berthold Auerbach hat nicht so unrecht,
wenn er ihm durch den Mund des Hofarzts in „Auf der Höhe" den Krieg
mit den Worten erklärt: „Ich möchte der Welt für die nächsten fünfzig Jahre
jeden Superlativ verbieten; das würde die Menschen zwingen, einfacher und
bestimmter zu denken und zu empfinden." Indessen muß man sich hüten, das
Kind mit dem Bade auszuschütten. Absolute Verbote taugen selten etwas.
Man darf unsere Sprache keiner Ausdrucksmöglichkeiten berauben; denn immer
reicher soll sie werden, nicht ärmer. Genug, wenn sich der Autor prüft, ehe
er Superlative anwendet, und der Leser, ehe er — sie glaubt.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/217>, abgerufen am 29.06.2024.