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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Das Rnlturproblem und die Religion

Alle Kunst der Drehbank und alle Zier wird herbeigerufen, Wulste, Muschel¬
ornamente und Schweifungen. Wie schön steht er nun aus!

Nur einen Fehler hat er; man kann nicht recht daraufsitzen! Aber
er kommt ja in die gute Stube, und wie werden sie ihn da bewundern, und
wie stolz sein, darauf sitzen zu dürfen! Stühle um der Stühle, um des Zie¬
rates, um des Anschauens willen! Eine Qual für Gesäß und Arme und Beine,
aber eine Lust für das Auge!

Wirklich eine Lust? Auf die Dauer doch höchstens für die Augen, die
nicht wirklich sehen gelernt haben, die außen und auf der Sinnenseite liegen
und am äußerlichste:! Scheine haften. Aber nicht für die Augen, die von der
Seele her zu schauen gelernt haben. Sie finden den "schönen" Stuhl häßlich,
barbarisch, zweckwidrig, kulturfeindlich. Das Einzelne daran mögen sie lobens¬
wert finden, geschmackvoll, fein. Das Ganze finden sie häßlich, verwerflich und
verderblich für Mensch und Handwerk, für Kunst, Kultur und Leben.

Und nun mag man von den Stühlen über Stiefel, Korsetts, Kleidung
hinweg auf das ganze Reich der Sachenkultur den Blick wenden, unsertwegen
bis hiu zum Berliner Dom. Man wird nun wissen, wo der alte Schuh der
Sachenkultur uns drückt, und warum die neue Kultursehnsucht so brennend und
heiß in unserem Volke arbeitet.

Wenn uns da allenthalben so vieles, was uns ehedem wunder wie schön
und großartig vorkam, heute zu Pein und Ärgernis geworden ist, so ist das
wirklich keine Marotte und törichte Neuerungssucht, sondern ein verheißungsvoller
religiös-sittlicher Erneuerungsprozeß des Menschen selbst.

Der Mensch hat es satt bekommen, sich von seinen eigenen Geschöpfen
quälen und beherrschen, verdiuglichen und körperlich-geistig entselbsten zu lassen.
Er selber tritt endlich wieder in den Mittelpunkt der Dinge und seines Schaffens
und ruft über die Gesamtproduktion aller Erzeugnisse seiner Hand und seines
Geistes ein scharfes ()no8 eZo! Ich will euch, wenn ihr euch von mir
emanzipieren und zu Quälgeistern und Tyrannen für mich machen wollt!

Und jedesmal dann, wenn der Mensch wieder als Selbstzweck in den
Mittelpunkt seines Schaffens tritt und sich mit seiner geistig-körperlichen Totalität
zum Maße der Dinge macht, beginnt eine Reformation im Reiche der Dinge,
weil eine Beseelung der Sachen und Dinge. Und nur wo solche Beseelung ist,
hört die Technik auf, mit den Dingen und den Menschen zu spielen. Der
Mensch wird wieder Herr, die Technik wird wieder Dienerin, und was sie
schafft, wird Ausdruck und Selbstdarstellung der Seele. Und ebendas
und nichts anderes heißt Kultur.


4.

Diese Kultur der Selbstdarstellung und Harmonie kann aber nie von
außen her erdacht, gemacht und etwa gar von der Wissenschaft und äußerlichen
Technik erzeugt werden, sie muß aus dem Erlebnis, dem Bedürfnis, der


Das Rnlturproblem und die Religion

Alle Kunst der Drehbank und alle Zier wird herbeigerufen, Wulste, Muschel¬
ornamente und Schweifungen. Wie schön steht er nun aus!

Nur einen Fehler hat er; man kann nicht recht daraufsitzen! Aber
er kommt ja in die gute Stube, und wie werden sie ihn da bewundern, und
wie stolz sein, darauf sitzen zu dürfen! Stühle um der Stühle, um des Zie¬
rates, um des Anschauens willen! Eine Qual für Gesäß und Arme und Beine,
aber eine Lust für das Auge!

Wirklich eine Lust? Auf die Dauer doch höchstens für die Augen, die
nicht wirklich sehen gelernt haben, die außen und auf der Sinnenseite liegen
und am äußerlichste:! Scheine haften. Aber nicht für die Augen, die von der
Seele her zu schauen gelernt haben. Sie finden den „schönen" Stuhl häßlich,
barbarisch, zweckwidrig, kulturfeindlich. Das Einzelne daran mögen sie lobens¬
wert finden, geschmackvoll, fein. Das Ganze finden sie häßlich, verwerflich und
verderblich für Mensch und Handwerk, für Kunst, Kultur und Leben.

Und nun mag man von den Stühlen über Stiefel, Korsetts, Kleidung
hinweg auf das ganze Reich der Sachenkultur den Blick wenden, unsertwegen
bis hiu zum Berliner Dom. Man wird nun wissen, wo der alte Schuh der
Sachenkultur uns drückt, und warum die neue Kultursehnsucht so brennend und
heiß in unserem Volke arbeitet.

Wenn uns da allenthalben so vieles, was uns ehedem wunder wie schön
und großartig vorkam, heute zu Pein und Ärgernis geworden ist, so ist das
wirklich keine Marotte und törichte Neuerungssucht, sondern ein verheißungsvoller
religiös-sittlicher Erneuerungsprozeß des Menschen selbst.

Der Mensch hat es satt bekommen, sich von seinen eigenen Geschöpfen
quälen und beherrschen, verdiuglichen und körperlich-geistig entselbsten zu lassen.
Er selber tritt endlich wieder in den Mittelpunkt der Dinge und seines Schaffens
und ruft über die Gesamtproduktion aller Erzeugnisse seiner Hand und seines
Geistes ein scharfes ()no8 eZo! Ich will euch, wenn ihr euch von mir
emanzipieren und zu Quälgeistern und Tyrannen für mich machen wollt!

Und jedesmal dann, wenn der Mensch wieder als Selbstzweck in den
Mittelpunkt seines Schaffens tritt und sich mit seiner geistig-körperlichen Totalität
zum Maße der Dinge macht, beginnt eine Reformation im Reiche der Dinge,
weil eine Beseelung der Sachen und Dinge. Und nur wo solche Beseelung ist,
hört die Technik auf, mit den Dingen und den Menschen zu spielen. Der
Mensch wird wieder Herr, die Technik wird wieder Dienerin, und was sie
schafft, wird Ausdruck und Selbstdarstellung der Seele. Und ebendas
und nichts anderes heißt Kultur.


4.

Diese Kultur der Selbstdarstellung und Harmonie kann aber nie von
außen her erdacht, gemacht und etwa gar von der Wissenschaft und äußerlichen
Technik erzeugt werden, sie muß aus dem Erlebnis, dem Bedürfnis, der


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[0167] Das Rnlturproblem und die Religion Alle Kunst der Drehbank und alle Zier wird herbeigerufen, Wulste, Muschel¬ ornamente und Schweifungen. Wie schön steht er nun aus! Nur einen Fehler hat er; man kann nicht recht daraufsitzen! Aber er kommt ja in die gute Stube, und wie werden sie ihn da bewundern, und wie stolz sein, darauf sitzen zu dürfen! Stühle um der Stühle, um des Zie¬ rates, um des Anschauens willen! Eine Qual für Gesäß und Arme und Beine, aber eine Lust für das Auge! Wirklich eine Lust? Auf die Dauer doch höchstens für die Augen, die nicht wirklich sehen gelernt haben, die außen und auf der Sinnenseite liegen und am äußerlichste:! Scheine haften. Aber nicht für die Augen, die von der Seele her zu schauen gelernt haben. Sie finden den „schönen" Stuhl häßlich, barbarisch, zweckwidrig, kulturfeindlich. Das Einzelne daran mögen sie lobens¬ wert finden, geschmackvoll, fein. Das Ganze finden sie häßlich, verwerflich und verderblich für Mensch und Handwerk, für Kunst, Kultur und Leben. Und nun mag man von den Stühlen über Stiefel, Korsetts, Kleidung hinweg auf das ganze Reich der Sachenkultur den Blick wenden, unsertwegen bis hiu zum Berliner Dom. Man wird nun wissen, wo der alte Schuh der Sachenkultur uns drückt, und warum die neue Kultursehnsucht so brennend und heiß in unserem Volke arbeitet. Wenn uns da allenthalben so vieles, was uns ehedem wunder wie schön und großartig vorkam, heute zu Pein und Ärgernis geworden ist, so ist das wirklich keine Marotte und törichte Neuerungssucht, sondern ein verheißungsvoller religiös-sittlicher Erneuerungsprozeß des Menschen selbst. Der Mensch hat es satt bekommen, sich von seinen eigenen Geschöpfen quälen und beherrschen, verdiuglichen und körperlich-geistig entselbsten zu lassen. Er selber tritt endlich wieder in den Mittelpunkt der Dinge und seines Schaffens und ruft über die Gesamtproduktion aller Erzeugnisse seiner Hand und seines Geistes ein scharfes ()no8 eZo! Ich will euch, wenn ihr euch von mir emanzipieren und zu Quälgeistern und Tyrannen für mich machen wollt! Und jedesmal dann, wenn der Mensch wieder als Selbstzweck in den Mittelpunkt seines Schaffens tritt und sich mit seiner geistig-körperlichen Totalität zum Maße der Dinge macht, beginnt eine Reformation im Reiche der Dinge, weil eine Beseelung der Sachen und Dinge. Und nur wo solche Beseelung ist, hört die Technik auf, mit den Dingen und den Menschen zu spielen. Der Mensch wird wieder Herr, die Technik wird wieder Dienerin, und was sie schafft, wird Ausdruck und Selbstdarstellung der Seele. Und ebendas und nichts anderes heißt Kultur. 4. Diese Kultur der Selbstdarstellung und Harmonie kann aber nie von außen her erdacht, gemacht und etwa gar von der Wissenschaft und äußerlichen Technik erzeugt werden, sie muß aus dem Erlebnis, dem Bedürfnis, der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/167>, abgerufen am 29.06.2024.