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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Der Superlativ in der Kritik

im großen liefert die Rückständigkeit des Ostens unsres Staats, des gelobten
Landes des angesessenen Landrath, auf die ich schon in meinem ersten Artikel
hingewiesen habe. Daß ein Landrat Zusammenhang mit seinem Kreise und das
Vertrauen und die Anerkennung der Kreiseingesessenen hat, ist freilich eine
unerläßliche Voraussetzung für ein gedeihliches Wirken. Aber der rechte Mann
braucht kein ganzes Leben, um sich eine solche Vertrauensstellung zu erwerben.

Und zum Schluß noch eine Frage: Wenn die Landräte alle auf Lebenszeit
in ihren Kreisen sitzen bleiben sollen, womit will man denn die leitenden
Stellungen der über den Landratsämtern stehenden Behörden besetzen? Nur
mit Erzeugnissen des grünen Tisches?




Der Superlativ in der Kritik
von R, Ar an ß

Der Aufsatz bestätigt, was alle Eingeweihten wissen und nur das große
Publikum ständig bezweifelt. Nämlich daß neun Zehntel aller Gegenwartskritik
dem Kritisierten dick zu günstig gegenüberstehen. Mag hier und da ein Anfänger,
um sich Sporen zu verdienen, einen Körner einmal verreißen, die Mehrzahl
aller Kritiker urteilt viel zu milde, und zwar wohlwollend. Man braucht nur
einmal zurückzudenken und zu schätzen, wie viel wertvolle Bücher aus dem
letzten Jahrzehnt geschrieben zu nennen sind: man kommt kaum höher als aus
zwei bis drei Dutzend. Liest man die gleichzeitigen Zeitungen und Zeitschriften,
so müßten jährlich ein Paar hundert ans Licht gekommen sein. Trotzdem glaubt
das jeweilige Gegenwartspublikum von den Kritikern mit hohen Ansprüchen,
D. Schriftltg. von den wählerischen Geistern stets, sie urteilten zu hart.

er Superlativ hat eine bejahende und eine verneinende Seite.
Im positiven Sinn ist er das Symbol der Begeisterung, der
Verzückung, der dithyrambischen Stimmung und artet leicht zur
Übertreibung, zum Überschwang, zur Überspanntheit aus; nicht
ohne Grund hat man schon von einem Rausche des Superlativs
geredet. Er steht darum dem Kritiker übel an, dem keine Gesühlsschwelgerei
die Klarheit des Blicks und die Besonnenheit des Urteils trüben darf. Das
große Publikum, das noch immer von einer fast unglaublichen Hochachtung vor
der geheimnisvollen Macht des Gedruckten erfüllt ist, versteht sich nicht genügend
auf die Kunst, von der zur Schau getragenen Begeisterung die nötigen Abzüge
zu machen, und läßt sich so durch die Lobeshymnen von Superlativkritikern
ganz falsche Vorstellungen über den Wert von Kunstwerken beibringen. Und
was soll ein Kritiker, der sich fortgesetzt in Ekstase befindet, tun, wenn er sich
nun einmal wahrhaft Außerordentlichein gegenübergestellt sieht? Er hat sein


Grenzboten it 1910 26
Der Superlativ in der Kritik

im großen liefert die Rückständigkeit des Ostens unsres Staats, des gelobten
Landes des angesessenen Landrath, auf die ich schon in meinem ersten Artikel
hingewiesen habe. Daß ein Landrat Zusammenhang mit seinem Kreise und das
Vertrauen und die Anerkennung der Kreiseingesessenen hat, ist freilich eine
unerläßliche Voraussetzung für ein gedeihliches Wirken. Aber der rechte Mann
braucht kein ganzes Leben, um sich eine solche Vertrauensstellung zu erwerben.

Und zum Schluß noch eine Frage: Wenn die Landräte alle auf Lebenszeit
in ihren Kreisen sitzen bleiben sollen, womit will man denn die leitenden
Stellungen der über den Landratsämtern stehenden Behörden besetzen? Nur
mit Erzeugnissen des grünen Tisches?




Der Superlativ in der Kritik
von R, Ar an ß

Der Aufsatz bestätigt, was alle Eingeweihten wissen und nur das große
Publikum ständig bezweifelt. Nämlich daß neun Zehntel aller Gegenwartskritik
dem Kritisierten dick zu günstig gegenüberstehen. Mag hier und da ein Anfänger,
um sich Sporen zu verdienen, einen Körner einmal verreißen, die Mehrzahl
aller Kritiker urteilt viel zu milde, und zwar wohlwollend. Man braucht nur
einmal zurückzudenken und zu schätzen, wie viel wertvolle Bücher aus dem
letzten Jahrzehnt geschrieben zu nennen sind: man kommt kaum höher als aus
zwei bis drei Dutzend. Liest man die gleichzeitigen Zeitungen und Zeitschriften,
so müßten jährlich ein Paar hundert ans Licht gekommen sein. Trotzdem glaubt
das jeweilige Gegenwartspublikum von den Kritikern mit hohen Ansprüchen,
D. Schriftltg. von den wählerischen Geistern stets, sie urteilten zu hart.

er Superlativ hat eine bejahende und eine verneinende Seite.
Im positiven Sinn ist er das Symbol der Begeisterung, der
Verzückung, der dithyrambischen Stimmung und artet leicht zur
Übertreibung, zum Überschwang, zur Überspanntheit aus; nicht
ohne Grund hat man schon von einem Rausche des Superlativs
geredet. Er steht darum dem Kritiker übel an, dem keine Gesühlsschwelgerei
die Klarheit des Blicks und die Besonnenheit des Urteils trüben darf. Das
große Publikum, das noch immer von einer fast unglaublichen Hochachtung vor
der geheimnisvollen Macht des Gedruckten erfüllt ist, versteht sich nicht genügend
auf die Kunst, von der zur Schau getragenen Begeisterung die nötigen Abzüge
zu machen, und läßt sich so durch die Lobeshymnen von Superlativkritikern
ganz falsche Vorstellungen über den Wert von Kunstwerken beibringen. Und
was soll ein Kritiker, der sich fortgesetzt in Ekstase befindet, tun, wenn er sich
nun einmal wahrhaft Außerordentlichein gegenübergestellt sieht? Er hat sein


Grenzboten it 1910 26
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[0213] Der Superlativ in der Kritik im großen liefert die Rückständigkeit des Ostens unsres Staats, des gelobten Landes des angesessenen Landrath, auf die ich schon in meinem ersten Artikel hingewiesen habe. Daß ein Landrat Zusammenhang mit seinem Kreise und das Vertrauen und die Anerkennung der Kreiseingesessenen hat, ist freilich eine unerläßliche Voraussetzung für ein gedeihliches Wirken. Aber der rechte Mann braucht kein ganzes Leben, um sich eine solche Vertrauensstellung zu erwerben. Und zum Schluß noch eine Frage: Wenn die Landräte alle auf Lebenszeit in ihren Kreisen sitzen bleiben sollen, womit will man denn die leitenden Stellungen der über den Landratsämtern stehenden Behörden besetzen? Nur mit Erzeugnissen des grünen Tisches? Der Superlativ in der Kritik von R, Ar an ß Der Aufsatz bestätigt, was alle Eingeweihten wissen und nur das große Publikum ständig bezweifelt. Nämlich daß neun Zehntel aller Gegenwartskritik dem Kritisierten dick zu günstig gegenüberstehen. Mag hier und da ein Anfänger, um sich Sporen zu verdienen, einen Körner einmal verreißen, die Mehrzahl aller Kritiker urteilt viel zu milde, und zwar wohlwollend. Man braucht nur einmal zurückzudenken und zu schätzen, wie viel wertvolle Bücher aus dem letzten Jahrzehnt geschrieben zu nennen sind: man kommt kaum höher als aus zwei bis drei Dutzend. Liest man die gleichzeitigen Zeitungen und Zeitschriften, so müßten jährlich ein Paar hundert ans Licht gekommen sein. Trotzdem glaubt das jeweilige Gegenwartspublikum von den Kritikern mit hohen Ansprüchen, D. Schriftltg. von den wählerischen Geistern stets, sie urteilten zu hart. er Superlativ hat eine bejahende und eine verneinende Seite. Im positiven Sinn ist er das Symbol der Begeisterung, der Verzückung, der dithyrambischen Stimmung und artet leicht zur Übertreibung, zum Überschwang, zur Überspanntheit aus; nicht ohne Grund hat man schon von einem Rausche des Superlativs geredet. Er steht darum dem Kritiker übel an, dem keine Gesühlsschwelgerei die Klarheit des Blicks und die Besonnenheit des Urteils trüben darf. Das große Publikum, das noch immer von einer fast unglaublichen Hochachtung vor der geheimnisvollen Macht des Gedruckten erfüllt ist, versteht sich nicht genügend auf die Kunst, von der zur Schau getragenen Begeisterung die nötigen Abzüge zu machen, und läßt sich so durch die Lobeshymnen von Superlativkritikern ganz falsche Vorstellungen über den Wert von Kunstwerken beibringen. Und was soll ein Kritiker, der sich fortgesetzt in Ekstase befindet, tun, wenn er sich nun einmal wahrhaft Außerordentlichein gegenübergestellt sieht? Er hat sein Grenzboten it 1910 26

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/213>, abgerufen am 29.06.2024.