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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Das Kulturprol'loin und die Religion

3.

Um uns darüber klar zu werden, dürfte es gut sein, mit einem ganz
einfachen Beispiel aus dem Reiche der Sachenkultur zu beginnen. Wir können
dann uni so leichter dieselben Erscheinungen im Geistigen und Seelischen
verdeutlichen.

Alle Sachen und Gegenstände, die Menschengeist und Menschenhand kon¬
struieren und schaffen, haben ihren ersten Ursprung in irgendeiner Not, in
irgendeinem Bedürfen. Nehmen wir etwa das Bedürfnis zu sitzen, das der
Mensch von Urtagen her empfindet. Das veranlaßte ihn, sich eine Sitzgelegenheit
zu schaffen. Zuerst nahm er einen Stein, und als der drückte, legte er ein Fell daraus.
Aber das war ein schwer bewegliches Möbel. Und so wurde allmählich aus
dem schwer beweglichen Stein der leicht bewegliche Stuhl. Und der Stuhl, grob
aus Holz gefügt, drückte weiter. Und diese Not ward die Erfinderin von
Rohrgeflecht und Polster.

Denn alles bildet sich, und alles bilden wir nur aus unserer Not
gesund weiter und möglichst bis dahin, daß es wirkliche Notstillung gewährt.
Und solange die Dinge und Sachen, die wir schaffen, nur aus dieser unserer
Not und in: steten Lebens- und Zweckzusammenhange mit ihr von uns geschaffen
und weitergebildet werden, ist alle solche Tätigkeit eine wirkliche Kultur-
Tätigkeit. Denn sie zielt ab auf Harmonie und Zusammenklang
zwischen Person und Sache. Die Sache ist Selbstdarstellung und
Selbstüberwindung menschlichen Bedürfens. Es bildet sich der Stuhl
um unseren Körper und sein Bedürfen, um unsere Seele und ihren Wunsch,
vom sitzenden Körper nicht belästigt und dadurch von dem abgezogen zu werden,
dem sie sich ganz ungestört hingeben möchte. Es ist der Stuhl Diener, Not¬
helfer und Selbstdarsteller menschlichen Bedürfens.

Solange nun Tischler und Fabrikant des Stuhles diesen einfachsten und
obersten Zweck bei ihrer Arbeit immer im Auge haben, ist alles in Ordnung.
Es läuft die Arbeit der Hand und der Maschine ans kultureller Bahn. Ja,
wenn es so bliebe!

Es kommt aber seltsamerweise bei allem menschlichen Schaffen und Bilden
ein Punkt, wo sich die Geschöpfe und Erzeugnisse der Menschenhand und des
Menschengeistes von den: originalen Triebe, dem sie entstammen, und damit
von ihrem Sinn und Zweck gegenüber dem Menschen und seiner Totalität
loszulösen beginnen. Irgendein anderer Trieb bemächtigt sich ihrer, ein
Spieltrieb, ein Geldtrieb, ein äußerlicher Veränderungstrieb, ein Modetrieb.

Der Tischler kann nun Stühle "machen". Und aus lauter Freude über
das, was er "kann", vergißt er den Menschen, der darauf sitzen soll. Er kann
ja mit seinen Stühlen machen, was er will. Und er "kann" ja so viel! Ich
will dir, mein lieber Stuhl, und an dir den Leuten mal zeigen, was ich kann,
was für "schöne" Stühle ich machen kann! Und er spielt mit den Stühlen.
Und er macht "schöne" Stühle, "moderne" Stühle, noch nicht dagewesene Stühle.


Das Kulturprol'loin und die Religion

3.

Um uns darüber klar zu werden, dürfte es gut sein, mit einem ganz
einfachen Beispiel aus dem Reiche der Sachenkultur zu beginnen. Wir können
dann uni so leichter dieselben Erscheinungen im Geistigen und Seelischen
verdeutlichen.

Alle Sachen und Gegenstände, die Menschengeist und Menschenhand kon¬
struieren und schaffen, haben ihren ersten Ursprung in irgendeiner Not, in
irgendeinem Bedürfen. Nehmen wir etwa das Bedürfnis zu sitzen, das der
Mensch von Urtagen her empfindet. Das veranlaßte ihn, sich eine Sitzgelegenheit
zu schaffen. Zuerst nahm er einen Stein, und als der drückte, legte er ein Fell daraus.
Aber das war ein schwer bewegliches Möbel. Und so wurde allmählich aus
dem schwer beweglichen Stein der leicht bewegliche Stuhl. Und der Stuhl, grob
aus Holz gefügt, drückte weiter. Und diese Not ward die Erfinderin von
Rohrgeflecht und Polster.

Denn alles bildet sich, und alles bilden wir nur aus unserer Not
gesund weiter und möglichst bis dahin, daß es wirkliche Notstillung gewährt.
Und solange die Dinge und Sachen, die wir schaffen, nur aus dieser unserer
Not und in: steten Lebens- und Zweckzusammenhange mit ihr von uns geschaffen
und weitergebildet werden, ist alle solche Tätigkeit eine wirkliche Kultur-
Tätigkeit. Denn sie zielt ab auf Harmonie und Zusammenklang
zwischen Person und Sache. Die Sache ist Selbstdarstellung und
Selbstüberwindung menschlichen Bedürfens. Es bildet sich der Stuhl
um unseren Körper und sein Bedürfen, um unsere Seele und ihren Wunsch,
vom sitzenden Körper nicht belästigt und dadurch von dem abgezogen zu werden,
dem sie sich ganz ungestört hingeben möchte. Es ist der Stuhl Diener, Not¬
helfer und Selbstdarsteller menschlichen Bedürfens.

Solange nun Tischler und Fabrikant des Stuhles diesen einfachsten und
obersten Zweck bei ihrer Arbeit immer im Auge haben, ist alles in Ordnung.
Es läuft die Arbeit der Hand und der Maschine ans kultureller Bahn. Ja,
wenn es so bliebe!

Es kommt aber seltsamerweise bei allem menschlichen Schaffen und Bilden
ein Punkt, wo sich die Geschöpfe und Erzeugnisse der Menschenhand und des
Menschengeistes von den: originalen Triebe, dem sie entstammen, und damit
von ihrem Sinn und Zweck gegenüber dem Menschen und seiner Totalität
loszulösen beginnen. Irgendein anderer Trieb bemächtigt sich ihrer, ein
Spieltrieb, ein Geldtrieb, ein äußerlicher Veränderungstrieb, ein Modetrieb.

Der Tischler kann nun Stühle „machen". Und aus lauter Freude über
das, was er „kann", vergißt er den Menschen, der darauf sitzen soll. Er kann
ja mit seinen Stühlen machen, was er will. Und er „kann" ja so viel! Ich
will dir, mein lieber Stuhl, und an dir den Leuten mal zeigen, was ich kann,
was für „schöne" Stühle ich machen kann! Und er spielt mit den Stühlen.
Und er macht „schöne" Stühle, „moderne" Stühle, noch nicht dagewesene Stühle.


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[0166] Das Kulturprol'loin und die Religion 3. Um uns darüber klar zu werden, dürfte es gut sein, mit einem ganz einfachen Beispiel aus dem Reiche der Sachenkultur zu beginnen. Wir können dann uni so leichter dieselben Erscheinungen im Geistigen und Seelischen verdeutlichen. Alle Sachen und Gegenstände, die Menschengeist und Menschenhand kon¬ struieren und schaffen, haben ihren ersten Ursprung in irgendeiner Not, in irgendeinem Bedürfen. Nehmen wir etwa das Bedürfnis zu sitzen, das der Mensch von Urtagen her empfindet. Das veranlaßte ihn, sich eine Sitzgelegenheit zu schaffen. Zuerst nahm er einen Stein, und als der drückte, legte er ein Fell daraus. Aber das war ein schwer bewegliches Möbel. Und so wurde allmählich aus dem schwer beweglichen Stein der leicht bewegliche Stuhl. Und der Stuhl, grob aus Holz gefügt, drückte weiter. Und diese Not ward die Erfinderin von Rohrgeflecht und Polster. Denn alles bildet sich, und alles bilden wir nur aus unserer Not gesund weiter und möglichst bis dahin, daß es wirkliche Notstillung gewährt. Und solange die Dinge und Sachen, die wir schaffen, nur aus dieser unserer Not und in: steten Lebens- und Zweckzusammenhange mit ihr von uns geschaffen und weitergebildet werden, ist alle solche Tätigkeit eine wirkliche Kultur- Tätigkeit. Denn sie zielt ab auf Harmonie und Zusammenklang zwischen Person und Sache. Die Sache ist Selbstdarstellung und Selbstüberwindung menschlichen Bedürfens. Es bildet sich der Stuhl um unseren Körper und sein Bedürfen, um unsere Seele und ihren Wunsch, vom sitzenden Körper nicht belästigt und dadurch von dem abgezogen zu werden, dem sie sich ganz ungestört hingeben möchte. Es ist der Stuhl Diener, Not¬ helfer und Selbstdarsteller menschlichen Bedürfens. Solange nun Tischler und Fabrikant des Stuhles diesen einfachsten und obersten Zweck bei ihrer Arbeit immer im Auge haben, ist alles in Ordnung. Es läuft die Arbeit der Hand und der Maschine ans kultureller Bahn. Ja, wenn es so bliebe! Es kommt aber seltsamerweise bei allem menschlichen Schaffen und Bilden ein Punkt, wo sich die Geschöpfe und Erzeugnisse der Menschenhand und des Menschengeistes von den: originalen Triebe, dem sie entstammen, und damit von ihrem Sinn und Zweck gegenüber dem Menschen und seiner Totalität loszulösen beginnen. Irgendein anderer Trieb bemächtigt sich ihrer, ein Spieltrieb, ein Geldtrieb, ein äußerlicher Veränderungstrieb, ein Modetrieb. Der Tischler kann nun Stühle „machen". Und aus lauter Freude über das, was er „kann", vergißt er den Menschen, der darauf sitzen soll. Er kann ja mit seinen Stühlen machen, was er will. Und er „kann" ja so viel! Ich will dir, mein lieber Stuhl, und an dir den Leuten mal zeigen, was ich kann, was für „schöne" Stühle ich machen kann! Und er spielt mit den Stühlen. Und er macht „schöne" Stühle, „moderne" Stühle, noch nicht dagewesene Stühle.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/166>, abgerufen am 29.06.2024.