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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Gedanken über Elsaß-Lothringen

er einmal in deutschen Kleinstaaten gelebt hat und dann nach
einem der größeren oder dem größten der Bundesstaaten, nach
Preußen kommt, wird mit Freude die freie Luft des großen Raums
gegenüber der verbrauchten Atmosphäre in den engen Kämmerchen
der Kleinstaaten auf sich wirken lassen. Man wirft Preußen oft
eine allzu konservative, von linksstehenden Parteien "reaktionär" genannte
Gesinnung vor. Trotz alledem bleibt eins unbestreitbar: ein Großstaat wie
Preußen kann den ungeheuren Komplex moderner Staatsausgaben in ganz anderer
Weise ausfüllen wie ein Kleinstaat von einer halben, einer oder auch zwei
Millionen Einwohner. Daß die Verwaltung und Regierung Preußens technisch
in Deutschland an der Spitze steht, hat der Reichskanzler und Ministerpräsident
bei der Eröffnung der Wahlrechtsdebatte im Landtag mit Recht betont.*) Wenn
Preußen den liberalen oder extremen Parteien mehr oder weniger reformbedürftig
erscheint, so kann in. E. daraus ein Vorwurf gegen die Regierung oder den
Staat als solchen selbst nicht hergeleitet werden; es ist Sache der politischen
Parteien, den Kurs des Staatsschiffs zu bestimmen. Auch das Dreiklassen¬
wahlrecht kann bei einigermaßen genügender Beteiligung nichtkonservativer
Bevölkerungsschichten die Parteien der Linken in der preußischen Kammer
bedeutend verstärken, wenn diese Parteien nur den festen Willen dazu haben.

Es soll mit diesen Ausführungen nicht zu den Wahlrechtsfragen in Preußen
Stellung genommen, es soll damit vielmehr nur dargetan werden, daß Preußen
im ganzen durchaus nicht der absolut reaktionäre Staat ist, wie ihn extreme
Parteien so gern fälschlich zu benennen lieben. Jedenfalls ist die ungeheure



") Wir stimmen hier mit dem Herrn Verfasser nicht ganz überein und verweisen deshalb
auf die in den Grenzboten erscheinenden Aufsätze über die Preußische Verwaltung. lNr. 3,
4, 6, 7, 1ö, 16, 13.) G. Cl.
Grenzboten II 1910 19


Gedanken über Elsaß-Lothringen

er einmal in deutschen Kleinstaaten gelebt hat und dann nach
einem der größeren oder dem größten der Bundesstaaten, nach
Preußen kommt, wird mit Freude die freie Luft des großen Raums
gegenüber der verbrauchten Atmosphäre in den engen Kämmerchen
der Kleinstaaten auf sich wirken lassen. Man wirft Preußen oft
eine allzu konservative, von linksstehenden Parteien „reaktionär" genannte
Gesinnung vor. Trotz alledem bleibt eins unbestreitbar: ein Großstaat wie
Preußen kann den ungeheuren Komplex moderner Staatsausgaben in ganz anderer
Weise ausfüllen wie ein Kleinstaat von einer halben, einer oder auch zwei
Millionen Einwohner. Daß die Verwaltung und Regierung Preußens technisch
in Deutschland an der Spitze steht, hat der Reichskanzler und Ministerpräsident
bei der Eröffnung der Wahlrechtsdebatte im Landtag mit Recht betont.*) Wenn
Preußen den liberalen oder extremen Parteien mehr oder weniger reformbedürftig
erscheint, so kann in. E. daraus ein Vorwurf gegen die Regierung oder den
Staat als solchen selbst nicht hergeleitet werden; es ist Sache der politischen
Parteien, den Kurs des Staatsschiffs zu bestimmen. Auch das Dreiklassen¬
wahlrecht kann bei einigermaßen genügender Beteiligung nichtkonservativer
Bevölkerungsschichten die Parteien der Linken in der preußischen Kammer
bedeutend verstärken, wenn diese Parteien nur den festen Willen dazu haben.

Es soll mit diesen Ausführungen nicht zu den Wahlrechtsfragen in Preußen
Stellung genommen, es soll damit vielmehr nur dargetan werden, daß Preußen
im ganzen durchaus nicht der absolut reaktionäre Staat ist, wie ihn extreme
Parteien so gern fälschlich zu benennen lieben. Jedenfalls ist die ungeheure



") Wir stimmen hier mit dem Herrn Verfasser nicht ganz überein und verweisen deshalb
auf die in den Grenzboten erscheinenden Aufsätze über die Preußische Verwaltung. lNr. 3,
4, 6, 7, 1ö, 16, 13.) G. Cl.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/157>, abgerufen am 29.06.2024.