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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Der Superlativ in der Kritik

soll mir einmal auch nur ein halb Dutzend lebender deutscher Dichter herzählen,
die man nicht aus unserer Literatur ausscheiden könnte, ohne daß sich an deren
Gesamtbild etwas veränderte!

Wie es dem Menschen überhaupt naturgemäß ist, alles auf sein liebes Ich
zu beziehen, so verfällt insbesondere der Kritiker in die Schwäche, das, worüber
er gerade schreibt, für ungewöhnlich merkwürdig zu halten oder doch zu erklären.
Aus eben diesem Grunde meinen zahlreiche Biographen in den Helden ihrer
Biographie förmlich vernarrt sein und ihm jede gute Eigenschaft im Superlativ
zuerkennen zu müssen. Häufig wird ja allerdings die von Haus aus vorhandene
Vorliebe für eine Persönlichkeit den Entschluß, über sie zu schreiben, bestimmen.
Doch ist auch der umgekehrte Fall nicht selten, daß der Gegenstand dem Schrift¬
steller erst von feiten einer Redaktion oder sonst durch eine Anregung von außen
zugeworfen wird, und um so erstaunlicher ist dann die sogar für die bestellte
Arbeit aufgebotene Begeisterung.

Es gibt aber nicht nur einen Superlativ des Lobes, sondern auch einen
des Tadels, und der ist der schlimmere, weil der Haß immer mehr Schaden
anrichtet als die Liebe. Der Jugend steht die Begeisterung natürlicher zu Gesicht
als der Überdruß; nichtsdestoweniger nimmt sie häufig dessen Mienen an und
schießt dann auch, wo sie sich ablehnend verhält, weit übers Ziel hinaus. Mi߬
gunst ist am übertriebenen Ausdruck des kritischen Tadels natürlich nicht
unbeteiligt, darunter ungewollte und unbewußte. Im Schriftsteller und Kritiker
steckt meist ein Stück vom Poeten, das nicht groß genug zur selbständigen
Entfaltung ist und doch so groß, daß es zu schöpferischen Taten verlockt. So
kommt es, daß allzu viele Rezensenten unter die Schaffenden gehen, und der
Ärger über den Mißerfolg ihrer dilettantischen Versuche macht sie leicht ungerecht
gegen die Glücklicheren, die mehr inneren Beruf zu künstlerischer Gestaltung
haben. Oft wird die übertriebene Schärfe des Tadels auch dadurch verursacht,
daß -- zumal von feiten der Schulwissenschaft -- absolute ästhetische Maßstäbe
angelegt und künstlerische Leistungen nach ein für allemal festgelegten Theorien
beurteilt, in vorhandene Systeme hineingepreßt werden. Das muß zu jenen
Superlativen des Tadels führen, die nicht einmal vor den ersten literarischen
Größen Halt machen.

Nun soll man sich jedoch darüber klar sein, daß sich die grammatikalische
Steigerungsform des Superlativs mit der Möglichkeit des sprachlichen Ausdrucks
für Superlative Gefühle durchaus nicht genau deckt. Wie in allen Kultursprachen
wird der Superlativ auch im Deutschen sowohl relativ als absolut gebraucht.
Wenn wir vom schönsten Traume oder vom größten Eifer reden, so ist damit
eben ein sehr schöner Traum und ein sehr großer Eifer gemeint, und dies
beanstanden zu wollen, wäre eine lächerliche Pedanterie. Um so mehr Vorsicht
empfiehlt sich im absoluten Gebrauche des Superlativs, der -- gerade wie die
Ordnungszahlen -- Menschen oder Dingen immer einen Rang anweist, und
zwar ausschließlich den ersten oder letzten. Man kann mit dem Zollmaß


Der Superlativ in der Kritik

soll mir einmal auch nur ein halb Dutzend lebender deutscher Dichter herzählen,
die man nicht aus unserer Literatur ausscheiden könnte, ohne daß sich an deren
Gesamtbild etwas veränderte!

Wie es dem Menschen überhaupt naturgemäß ist, alles auf sein liebes Ich
zu beziehen, so verfällt insbesondere der Kritiker in die Schwäche, das, worüber
er gerade schreibt, für ungewöhnlich merkwürdig zu halten oder doch zu erklären.
Aus eben diesem Grunde meinen zahlreiche Biographen in den Helden ihrer
Biographie förmlich vernarrt sein und ihm jede gute Eigenschaft im Superlativ
zuerkennen zu müssen. Häufig wird ja allerdings die von Haus aus vorhandene
Vorliebe für eine Persönlichkeit den Entschluß, über sie zu schreiben, bestimmen.
Doch ist auch der umgekehrte Fall nicht selten, daß der Gegenstand dem Schrift¬
steller erst von feiten einer Redaktion oder sonst durch eine Anregung von außen
zugeworfen wird, und um so erstaunlicher ist dann die sogar für die bestellte
Arbeit aufgebotene Begeisterung.

Es gibt aber nicht nur einen Superlativ des Lobes, sondern auch einen
des Tadels, und der ist der schlimmere, weil der Haß immer mehr Schaden
anrichtet als die Liebe. Der Jugend steht die Begeisterung natürlicher zu Gesicht
als der Überdruß; nichtsdestoweniger nimmt sie häufig dessen Mienen an und
schießt dann auch, wo sie sich ablehnend verhält, weit übers Ziel hinaus. Mi߬
gunst ist am übertriebenen Ausdruck des kritischen Tadels natürlich nicht
unbeteiligt, darunter ungewollte und unbewußte. Im Schriftsteller und Kritiker
steckt meist ein Stück vom Poeten, das nicht groß genug zur selbständigen
Entfaltung ist und doch so groß, daß es zu schöpferischen Taten verlockt. So
kommt es, daß allzu viele Rezensenten unter die Schaffenden gehen, und der
Ärger über den Mißerfolg ihrer dilettantischen Versuche macht sie leicht ungerecht
gegen die Glücklicheren, die mehr inneren Beruf zu künstlerischer Gestaltung
haben. Oft wird die übertriebene Schärfe des Tadels auch dadurch verursacht,
daß — zumal von feiten der Schulwissenschaft — absolute ästhetische Maßstäbe
angelegt und künstlerische Leistungen nach ein für allemal festgelegten Theorien
beurteilt, in vorhandene Systeme hineingepreßt werden. Das muß zu jenen
Superlativen des Tadels führen, die nicht einmal vor den ersten literarischen
Größen Halt machen.

Nun soll man sich jedoch darüber klar sein, daß sich die grammatikalische
Steigerungsform des Superlativs mit der Möglichkeit des sprachlichen Ausdrucks
für Superlative Gefühle durchaus nicht genau deckt. Wie in allen Kultursprachen
wird der Superlativ auch im Deutschen sowohl relativ als absolut gebraucht.
Wenn wir vom schönsten Traume oder vom größten Eifer reden, so ist damit
eben ein sehr schöner Traum und ein sehr großer Eifer gemeint, und dies
beanstanden zu wollen, wäre eine lächerliche Pedanterie. Um so mehr Vorsicht
empfiehlt sich im absoluten Gebrauche des Superlativs, der — gerade wie die
Ordnungszahlen — Menschen oder Dingen immer einen Rang anweist, und
zwar ausschließlich den ersten oder letzten. Man kann mit dem Zollmaß


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[0216] Der Superlativ in der Kritik soll mir einmal auch nur ein halb Dutzend lebender deutscher Dichter herzählen, die man nicht aus unserer Literatur ausscheiden könnte, ohne daß sich an deren Gesamtbild etwas veränderte! Wie es dem Menschen überhaupt naturgemäß ist, alles auf sein liebes Ich zu beziehen, so verfällt insbesondere der Kritiker in die Schwäche, das, worüber er gerade schreibt, für ungewöhnlich merkwürdig zu halten oder doch zu erklären. Aus eben diesem Grunde meinen zahlreiche Biographen in den Helden ihrer Biographie förmlich vernarrt sein und ihm jede gute Eigenschaft im Superlativ zuerkennen zu müssen. Häufig wird ja allerdings die von Haus aus vorhandene Vorliebe für eine Persönlichkeit den Entschluß, über sie zu schreiben, bestimmen. Doch ist auch der umgekehrte Fall nicht selten, daß der Gegenstand dem Schrift¬ steller erst von feiten einer Redaktion oder sonst durch eine Anregung von außen zugeworfen wird, und um so erstaunlicher ist dann die sogar für die bestellte Arbeit aufgebotene Begeisterung. Es gibt aber nicht nur einen Superlativ des Lobes, sondern auch einen des Tadels, und der ist der schlimmere, weil der Haß immer mehr Schaden anrichtet als die Liebe. Der Jugend steht die Begeisterung natürlicher zu Gesicht als der Überdruß; nichtsdestoweniger nimmt sie häufig dessen Mienen an und schießt dann auch, wo sie sich ablehnend verhält, weit übers Ziel hinaus. Mi߬ gunst ist am übertriebenen Ausdruck des kritischen Tadels natürlich nicht unbeteiligt, darunter ungewollte und unbewußte. Im Schriftsteller und Kritiker steckt meist ein Stück vom Poeten, das nicht groß genug zur selbständigen Entfaltung ist und doch so groß, daß es zu schöpferischen Taten verlockt. So kommt es, daß allzu viele Rezensenten unter die Schaffenden gehen, und der Ärger über den Mißerfolg ihrer dilettantischen Versuche macht sie leicht ungerecht gegen die Glücklicheren, die mehr inneren Beruf zu künstlerischer Gestaltung haben. Oft wird die übertriebene Schärfe des Tadels auch dadurch verursacht, daß — zumal von feiten der Schulwissenschaft — absolute ästhetische Maßstäbe angelegt und künstlerische Leistungen nach ein für allemal festgelegten Theorien beurteilt, in vorhandene Systeme hineingepreßt werden. Das muß zu jenen Superlativen des Tadels führen, die nicht einmal vor den ersten literarischen Größen Halt machen. Nun soll man sich jedoch darüber klar sein, daß sich die grammatikalische Steigerungsform des Superlativs mit der Möglichkeit des sprachlichen Ausdrucks für Superlative Gefühle durchaus nicht genau deckt. Wie in allen Kultursprachen wird der Superlativ auch im Deutschen sowohl relativ als absolut gebraucht. Wenn wir vom schönsten Traume oder vom größten Eifer reden, so ist damit eben ein sehr schöner Traum und ein sehr großer Eifer gemeint, und dies beanstanden zu wollen, wäre eine lächerliche Pedanterie. Um so mehr Vorsicht empfiehlt sich im absoluten Gebrauche des Superlativs, der — gerade wie die Ordnungszahlen — Menschen oder Dingen immer einen Rang anweist, und zwar ausschließlich den ersten oder letzten. Man kann mit dem Zollmaß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/216>, abgerufen am 29.06.2024.