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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Das Aulturproblem und die Religion

geformt und behandelt zu werden. Sobald wir das, was wir schaffen, nur um
des "schönen" Scheines willen schaffen, dann geht es uns damit, wie mit den
"schönen" Stiefeln und Stühlen: es lösen sich unsere Schöpfungen von ihrem
Urquell, ihrer Not, ihrem Bedürfen und wenden sich als Quälgeister gegen uns
selber und gegen die Schönheit selbst, die nur unter Zweckmäßigkeit, d. h. unter
Bezugnahme auf unser ganzes Sein und Bedürfen gesund bleiben und gestalten
kann. Denn der von seinem Sinn losgelöste "schöne" Schuh erzeugt Hühner¬
augen und Verkrümmungen der Zehen, d. h. diese Sorte von Ästhetik verunstaltet
das Wunderwerk der Schöpfung und wendet sich damit gegen sich selbst.

Schon hier sehen wir, daß der ästhetische Trieb sich unter keinen Umständen
von der Totalität unseres Lebens und Bedürfens lösen darf; daß auch er, ob
er gleich auf den Schein geht, doch dem Sein verpflichtet ist. Eine Kultur der
Sachen ist nur möglich unter Kultur der Seele. Wer schönen Schein will, muß
schönes Sein zu schaffen suchen, muß das Äußere aus dem Inneren wachsen
lassen und im Äußeren nichts als einen Ausdruck und eine Offenbarung inneren
Gehaltes und Lebens sehen.

Ästhetische Kultur ist Ausdruckskultur der Seele und alles dessen, was die
Seele vom Körper her als Bedürfen und Not und Sehnsucht empfindet und zu
überwinden trachtet. Gerade hier liegen auch die großen sozialen Aufgaben
einer wahren Ausdruckskultur. Und wenn ein Künstler wirklich künstlerisch
schaffen will, so muß er Vollmensch und nicht Teilmensch sein. Will sagen, er
darf sich und sein Auge nicht nur auf die "Erscheinung" einstellen, sondern muß
sie begreifen, fühlen, empfinden, erleben als den notwendigen Ausdruck innerster
Ereignisse. Andernfalls gerät er entweder dahin, daß ihm selbst das Edelste,
was uns das Leben an "Erscheinungen" bietet, zu nichts weiter gut ist, als zu
technischen Experimenten mit Farbe und Stein. Oder aber er gerät in jene
furchtbare Objektivität, wie sie etwa Leonardosche Karikaturen zeigen. Er malt
gefrorenen Schrecken und vereistes Lächeln, aber das Leben entfloh und ließ nur
seine Maske zurück. Die objektive Beobachtung macht es nicht beim Künstler.
Er ist nicht Wissenschaftler. Das subjektive Miterleben muß mit schöpferischer
Glut dahinter stehen. Wer Leben lebendig im Bilde erstehen lassen will, darf
es nicht nur von außen beobachten, er muß selber von diesem Leben durchbebt,
durchzittert, durchsonnt oder erschüttert sein, das er gestalten will. Es muß also
das Sein lebendig durch seine Seele gegangen sein, wenn der Schein durch seine
Hand das Leben offenbaren soll. Das heißt aber, der wahre Dichter und
Künstler muß mit allen seinen .Kräften, all seiner Liebe, all seinen Empfindungen
das umspannen und erleben, dem er in Dichtung oder Bild zu bleibendem
Leben verhelfen will. Nur aus der Totalität der Seele kann der wahre Künstler
schaffen.

Und wenn der Ästhet schließlich meint, es sei das Xon plus ultra von
"Kultur", alles nur ästhetisch zu nehmen, so belehrt ihn das Leben durch jedes
in den Schmutz gefallene Kind, daß da mit Ästhetik und Sauberhaltung der


Das Aulturproblem und die Religion

geformt und behandelt zu werden. Sobald wir das, was wir schaffen, nur um
des „schönen" Scheines willen schaffen, dann geht es uns damit, wie mit den
„schönen" Stiefeln und Stühlen: es lösen sich unsere Schöpfungen von ihrem
Urquell, ihrer Not, ihrem Bedürfen und wenden sich als Quälgeister gegen uns
selber und gegen die Schönheit selbst, die nur unter Zweckmäßigkeit, d. h. unter
Bezugnahme auf unser ganzes Sein und Bedürfen gesund bleiben und gestalten
kann. Denn der von seinem Sinn losgelöste „schöne" Schuh erzeugt Hühner¬
augen und Verkrümmungen der Zehen, d. h. diese Sorte von Ästhetik verunstaltet
das Wunderwerk der Schöpfung und wendet sich damit gegen sich selbst.

Schon hier sehen wir, daß der ästhetische Trieb sich unter keinen Umständen
von der Totalität unseres Lebens und Bedürfens lösen darf; daß auch er, ob
er gleich auf den Schein geht, doch dem Sein verpflichtet ist. Eine Kultur der
Sachen ist nur möglich unter Kultur der Seele. Wer schönen Schein will, muß
schönes Sein zu schaffen suchen, muß das Äußere aus dem Inneren wachsen
lassen und im Äußeren nichts als einen Ausdruck und eine Offenbarung inneren
Gehaltes und Lebens sehen.

Ästhetische Kultur ist Ausdruckskultur der Seele und alles dessen, was die
Seele vom Körper her als Bedürfen und Not und Sehnsucht empfindet und zu
überwinden trachtet. Gerade hier liegen auch die großen sozialen Aufgaben
einer wahren Ausdruckskultur. Und wenn ein Künstler wirklich künstlerisch
schaffen will, so muß er Vollmensch und nicht Teilmensch sein. Will sagen, er
darf sich und sein Auge nicht nur auf die „Erscheinung" einstellen, sondern muß
sie begreifen, fühlen, empfinden, erleben als den notwendigen Ausdruck innerster
Ereignisse. Andernfalls gerät er entweder dahin, daß ihm selbst das Edelste,
was uns das Leben an „Erscheinungen" bietet, zu nichts weiter gut ist, als zu
technischen Experimenten mit Farbe und Stein. Oder aber er gerät in jene
furchtbare Objektivität, wie sie etwa Leonardosche Karikaturen zeigen. Er malt
gefrorenen Schrecken und vereistes Lächeln, aber das Leben entfloh und ließ nur
seine Maske zurück. Die objektive Beobachtung macht es nicht beim Künstler.
Er ist nicht Wissenschaftler. Das subjektive Miterleben muß mit schöpferischer
Glut dahinter stehen. Wer Leben lebendig im Bilde erstehen lassen will, darf
es nicht nur von außen beobachten, er muß selber von diesem Leben durchbebt,
durchzittert, durchsonnt oder erschüttert sein, das er gestalten will. Es muß also
das Sein lebendig durch seine Seele gegangen sein, wenn der Schein durch seine
Hand das Leben offenbaren soll. Das heißt aber, der wahre Dichter und
Künstler muß mit allen seinen .Kräften, all seiner Liebe, all seinen Empfindungen
das umspannen und erleben, dem er in Dichtung oder Bild zu bleibendem
Leben verhelfen will. Nur aus der Totalität der Seele kann der wahre Künstler
schaffen.

Und wenn der Ästhet schließlich meint, es sei das Xon plus ultra von
„Kultur", alles nur ästhetisch zu nehmen, so belehrt ihn das Leben durch jedes
in den Schmutz gefallene Kind, daß da mit Ästhetik und Sauberhaltung der


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[0172] Das Aulturproblem und die Religion geformt und behandelt zu werden. Sobald wir das, was wir schaffen, nur um des „schönen" Scheines willen schaffen, dann geht es uns damit, wie mit den „schönen" Stiefeln und Stühlen: es lösen sich unsere Schöpfungen von ihrem Urquell, ihrer Not, ihrem Bedürfen und wenden sich als Quälgeister gegen uns selber und gegen die Schönheit selbst, die nur unter Zweckmäßigkeit, d. h. unter Bezugnahme auf unser ganzes Sein und Bedürfen gesund bleiben und gestalten kann. Denn der von seinem Sinn losgelöste „schöne" Schuh erzeugt Hühner¬ augen und Verkrümmungen der Zehen, d. h. diese Sorte von Ästhetik verunstaltet das Wunderwerk der Schöpfung und wendet sich damit gegen sich selbst. Schon hier sehen wir, daß der ästhetische Trieb sich unter keinen Umständen von der Totalität unseres Lebens und Bedürfens lösen darf; daß auch er, ob er gleich auf den Schein geht, doch dem Sein verpflichtet ist. Eine Kultur der Sachen ist nur möglich unter Kultur der Seele. Wer schönen Schein will, muß schönes Sein zu schaffen suchen, muß das Äußere aus dem Inneren wachsen lassen und im Äußeren nichts als einen Ausdruck und eine Offenbarung inneren Gehaltes und Lebens sehen. Ästhetische Kultur ist Ausdruckskultur der Seele und alles dessen, was die Seele vom Körper her als Bedürfen und Not und Sehnsucht empfindet und zu überwinden trachtet. Gerade hier liegen auch die großen sozialen Aufgaben einer wahren Ausdruckskultur. Und wenn ein Künstler wirklich künstlerisch schaffen will, so muß er Vollmensch und nicht Teilmensch sein. Will sagen, er darf sich und sein Auge nicht nur auf die „Erscheinung" einstellen, sondern muß sie begreifen, fühlen, empfinden, erleben als den notwendigen Ausdruck innerster Ereignisse. Andernfalls gerät er entweder dahin, daß ihm selbst das Edelste, was uns das Leben an „Erscheinungen" bietet, zu nichts weiter gut ist, als zu technischen Experimenten mit Farbe und Stein. Oder aber er gerät in jene furchtbare Objektivität, wie sie etwa Leonardosche Karikaturen zeigen. Er malt gefrorenen Schrecken und vereistes Lächeln, aber das Leben entfloh und ließ nur seine Maske zurück. Die objektive Beobachtung macht es nicht beim Künstler. Er ist nicht Wissenschaftler. Das subjektive Miterleben muß mit schöpferischer Glut dahinter stehen. Wer Leben lebendig im Bilde erstehen lassen will, darf es nicht nur von außen beobachten, er muß selber von diesem Leben durchbebt, durchzittert, durchsonnt oder erschüttert sein, das er gestalten will. Es muß also das Sein lebendig durch seine Seele gegangen sein, wenn der Schein durch seine Hand das Leben offenbaren soll. Das heißt aber, der wahre Dichter und Künstler muß mit allen seinen .Kräften, all seiner Liebe, all seinen Empfindungen das umspannen und erleben, dem er in Dichtung oder Bild zu bleibendem Leben verhelfen will. Nur aus der Totalität der Seele kann der wahre Künstler schaffen. Und wenn der Ästhet schließlich meint, es sei das Xon plus ultra von „Kultur", alles nur ästhetisch zu nehmen, so belehrt ihn das Leben durch jedes in den Schmutz gefallene Kind, daß da mit Ästhetik und Sauberhaltung der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/172>, abgerufen am 28.09.2024.