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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Das Aulturproblem und die Religion

"O blicke nicht nach dein, was jedem fehlt;
Betrachte, wils noch einem jeden bleibt!"

Und an ebendieses, was noch jedem bleibt, knüpft er mit seiner Liebe,
seinein Schaffen an. Denn er weiß, um mit Kant zu reden, daß er jeden um
besser machen kann "durch den Rest des Guten, der in ihm ist", das; er jeden
nur klüger machen kann "durch den Rest der Klugheit, die in ihm ist". Diesen
Rest zu sehen, und wenn er unsichtbar wäre, an ihn zu glauben und durch
solchen Glauben dem anderen das Zutrauen zu sich selber und seinen: innersten
Sein erst einmal wiederzugeben und ihn so schaffend zu machen durch sich selber,
das wird ihm der selbstverständliche Weg seiner Arbeit am Menschen sein.

Wir müssen also Glauben haben, Glauben an den Menschen und an das
Heiligtum in seinem Inneren. Wir müssen glauben, daß Mensch und Menschen¬
leben nicht dazu da sind, um Gegenstand intellektueller, ästhetischer, moralisierender
und kirchlicher Sondertendenzen zu sein, sondern vielmehr dazu, um aus der
Totalität der vorhandenen Kräftemitgift zu möglichster Reinheit, Höhe und
Einheit emporgestaltet zu werden. Diesen großen Glauben kaun sich aber zuletzt
nur der dauernd erhalten, der in sich selber den waltenden, einheitlichen
Schöpfungswillen Seele in Seele fühlt und ihm zu gehorchen vor allem anderen
entschlossen ist.

Und wenn es an dem ist, dann lautet das allseitige Ergebnis dieser
unserer Betrachtung: Nur auf dem Boden solchen Fühlens, Vertrauens und
Gehorchens ist Kultur im wahren Sinne möglich. Dieses Gefühls-, Vertraueus-
uud Gehorsamsverhältnis gegenüber dem zentralen seelischen Schöpfungswillen
nennen wir aber: Religion. Denn Religion hat allen wirklichen Religiösen
nie etwas anderes als dieses eine geheißen: in allen Kräfteverzweigungen und
Kräftebetätigungen der Vollstrecker des innersten Schöpfungswillens zu sein, der
aus der Einheit unseres Wesens und nach allen Richtungen seine Befehle gibt
und uns, wenn wir ihm folgen, so sicher und gewiß aus dem Zusammenhang
unserer Kräfte zur möglichst vollkommenen Selbstdarstellung gelangen läßt, wie
er es am Löwen tut aus dessen Kräfteeinheit und an der Pflanze aus der
ihrigen. In diesen: Sinne ist Religion, als Leben aus der Wurzeleinheit alles
Seins, der Einheitsgrund unserer Persönlichkeit und der Quellgrund der Kultur.
Und wahre Kultur ist nichts als Selbstdarstellung der Seele im ganzen Bereiche
ihres Handelns und Schaffens.


"Suchst du das Höchste, das Größte? Die Pflanze kann es dich lehren:
Was sie willenlos ist, sei du es wollend -- das ist's!



Das Aulturproblem und die Religion

„O blicke nicht nach dein, was jedem fehlt;
Betrachte, wils noch einem jeden bleibt!"

Und an ebendieses, was noch jedem bleibt, knüpft er mit seiner Liebe,
seinein Schaffen an. Denn er weiß, um mit Kant zu reden, daß er jeden um
besser machen kann „durch den Rest des Guten, der in ihm ist", das; er jeden
nur klüger machen kann „durch den Rest der Klugheit, die in ihm ist". Diesen
Rest zu sehen, und wenn er unsichtbar wäre, an ihn zu glauben und durch
solchen Glauben dem anderen das Zutrauen zu sich selber und seinen: innersten
Sein erst einmal wiederzugeben und ihn so schaffend zu machen durch sich selber,
das wird ihm der selbstverständliche Weg seiner Arbeit am Menschen sein.

Wir müssen also Glauben haben, Glauben an den Menschen und an das
Heiligtum in seinem Inneren. Wir müssen glauben, daß Mensch und Menschen¬
leben nicht dazu da sind, um Gegenstand intellektueller, ästhetischer, moralisierender
und kirchlicher Sondertendenzen zu sein, sondern vielmehr dazu, um aus der
Totalität der vorhandenen Kräftemitgift zu möglichster Reinheit, Höhe und
Einheit emporgestaltet zu werden. Diesen großen Glauben kaun sich aber zuletzt
nur der dauernd erhalten, der in sich selber den waltenden, einheitlichen
Schöpfungswillen Seele in Seele fühlt und ihm zu gehorchen vor allem anderen
entschlossen ist.

Und wenn es an dem ist, dann lautet das allseitige Ergebnis dieser
unserer Betrachtung: Nur auf dem Boden solchen Fühlens, Vertrauens und
Gehorchens ist Kultur im wahren Sinne möglich. Dieses Gefühls-, Vertraueus-
uud Gehorsamsverhältnis gegenüber dem zentralen seelischen Schöpfungswillen
nennen wir aber: Religion. Denn Religion hat allen wirklichen Religiösen
nie etwas anderes als dieses eine geheißen: in allen Kräfteverzweigungen und
Kräftebetätigungen der Vollstrecker des innersten Schöpfungswillens zu sein, der
aus der Einheit unseres Wesens und nach allen Richtungen seine Befehle gibt
und uns, wenn wir ihm folgen, so sicher und gewiß aus dem Zusammenhang
unserer Kräfte zur möglichst vollkommenen Selbstdarstellung gelangen läßt, wie
er es am Löwen tut aus dessen Kräfteeinheit und an der Pflanze aus der
ihrigen. In diesen: Sinne ist Religion, als Leben aus der Wurzeleinheit alles
Seins, der Einheitsgrund unserer Persönlichkeit und der Quellgrund der Kultur.
Und wahre Kultur ist nichts als Selbstdarstellung der Seele im ganzen Bereiche
ihres Handelns und Schaffens.


„Suchst du das Höchste, das Größte? Die Pflanze kann es dich lehren:
Was sie willenlos ist, sei du es wollend — das ist's!



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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/174>, abgerufen am 29.06.2024.