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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Gedanken über Llsaß-Lothringen

Wenn man diesen Leuten jetzt von Reichs wegen eine neue Verfassung gibt,
ehe man das Wahlrecht, insbesondere zum Landesausschuß, geändert hat, so ist
unschwer abzusehen, auf welchem Weg die Entwicklung weitergehen wird. Die
im Lande befindlichen altdeutschen Elemente, 400000 Seelen, also über 22 Prozent
der Gesamtbevölkerung, würden in dem isolierten Nationalstaat Elsaß-Lothringen
nichts zu sagen haben. Sie würden an die Wand gedrückt, es sei denn, daß
sie, wie heutzutage schon infolge der im Lande herrschenden Tendenzen und der
schwachen Widerstandsfähigkeit mancher deutschen Volksgenossen zu beobachten
ist, zu Renegaten werden und sich auf die andere Seite schlagen. Das aber
kann nicht die Absicht des großen Gesäme-Deutschland sein. Links stehende
Parteien geben eine falsche Fragestellung, wenn sie behaupten, das elsa߬
lothringische Volk sei reif für die Verfassung und die Autonomie, und jede
andere Ansicht sei reaktionär. Wo weitgehende Volksrechte existieren, entscheidet
nicht immer der ruhige Sinn und die Arbeitsamkeit der großen Menge, sondern
häufig die Denkungsweise einer kleinen, die Führung übernehmenden Schicht.
Elsaß-Lothringen als selbständiger Staat würde mit fliegenden Fahnen in das
Lager derer um Wetterlö, Preis und Genossen übergehen. Die Nationalisten
haben es in den meisten Ländern verstanden, durch Drohungen, Boykottierung usw.
die große, ihnen nicht zu Willen stehende Menge zur Gefolgschaft zu
zwingen. Elsaß-Lothringen ist aus diesen Gründen wohl theoretisch reif
für eine Verfassung, aber nicht reif zur Selbstregierung im Sinne eines
deutschen Bundesstaates, und nicht reif zur Übernahme der Grenzwacht gegen Westen.

Hier heißt es klare Stellung nehmen, jede Gefühlsschwärmerei kann die
schwersten, nie wieder gut zu machenden Schäden erzeugen.

Es folgt aus dem Obigen schon, daß uns gegenüber der Verfassungsfrage
-- die Wahlrechtsfrage als die zeitlich vorgehende erscheint. So schwer es in
Elsaß-Lothringen empfunden wird, keinen Anteil an der Reichsregierung in
Berlin durch einen stimmberechtigten Vertreter im Bundesrat zu haben, ebenso
schwer wird die Unmöglichkeit getragen, den Volkswillen in Straßburg zur
Geltung zu bringen. Unter Volk verstehen wir freilich nicht nur die große
Menge, sondern auch die in irgendeiner Beziehung höhere Dienste leistenden
Kräfte, besonders die eingewanderten Industriellen, Gelehrten, Inhaber der freien
Berufe, Großgrundbesitzer usw. Diese Klassen, die sür den Staat viel bedeuten,
würden bei einer etwaigen Einführung des Neichstagswcchlrechts in Elsaß-
Lothringen fast ausnahmslos der Mittel entbehren, sich zur Geltung zu bringen.
Wir begrüßen es daher, wenn die "Straßburger Post" in einem am 16. März
unter der Überschrift "Brennende Fragen" erschienenen Artikel darauf hinweist,
daß die Einführung des Reichstagswahlrechts weder wünschenswert noch wahr¬
scheinlich sei, und wenn dabei insbesondere die Einführung von Pluralstiminen
und des Proportionalwahlrechts gefordert wird.

Aber wie gesagt, auch wenn man so vorgehen sollte, daß man zuerst das
Wahlrecht reformiert und es den: dann entstehenden neuen Landtag überträgt.


Gedanken über Llsaß-Lothringen

Wenn man diesen Leuten jetzt von Reichs wegen eine neue Verfassung gibt,
ehe man das Wahlrecht, insbesondere zum Landesausschuß, geändert hat, so ist
unschwer abzusehen, auf welchem Weg die Entwicklung weitergehen wird. Die
im Lande befindlichen altdeutschen Elemente, 400000 Seelen, also über 22 Prozent
der Gesamtbevölkerung, würden in dem isolierten Nationalstaat Elsaß-Lothringen
nichts zu sagen haben. Sie würden an die Wand gedrückt, es sei denn, daß
sie, wie heutzutage schon infolge der im Lande herrschenden Tendenzen und der
schwachen Widerstandsfähigkeit mancher deutschen Volksgenossen zu beobachten
ist, zu Renegaten werden und sich auf die andere Seite schlagen. Das aber
kann nicht die Absicht des großen Gesäme-Deutschland sein. Links stehende
Parteien geben eine falsche Fragestellung, wenn sie behaupten, das elsa߬
lothringische Volk sei reif für die Verfassung und die Autonomie, und jede
andere Ansicht sei reaktionär. Wo weitgehende Volksrechte existieren, entscheidet
nicht immer der ruhige Sinn und die Arbeitsamkeit der großen Menge, sondern
häufig die Denkungsweise einer kleinen, die Führung übernehmenden Schicht.
Elsaß-Lothringen als selbständiger Staat würde mit fliegenden Fahnen in das
Lager derer um Wetterlö, Preis und Genossen übergehen. Die Nationalisten
haben es in den meisten Ländern verstanden, durch Drohungen, Boykottierung usw.
die große, ihnen nicht zu Willen stehende Menge zur Gefolgschaft zu
zwingen. Elsaß-Lothringen ist aus diesen Gründen wohl theoretisch reif
für eine Verfassung, aber nicht reif zur Selbstregierung im Sinne eines
deutschen Bundesstaates, und nicht reif zur Übernahme der Grenzwacht gegen Westen.

Hier heißt es klare Stellung nehmen, jede Gefühlsschwärmerei kann die
schwersten, nie wieder gut zu machenden Schäden erzeugen.

Es folgt aus dem Obigen schon, daß uns gegenüber der Verfassungsfrage
— die Wahlrechtsfrage als die zeitlich vorgehende erscheint. So schwer es in
Elsaß-Lothringen empfunden wird, keinen Anteil an der Reichsregierung in
Berlin durch einen stimmberechtigten Vertreter im Bundesrat zu haben, ebenso
schwer wird die Unmöglichkeit getragen, den Volkswillen in Straßburg zur
Geltung zu bringen. Unter Volk verstehen wir freilich nicht nur die große
Menge, sondern auch die in irgendeiner Beziehung höhere Dienste leistenden
Kräfte, besonders die eingewanderten Industriellen, Gelehrten, Inhaber der freien
Berufe, Großgrundbesitzer usw. Diese Klassen, die sür den Staat viel bedeuten,
würden bei einer etwaigen Einführung des Neichstagswcchlrechts in Elsaß-
Lothringen fast ausnahmslos der Mittel entbehren, sich zur Geltung zu bringen.
Wir begrüßen es daher, wenn die „Straßburger Post" in einem am 16. März
unter der Überschrift „Brennende Fragen" erschienenen Artikel darauf hinweist,
daß die Einführung des Reichstagswahlrechts weder wünschenswert noch wahr¬
scheinlich sei, und wenn dabei insbesondere die Einführung von Pluralstiminen
und des Proportionalwahlrechts gefordert wird.

Aber wie gesagt, auch wenn man so vorgehen sollte, daß man zuerst das
Wahlrecht reformiert und es den: dann entstehenden neuen Landtag überträgt.


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[0160] Gedanken über Llsaß-Lothringen Wenn man diesen Leuten jetzt von Reichs wegen eine neue Verfassung gibt, ehe man das Wahlrecht, insbesondere zum Landesausschuß, geändert hat, so ist unschwer abzusehen, auf welchem Weg die Entwicklung weitergehen wird. Die im Lande befindlichen altdeutschen Elemente, 400000 Seelen, also über 22 Prozent der Gesamtbevölkerung, würden in dem isolierten Nationalstaat Elsaß-Lothringen nichts zu sagen haben. Sie würden an die Wand gedrückt, es sei denn, daß sie, wie heutzutage schon infolge der im Lande herrschenden Tendenzen und der schwachen Widerstandsfähigkeit mancher deutschen Volksgenossen zu beobachten ist, zu Renegaten werden und sich auf die andere Seite schlagen. Das aber kann nicht die Absicht des großen Gesäme-Deutschland sein. Links stehende Parteien geben eine falsche Fragestellung, wenn sie behaupten, das elsa߬ lothringische Volk sei reif für die Verfassung und die Autonomie, und jede andere Ansicht sei reaktionär. Wo weitgehende Volksrechte existieren, entscheidet nicht immer der ruhige Sinn und die Arbeitsamkeit der großen Menge, sondern häufig die Denkungsweise einer kleinen, die Führung übernehmenden Schicht. Elsaß-Lothringen als selbständiger Staat würde mit fliegenden Fahnen in das Lager derer um Wetterlö, Preis und Genossen übergehen. Die Nationalisten haben es in den meisten Ländern verstanden, durch Drohungen, Boykottierung usw. die große, ihnen nicht zu Willen stehende Menge zur Gefolgschaft zu zwingen. Elsaß-Lothringen ist aus diesen Gründen wohl theoretisch reif für eine Verfassung, aber nicht reif zur Selbstregierung im Sinne eines deutschen Bundesstaates, und nicht reif zur Übernahme der Grenzwacht gegen Westen. Hier heißt es klare Stellung nehmen, jede Gefühlsschwärmerei kann die schwersten, nie wieder gut zu machenden Schäden erzeugen. Es folgt aus dem Obigen schon, daß uns gegenüber der Verfassungsfrage — die Wahlrechtsfrage als die zeitlich vorgehende erscheint. So schwer es in Elsaß-Lothringen empfunden wird, keinen Anteil an der Reichsregierung in Berlin durch einen stimmberechtigten Vertreter im Bundesrat zu haben, ebenso schwer wird die Unmöglichkeit getragen, den Volkswillen in Straßburg zur Geltung zu bringen. Unter Volk verstehen wir freilich nicht nur die große Menge, sondern auch die in irgendeiner Beziehung höhere Dienste leistenden Kräfte, besonders die eingewanderten Industriellen, Gelehrten, Inhaber der freien Berufe, Großgrundbesitzer usw. Diese Klassen, die sür den Staat viel bedeuten, würden bei einer etwaigen Einführung des Neichstagswcchlrechts in Elsaß- Lothringen fast ausnahmslos der Mittel entbehren, sich zur Geltung zu bringen. Wir begrüßen es daher, wenn die „Straßburger Post" in einem am 16. März unter der Überschrift „Brennende Fragen" erschienenen Artikel darauf hinweist, daß die Einführung des Reichstagswahlrechts weder wünschenswert noch wahr¬ scheinlich sei, und wenn dabei insbesondere die Einführung von Pluralstiminen und des Proportionalwahlrechts gefordert wird. Aber wie gesagt, auch wenn man so vorgehen sollte, daß man zuerst das Wahlrecht reformiert und es den: dann entstehenden neuen Landtag überträgt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/160>, abgerufen am 29.06.2024.