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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Bedeutung und Vollzug der Haftstrafe

Es bleiben da nur zwei Alternativen. Entweder die Haftstrafe erfüllt die
Erwartung der Redaktion des Entwurfs, die bürgerliche Ehre des Bestraften
unberührt zu lassen, dann muß sich im Volke die Überzeugung festsetzen, daß
Betteln, Landstreicher usw. keine ehrenrühriger Taten sind, oder, was wahr¬
scheinlich geschehen wird, sie erfüllt diese Erwartung nicht, dann heftet sie
Personen, die das Gesetz wohl mit Freiheitsentziehung bestrafen, deren Ehre es
aber mit Recht unberührt lassen will, einen Makel an. der in keinem Verhältnis
zu ihrer Tat steht und vom Gesetze selbst nicht gewollt ist.

Wie denkt man sich z. B. die Wirkung auf Gericht und Zuhörerraum,
wenn ein Landstreicher, den: der Vorsitzende seine siebzig bis hundert Vorstrafen
vorhält, kaltblütig antwortet: "Das ist nicht so schlimm, wie das aussieht, hoher
Gerichtshof, der Herr Schöffe hier z.B. hat wegen einer einzigen Sache
länger in Haft gesessen, als ich alles zusammengenommen in meinem
ganzen Leben."

Der H 20 des Vorentmurfs bestimmt, daß Haftstrafen in besonderen Anstalten
oder in besonderen Abteilungen zu vollstrecken sind, so daß Haftgefangene mit
andern Gefangenen nicht in Berührung kommen. Sicher ist diese Bestimmung
mit Freuden zu begrüßen. Die räumliche Trennung der Haftgefangenen von
andern Gefangenen fällt dem Volk ins Auge und erscheint wohl als geeignetes
Mittel, die Haft tatsächlich zu einer die bürgerliche Geltung unberührt lassenden
Strafe zu machen. Fraglich ist indessen, ob die Trennung in besonderen
Abteilungen derselben Anstalt ausreichend ist, diesen Zweck zu erreichen. Gewiß
wird es bei der großen Zahl der nach dem Entwurf voraussichtlich zur Voll¬
streckung kommenden Haftstrafen aus fiskalischen Gründen gar nicht möglich sein,
so viel besondere Anstalten zu errichten, als erforderlich wären, um alle Haft-
strnsen in besonderen Anstalten zu vollstrecken. Der triviale Geldpunkt darf
aber nicht hindern, die Konsequenzen dieser Unvollkommenheit richtig zu erkennen
und zu würdigen.

Dem Volke (und ich verstehe unter Volk stets auch die gebildeten Kreise)
ist im allgemeinen nur die Anstalt bekannt, in der eine Strafe vollstreckt wird.
Diese Anstalt, sie wird im Volksmund wohl auch weiter den Namen Gefängnis
behalten, sieht das Volk. Ihre innere Einrichtung entzieht sich größtenteils
seiner Kenntnis und ist für die meisten Menschen, die nicht selbst mit dem
Gesetze in Konflikt kommen, auch ohne Interesse. In dieser Anstalt hat dieser
oder jener Mann "gesessen". Er hat also im Gefängnis gesessen. Das ist der
Makel, der dem Haftbestraften anhaften wird und sich weder durch Ausspruch
des Gesetzes noch auch durch Trennung der Anstalt, in besondere Abteilungen
für mit Haft und mit Gefängnis bestrafte Personen, vermeiden läßt.

Nach Z 20 des Vorentwurfs soll die Haft eine einfache Freiheitsentziehung
mit Beaufsichtigung der Beschäftigung und der Lebensweise sein. Die Begründung
hebt mit vollem Recht die sittliche Bedeutung nützlicher Tätigkeit hervor und
verlangt auch von den Haftgefangeuen eine angemessene Beschäftigung. Bei


Bedeutung und Vollzug der Haftstrafe

Es bleiben da nur zwei Alternativen. Entweder die Haftstrafe erfüllt die
Erwartung der Redaktion des Entwurfs, die bürgerliche Ehre des Bestraften
unberührt zu lassen, dann muß sich im Volke die Überzeugung festsetzen, daß
Betteln, Landstreicher usw. keine ehrenrühriger Taten sind, oder, was wahr¬
scheinlich geschehen wird, sie erfüllt diese Erwartung nicht, dann heftet sie
Personen, die das Gesetz wohl mit Freiheitsentziehung bestrafen, deren Ehre es
aber mit Recht unberührt lassen will, einen Makel an. der in keinem Verhältnis
zu ihrer Tat steht und vom Gesetze selbst nicht gewollt ist.

Wie denkt man sich z. B. die Wirkung auf Gericht und Zuhörerraum,
wenn ein Landstreicher, den: der Vorsitzende seine siebzig bis hundert Vorstrafen
vorhält, kaltblütig antwortet: „Das ist nicht so schlimm, wie das aussieht, hoher
Gerichtshof, der Herr Schöffe hier z.B. hat wegen einer einzigen Sache
länger in Haft gesessen, als ich alles zusammengenommen in meinem
ganzen Leben."

Der H 20 des Vorentmurfs bestimmt, daß Haftstrafen in besonderen Anstalten
oder in besonderen Abteilungen zu vollstrecken sind, so daß Haftgefangene mit
andern Gefangenen nicht in Berührung kommen. Sicher ist diese Bestimmung
mit Freuden zu begrüßen. Die räumliche Trennung der Haftgefangenen von
andern Gefangenen fällt dem Volk ins Auge und erscheint wohl als geeignetes
Mittel, die Haft tatsächlich zu einer die bürgerliche Geltung unberührt lassenden
Strafe zu machen. Fraglich ist indessen, ob die Trennung in besonderen
Abteilungen derselben Anstalt ausreichend ist, diesen Zweck zu erreichen. Gewiß
wird es bei der großen Zahl der nach dem Entwurf voraussichtlich zur Voll¬
streckung kommenden Haftstrafen aus fiskalischen Gründen gar nicht möglich sein,
so viel besondere Anstalten zu errichten, als erforderlich wären, um alle Haft-
strnsen in besonderen Anstalten zu vollstrecken. Der triviale Geldpunkt darf
aber nicht hindern, die Konsequenzen dieser Unvollkommenheit richtig zu erkennen
und zu würdigen.

Dem Volke (und ich verstehe unter Volk stets auch die gebildeten Kreise)
ist im allgemeinen nur die Anstalt bekannt, in der eine Strafe vollstreckt wird.
Diese Anstalt, sie wird im Volksmund wohl auch weiter den Namen Gefängnis
behalten, sieht das Volk. Ihre innere Einrichtung entzieht sich größtenteils
seiner Kenntnis und ist für die meisten Menschen, die nicht selbst mit dem
Gesetze in Konflikt kommen, auch ohne Interesse. In dieser Anstalt hat dieser
oder jener Mann „gesessen". Er hat also im Gefängnis gesessen. Das ist der
Makel, der dem Haftbestraften anhaften wird und sich weder durch Ausspruch
des Gesetzes noch auch durch Trennung der Anstalt, in besondere Abteilungen
für mit Haft und mit Gefängnis bestrafte Personen, vermeiden läßt.

Nach Z 20 des Vorentwurfs soll die Haft eine einfache Freiheitsentziehung
mit Beaufsichtigung der Beschäftigung und der Lebensweise sein. Die Begründung
hebt mit vollem Recht die sittliche Bedeutung nützlicher Tätigkeit hervor und
verlangt auch von den Haftgefangeuen eine angemessene Beschäftigung. Bei


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[0177] Bedeutung und Vollzug der Haftstrafe Es bleiben da nur zwei Alternativen. Entweder die Haftstrafe erfüllt die Erwartung der Redaktion des Entwurfs, die bürgerliche Ehre des Bestraften unberührt zu lassen, dann muß sich im Volke die Überzeugung festsetzen, daß Betteln, Landstreicher usw. keine ehrenrühriger Taten sind, oder, was wahr¬ scheinlich geschehen wird, sie erfüllt diese Erwartung nicht, dann heftet sie Personen, die das Gesetz wohl mit Freiheitsentziehung bestrafen, deren Ehre es aber mit Recht unberührt lassen will, einen Makel an. der in keinem Verhältnis zu ihrer Tat steht und vom Gesetze selbst nicht gewollt ist. Wie denkt man sich z. B. die Wirkung auf Gericht und Zuhörerraum, wenn ein Landstreicher, den: der Vorsitzende seine siebzig bis hundert Vorstrafen vorhält, kaltblütig antwortet: „Das ist nicht so schlimm, wie das aussieht, hoher Gerichtshof, der Herr Schöffe hier z.B. hat wegen einer einzigen Sache länger in Haft gesessen, als ich alles zusammengenommen in meinem ganzen Leben." Der H 20 des Vorentmurfs bestimmt, daß Haftstrafen in besonderen Anstalten oder in besonderen Abteilungen zu vollstrecken sind, so daß Haftgefangene mit andern Gefangenen nicht in Berührung kommen. Sicher ist diese Bestimmung mit Freuden zu begrüßen. Die räumliche Trennung der Haftgefangenen von andern Gefangenen fällt dem Volk ins Auge und erscheint wohl als geeignetes Mittel, die Haft tatsächlich zu einer die bürgerliche Geltung unberührt lassenden Strafe zu machen. Fraglich ist indessen, ob die Trennung in besonderen Abteilungen derselben Anstalt ausreichend ist, diesen Zweck zu erreichen. Gewiß wird es bei der großen Zahl der nach dem Entwurf voraussichtlich zur Voll¬ streckung kommenden Haftstrafen aus fiskalischen Gründen gar nicht möglich sein, so viel besondere Anstalten zu errichten, als erforderlich wären, um alle Haft- strnsen in besonderen Anstalten zu vollstrecken. Der triviale Geldpunkt darf aber nicht hindern, die Konsequenzen dieser Unvollkommenheit richtig zu erkennen und zu würdigen. Dem Volke (und ich verstehe unter Volk stets auch die gebildeten Kreise) ist im allgemeinen nur die Anstalt bekannt, in der eine Strafe vollstreckt wird. Diese Anstalt, sie wird im Volksmund wohl auch weiter den Namen Gefängnis behalten, sieht das Volk. Ihre innere Einrichtung entzieht sich größtenteils seiner Kenntnis und ist für die meisten Menschen, die nicht selbst mit dem Gesetze in Konflikt kommen, auch ohne Interesse. In dieser Anstalt hat dieser oder jener Mann „gesessen". Er hat also im Gefängnis gesessen. Das ist der Makel, der dem Haftbestraften anhaften wird und sich weder durch Ausspruch des Gesetzes noch auch durch Trennung der Anstalt, in besondere Abteilungen für mit Haft und mit Gefängnis bestrafte Personen, vermeiden läßt. Nach Z 20 des Vorentwurfs soll die Haft eine einfache Freiheitsentziehung mit Beaufsichtigung der Beschäftigung und der Lebensweise sein. Die Begründung hebt mit vollem Recht die sittliche Bedeutung nützlicher Tätigkeit hervor und verlangt auch von den Haftgefangeuen eine angemessene Beschäftigung. Bei

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/177>, abgerufen am 29.06.2024.