Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das Kulturproblcm und die Religion

Handschuhe nichts, mit Zugreifen und Helfen allein dem Lebenswillen gedient
wird. Und wer dem unmittelbar in uns schaffenden Lebenswillen nicht gehorcht,
der kann wohl ein Schmarotzer am Tische des Lebens sein, nie aber einer, der
selber gesunden und starken Beitrag zu Leben und Kultur zu leisten vermag.

Nicht anders steht es schließlich aber auch mit den? religiösen und
moralischen Triebe. Auch sie können beide nicht gesund bleiben und gesunden
Lebensbeitrag liefern, wenn sie sich von der Totalität unseres Seins loslösen
und statt des Ganzen nur sich selber kultivieren und zum Selbstgenusse machen.

Denn dann neigen sie beide sofort dazu, nur bestimmte, ihnen charakteristische
Äußerungen zu pflegen; die Religion etwa das Gebet und die Gemeinschaft,
die Moral das moralische Urteil und diese oder jene Gesetzlichkeiten und Kon-
ventionen. Und über der Pflege dieser ihrer speziellsten Äußerungen stellen
sie den inneren Quell selber und sein urspri'mgliches, zentrales, alles durch¬
flutendes Schaffen still. Und dann ist es um Religion und Moral im tiefen
und lebendigen Sinne geschehen. '

Die Religion wird zu Formeln und Gebeten, zu ausschließenden Lehren
und Lehrstreitigkeiten über alles und noch etwas, und jedenfalls zu einer Sache,
die man, wie anderes auch, und neben dem anderen, abmacht, damit sie abgemacht ist.

Die Moral aber wird, sobald sie sich in sich selbst verliebt, unfehlbar zum
Mvralismus. Aller Moralismus schädigt das Leben aber gerade dadurch so
sehr, daß er es immer nur sittlich be- und verurteilen, statt liebend schaffen
und höherführen will. Wer sich moralisch fühlt, wenn er die Welt moralisch
beurteilt, der züchtet es sich an, nur immer das Manko an allem Leben zu
sehen und ebendcmach seine spitzen, scharfen Pfeile zu schießen. Und je moralischer
er sich dabei vorkommt, um so schwärzer wird sich bald das ganze menschliche
Leben und Treiben in seinen Augen malen. Bald wird er im Hintergrunde
jeder und auch der edelsten Tat doch noch ein zweites Motiv, ein geheimes
und gemeines Gefühlchen erst wittern und dann auch gefunden zu haben glauben,
bis er schließlich nur noch darin die Wahrheit und in allem Edlen nur Trug,
Schein und Spiegelfechterei sieht.

Man lese einmal daraufhin die vielgepriesenen "Maximen" de la Roche-
fouccmlds und auch vieles vom großen Moralisten Nietzsche. Das Rezept
ist im Grunde recht einfach und überall, und vor allem gegen die Gegner,
geistreich zu verwenden: Alles Gute hat zu seiner Kehrseite ein Schlechtes, dies
Schlechte vor sich und den anderen zu verbergen, wendet der nichtsnutzige
Mensch nach außen dessen Widerspiel: das Gute; wir aber entlarven ihn und
zeigen seine Achterseite!

Auf diesem Wege wird dann freilich alles zerfetzt und zersetzt und nichts
Gutes an der Menschheit gelassen. Wem dagegen das große, heilige Wunder
der Welt nicht dazu da ist, daß es moralisch veralbert und geschändet, sondern
in der Richtung auf lebendige Kräfteeinheit auferbaut und schaffend gemacht
werde, der steht unter dem Goethewort:


Grcnzboien II 1910 21
Das Kulturproblcm und die Religion

Handschuhe nichts, mit Zugreifen und Helfen allein dem Lebenswillen gedient
wird. Und wer dem unmittelbar in uns schaffenden Lebenswillen nicht gehorcht,
der kann wohl ein Schmarotzer am Tische des Lebens sein, nie aber einer, der
selber gesunden und starken Beitrag zu Leben und Kultur zu leisten vermag.

Nicht anders steht es schließlich aber auch mit den? religiösen und
moralischen Triebe. Auch sie können beide nicht gesund bleiben und gesunden
Lebensbeitrag liefern, wenn sie sich von der Totalität unseres Seins loslösen
und statt des Ganzen nur sich selber kultivieren und zum Selbstgenusse machen.

Denn dann neigen sie beide sofort dazu, nur bestimmte, ihnen charakteristische
Äußerungen zu pflegen; die Religion etwa das Gebet und die Gemeinschaft,
die Moral das moralische Urteil und diese oder jene Gesetzlichkeiten und Kon-
ventionen. Und über der Pflege dieser ihrer speziellsten Äußerungen stellen
sie den inneren Quell selber und sein urspri'mgliches, zentrales, alles durch¬
flutendes Schaffen still. Und dann ist es um Religion und Moral im tiefen
und lebendigen Sinne geschehen. '

Die Religion wird zu Formeln und Gebeten, zu ausschließenden Lehren
und Lehrstreitigkeiten über alles und noch etwas, und jedenfalls zu einer Sache,
die man, wie anderes auch, und neben dem anderen, abmacht, damit sie abgemacht ist.

Die Moral aber wird, sobald sie sich in sich selbst verliebt, unfehlbar zum
Mvralismus. Aller Moralismus schädigt das Leben aber gerade dadurch so
sehr, daß er es immer nur sittlich be- und verurteilen, statt liebend schaffen
und höherführen will. Wer sich moralisch fühlt, wenn er die Welt moralisch
beurteilt, der züchtet es sich an, nur immer das Manko an allem Leben zu
sehen und ebendcmach seine spitzen, scharfen Pfeile zu schießen. Und je moralischer
er sich dabei vorkommt, um so schwärzer wird sich bald das ganze menschliche
Leben und Treiben in seinen Augen malen. Bald wird er im Hintergrunde
jeder und auch der edelsten Tat doch noch ein zweites Motiv, ein geheimes
und gemeines Gefühlchen erst wittern und dann auch gefunden zu haben glauben,
bis er schließlich nur noch darin die Wahrheit und in allem Edlen nur Trug,
Schein und Spiegelfechterei sieht.

Man lese einmal daraufhin die vielgepriesenen „Maximen" de la Roche-
fouccmlds und auch vieles vom großen Moralisten Nietzsche. Das Rezept
ist im Grunde recht einfach und überall, und vor allem gegen die Gegner,
geistreich zu verwenden: Alles Gute hat zu seiner Kehrseite ein Schlechtes, dies
Schlechte vor sich und den anderen zu verbergen, wendet der nichtsnutzige
Mensch nach außen dessen Widerspiel: das Gute; wir aber entlarven ihn und
zeigen seine Achterseite!

Auf diesem Wege wird dann freilich alles zerfetzt und zersetzt und nichts
Gutes an der Menschheit gelassen. Wem dagegen das große, heilige Wunder
der Welt nicht dazu da ist, daß es moralisch veralbert und geschändet, sondern
in der Richtung auf lebendige Kräfteeinheit auferbaut und schaffend gemacht
werde, der steht unter dem Goethewort:


Grcnzboien II 1910 21
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0173" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/315812"/>
            <fw type="header" place="top"> Das Kulturproblcm und die Religion</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_895" prev="#ID_894"> Handschuhe nichts, mit Zugreifen und Helfen allein dem Lebenswillen gedient<lb/>
wird. Und wer dem unmittelbar in uns schaffenden Lebenswillen nicht gehorcht,<lb/>
der kann wohl ein Schmarotzer am Tische des Lebens sein, nie aber einer, der<lb/>
selber gesunden und starken Beitrag zu Leben und Kultur zu leisten vermag.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_896"> Nicht anders steht es schließlich aber auch mit den? religiösen und<lb/>
moralischen Triebe. Auch sie können beide nicht gesund bleiben und gesunden<lb/>
Lebensbeitrag liefern, wenn sie sich von der Totalität unseres Seins loslösen<lb/>
und statt des Ganzen nur sich selber kultivieren und zum Selbstgenusse machen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_897"> Denn dann neigen sie beide sofort dazu, nur bestimmte, ihnen charakteristische<lb/>
Äußerungen zu pflegen; die Religion etwa das Gebet und die Gemeinschaft,<lb/>
die Moral das moralische Urteil und diese oder jene Gesetzlichkeiten und Kon-<lb/>
ventionen. Und über der Pflege dieser ihrer speziellsten Äußerungen stellen<lb/>
sie den inneren Quell selber und sein urspri'mgliches, zentrales, alles durch¬<lb/>
flutendes Schaffen still. Und dann ist es um Religion und Moral im tiefen<lb/>
und lebendigen Sinne geschehen. '</p><lb/>
            <p xml:id="ID_898"> Die Religion wird zu Formeln und Gebeten, zu ausschließenden Lehren<lb/>
und Lehrstreitigkeiten über alles und noch etwas, und jedenfalls zu einer Sache,<lb/>
die man, wie anderes auch, und neben dem anderen, abmacht, damit sie abgemacht ist.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_899"> Die Moral aber wird, sobald sie sich in sich selbst verliebt, unfehlbar zum<lb/>
Mvralismus. Aller Moralismus schädigt das Leben aber gerade dadurch so<lb/>
sehr, daß er es immer nur sittlich be- und verurteilen, statt liebend schaffen<lb/>
und höherführen will. Wer sich moralisch fühlt, wenn er die Welt moralisch<lb/>
beurteilt, der züchtet es sich an, nur immer das Manko an allem Leben zu<lb/>
sehen und ebendcmach seine spitzen, scharfen Pfeile zu schießen. Und je moralischer<lb/>
er sich dabei vorkommt, um so schwärzer wird sich bald das ganze menschliche<lb/>
Leben und Treiben in seinen Augen malen. Bald wird er im Hintergrunde<lb/>
jeder und auch der edelsten Tat doch noch ein zweites Motiv, ein geheimes<lb/>
und gemeines Gefühlchen erst wittern und dann auch gefunden zu haben glauben,<lb/>
bis er schließlich nur noch darin die Wahrheit und in allem Edlen nur Trug,<lb/>
Schein und Spiegelfechterei sieht.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_900"> Man lese einmal daraufhin die vielgepriesenen &#x201E;Maximen" de la Roche-<lb/>
fouccmlds und auch vieles vom großen Moralisten Nietzsche. Das Rezept<lb/>
ist im Grunde recht einfach und überall, und vor allem gegen die Gegner,<lb/>
geistreich zu verwenden: Alles Gute hat zu seiner Kehrseite ein Schlechtes, dies<lb/>
Schlechte vor sich und den anderen zu verbergen, wendet der nichtsnutzige<lb/>
Mensch nach außen dessen Widerspiel: das Gute; wir aber entlarven ihn und<lb/>
zeigen seine Achterseite!</p><lb/>
            <p xml:id="ID_901"> Auf diesem Wege wird dann freilich alles zerfetzt und zersetzt und nichts<lb/>
Gutes an der Menschheit gelassen. Wem dagegen das große, heilige Wunder<lb/>
der Welt nicht dazu da ist, daß es moralisch veralbert und geschändet, sondern<lb/>
in der Richtung auf lebendige Kräfteeinheit auferbaut und schaffend gemacht<lb/>
werde, der steht unter dem Goethewort:</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> Grcnzboien II 1910 21</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0173] Das Kulturproblcm und die Religion Handschuhe nichts, mit Zugreifen und Helfen allein dem Lebenswillen gedient wird. Und wer dem unmittelbar in uns schaffenden Lebenswillen nicht gehorcht, der kann wohl ein Schmarotzer am Tische des Lebens sein, nie aber einer, der selber gesunden und starken Beitrag zu Leben und Kultur zu leisten vermag. Nicht anders steht es schließlich aber auch mit den? religiösen und moralischen Triebe. Auch sie können beide nicht gesund bleiben und gesunden Lebensbeitrag liefern, wenn sie sich von der Totalität unseres Seins loslösen und statt des Ganzen nur sich selber kultivieren und zum Selbstgenusse machen. Denn dann neigen sie beide sofort dazu, nur bestimmte, ihnen charakteristische Äußerungen zu pflegen; die Religion etwa das Gebet und die Gemeinschaft, die Moral das moralische Urteil und diese oder jene Gesetzlichkeiten und Kon- ventionen. Und über der Pflege dieser ihrer speziellsten Äußerungen stellen sie den inneren Quell selber und sein urspri'mgliches, zentrales, alles durch¬ flutendes Schaffen still. Und dann ist es um Religion und Moral im tiefen und lebendigen Sinne geschehen. ' Die Religion wird zu Formeln und Gebeten, zu ausschließenden Lehren und Lehrstreitigkeiten über alles und noch etwas, und jedenfalls zu einer Sache, die man, wie anderes auch, und neben dem anderen, abmacht, damit sie abgemacht ist. Die Moral aber wird, sobald sie sich in sich selbst verliebt, unfehlbar zum Mvralismus. Aller Moralismus schädigt das Leben aber gerade dadurch so sehr, daß er es immer nur sittlich be- und verurteilen, statt liebend schaffen und höherführen will. Wer sich moralisch fühlt, wenn er die Welt moralisch beurteilt, der züchtet es sich an, nur immer das Manko an allem Leben zu sehen und ebendcmach seine spitzen, scharfen Pfeile zu schießen. Und je moralischer er sich dabei vorkommt, um so schwärzer wird sich bald das ganze menschliche Leben und Treiben in seinen Augen malen. Bald wird er im Hintergrunde jeder und auch der edelsten Tat doch noch ein zweites Motiv, ein geheimes und gemeines Gefühlchen erst wittern und dann auch gefunden zu haben glauben, bis er schließlich nur noch darin die Wahrheit und in allem Edlen nur Trug, Schein und Spiegelfechterei sieht. Man lese einmal daraufhin die vielgepriesenen „Maximen" de la Roche- fouccmlds und auch vieles vom großen Moralisten Nietzsche. Das Rezept ist im Grunde recht einfach und überall, und vor allem gegen die Gegner, geistreich zu verwenden: Alles Gute hat zu seiner Kehrseite ein Schlechtes, dies Schlechte vor sich und den anderen zu verbergen, wendet der nichtsnutzige Mensch nach außen dessen Widerspiel: das Gute; wir aber entlarven ihn und zeigen seine Achterseite! Auf diesem Wege wird dann freilich alles zerfetzt und zersetzt und nichts Gutes an der Menschheit gelassen. Wem dagegen das große, heilige Wunder der Welt nicht dazu da ist, daß es moralisch veralbert und geschändet, sondern in der Richtung auf lebendige Kräfteeinheit auferbaut und schaffend gemacht werde, der steht unter dem Goethewort: Grcnzboien II 1910 21

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/173
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/173>, abgerufen am 29.06.2024.