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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Line zeitgemäße Abraham a Santa-Llara-Predigt

auch alles, was uns Alten bisher als schön, gut, sittlich, gesund, wohlanständig
und geschmackvoll galt, von den Jungen in das Gegenteil verkehrt. Das
Schöne wird häßlich, das Gute schlecht, das Sittliche unsittlich, das Gesunde
krank, das Wohlanständige frivol, das Geschmackvolle geschmacklos. Ich brauche
nur auf die geradezu perversen Hutverirrungen unserer Überweiber und den
Haaraufputz der Kellnerinnen zu verweisen.

Eine Schriftstellerin von gutem Namen hat vor kurzem in einem kleinen
Essay an den Unfug erinnert, der heutzutage allein schon mit dem Worte
"Kultur" getrieben wird. Ich habe dem gleich einen ganzen Dreibund viel
gemißbrauchter Worte entgegenzusetzen: Kunst -- Schönheit -- Sittlichkeit!
Diese drei Worte sind mir persönlich nicht zum wenigsten deshalb zu einem wahren
Brechmittel geworden, weil gerade sie Gebiete umfassen, auf denen das zuvor gerügte
"Übertum" die üppigsten, geilsten, verderblichsten, ja ungeheuerlichsten Blüten treibt.

Nähme ich Flügel der Morgenröte -- stehe, so bist du da! Flöge ich gen
äußersten Westen -- stehe, so bist du auch da! Es versuche heute einmal
jemand, diesem Wortetriumvirat zu entfliehen! -- Er wird, soweit die sogenannte
Kulturwelt reicht, sich vergeblich darum bemühen. Wie ein Fluch heftet es sich
an unseren Fersen fest -- der ganze Dampfkreis der Atmosphäre ist damit
geschwängert -- wo wir gehen und stehen, schwirrt es uns um die Ohren,
umkreist und umtost unsere nach stiller Betrachtung verlangenden Gedanken,
macht sie durch seine anmaßende, aufdringliche Art völlig zunichte, so daß wir
uns zuletzt gar nicht mehr anders zu helfen wissen, als selbst den epidemischen
Veitstanz mitzumachen, in den uns die betäubende Begriffswucht der drei Worte
Kunst, Schönheit und Sittlichkeit mit fortreißt.

Welche Fülle von Geschmacklosigkeit, welche Unsumme stilistischer, koloristischer,
architektonischer, statischer und phonetischer Perversität segelt heute, mehr frech als
kühn, unter der Flagge der Kunst! Ein gesunder, normaler Menschensinn wird
völlig auf den Kopf gestellt, er bleibt zuletzt rat- und hilflos wie ein Kind
vor alledem, was ihm heutzutage vorgesetzt wird, stehen und sieht sich zu dem
beschämenden Geständnis gezwungen, daß die moderne Kunst ihm "über" ist,
daß sie für sein Empfinden, für seinen veralteten Geschmack eben gerade durch
dieses "Über", dieses "Zuviel" zum Gegenteil von dem geworden, was er
seither für Kunst zu halten gewohnt war.

Für unsern veralteten Geschmack hat die hochmoderne "Überkunst" nichts
Erbauendes, Erhebendes, Beruhigendes, Versöhnendes mehr an sich. Er fühlt
sich im Gegenteil von ihr nur abgestoßen, angewidert, beunruhigt. Wir fühlen
uns durch sie gekränkt, im besten Empfinden verletzt. Das edel schöne, ideale
Angesicht der Muse ist uns zur verzerrten Fratze einer scheußlichen Mißgeburt
geworden.

Nicht besser geht es uns Alten, Unmodernen, sobald wir von Schönheit
lesen oder sprechen hören. Die begrifflich einseitige Tendenz, die dieses Wort
heutzutage zum Ausdruck bringt, macht sich mit solcher Dreistigkeit und Unver-


Line zeitgemäße Abraham a Santa-Llara-Predigt

auch alles, was uns Alten bisher als schön, gut, sittlich, gesund, wohlanständig
und geschmackvoll galt, von den Jungen in das Gegenteil verkehrt. Das
Schöne wird häßlich, das Gute schlecht, das Sittliche unsittlich, das Gesunde
krank, das Wohlanständige frivol, das Geschmackvolle geschmacklos. Ich brauche
nur auf die geradezu perversen Hutverirrungen unserer Überweiber und den
Haaraufputz der Kellnerinnen zu verweisen.

Eine Schriftstellerin von gutem Namen hat vor kurzem in einem kleinen
Essay an den Unfug erinnert, der heutzutage allein schon mit dem Worte
„Kultur" getrieben wird. Ich habe dem gleich einen ganzen Dreibund viel
gemißbrauchter Worte entgegenzusetzen: Kunst — Schönheit — Sittlichkeit!
Diese drei Worte sind mir persönlich nicht zum wenigsten deshalb zu einem wahren
Brechmittel geworden, weil gerade sie Gebiete umfassen, auf denen das zuvor gerügte
„Übertum" die üppigsten, geilsten, verderblichsten, ja ungeheuerlichsten Blüten treibt.

Nähme ich Flügel der Morgenröte — stehe, so bist du da! Flöge ich gen
äußersten Westen — stehe, so bist du auch da! Es versuche heute einmal
jemand, diesem Wortetriumvirat zu entfliehen! — Er wird, soweit die sogenannte
Kulturwelt reicht, sich vergeblich darum bemühen. Wie ein Fluch heftet es sich
an unseren Fersen fest — der ganze Dampfkreis der Atmosphäre ist damit
geschwängert — wo wir gehen und stehen, schwirrt es uns um die Ohren,
umkreist und umtost unsere nach stiller Betrachtung verlangenden Gedanken,
macht sie durch seine anmaßende, aufdringliche Art völlig zunichte, so daß wir
uns zuletzt gar nicht mehr anders zu helfen wissen, als selbst den epidemischen
Veitstanz mitzumachen, in den uns die betäubende Begriffswucht der drei Worte
Kunst, Schönheit und Sittlichkeit mit fortreißt.

Welche Fülle von Geschmacklosigkeit, welche Unsumme stilistischer, koloristischer,
architektonischer, statischer und phonetischer Perversität segelt heute, mehr frech als
kühn, unter der Flagge der Kunst! Ein gesunder, normaler Menschensinn wird
völlig auf den Kopf gestellt, er bleibt zuletzt rat- und hilflos wie ein Kind
vor alledem, was ihm heutzutage vorgesetzt wird, stehen und sieht sich zu dem
beschämenden Geständnis gezwungen, daß die moderne Kunst ihm „über" ist,
daß sie für sein Empfinden, für seinen veralteten Geschmack eben gerade durch
dieses „Über", dieses „Zuviel" zum Gegenteil von dem geworden, was er
seither für Kunst zu halten gewohnt war.

Für unsern veralteten Geschmack hat die hochmoderne „Überkunst" nichts
Erbauendes, Erhebendes, Beruhigendes, Versöhnendes mehr an sich. Er fühlt
sich im Gegenteil von ihr nur abgestoßen, angewidert, beunruhigt. Wir fühlen
uns durch sie gekränkt, im besten Empfinden verletzt. Das edel schöne, ideale
Angesicht der Muse ist uns zur verzerrten Fratze einer scheußlichen Mißgeburt
geworden.

Nicht besser geht es uns Alten, Unmodernen, sobald wir von Schönheit
lesen oder sprechen hören. Die begrifflich einseitige Tendenz, die dieses Wort
heutzutage zum Ausdruck bringt, macht sich mit solcher Dreistigkeit und Unver-


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[0608] Line zeitgemäße Abraham a Santa-Llara-Predigt auch alles, was uns Alten bisher als schön, gut, sittlich, gesund, wohlanständig und geschmackvoll galt, von den Jungen in das Gegenteil verkehrt. Das Schöne wird häßlich, das Gute schlecht, das Sittliche unsittlich, das Gesunde krank, das Wohlanständige frivol, das Geschmackvolle geschmacklos. Ich brauche nur auf die geradezu perversen Hutverirrungen unserer Überweiber und den Haaraufputz der Kellnerinnen zu verweisen. Eine Schriftstellerin von gutem Namen hat vor kurzem in einem kleinen Essay an den Unfug erinnert, der heutzutage allein schon mit dem Worte „Kultur" getrieben wird. Ich habe dem gleich einen ganzen Dreibund viel gemißbrauchter Worte entgegenzusetzen: Kunst — Schönheit — Sittlichkeit! Diese drei Worte sind mir persönlich nicht zum wenigsten deshalb zu einem wahren Brechmittel geworden, weil gerade sie Gebiete umfassen, auf denen das zuvor gerügte „Übertum" die üppigsten, geilsten, verderblichsten, ja ungeheuerlichsten Blüten treibt. Nähme ich Flügel der Morgenröte — stehe, so bist du da! Flöge ich gen äußersten Westen — stehe, so bist du auch da! Es versuche heute einmal jemand, diesem Wortetriumvirat zu entfliehen! — Er wird, soweit die sogenannte Kulturwelt reicht, sich vergeblich darum bemühen. Wie ein Fluch heftet es sich an unseren Fersen fest — der ganze Dampfkreis der Atmosphäre ist damit geschwängert — wo wir gehen und stehen, schwirrt es uns um die Ohren, umkreist und umtost unsere nach stiller Betrachtung verlangenden Gedanken, macht sie durch seine anmaßende, aufdringliche Art völlig zunichte, so daß wir uns zuletzt gar nicht mehr anders zu helfen wissen, als selbst den epidemischen Veitstanz mitzumachen, in den uns die betäubende Begriffswucht der drei Worte Kunst, Schönheit und Sittlichkeit mit fortreißt. Welche Fülle von Geschmacklosigkeit, welche Unsumme stilistischer, koloristischer, architektonischer, statischer und phonetischer Perversität segelt heute, mehr frech als kühn, unter der Flagge der Kunst! Ein gesunder, normaler Menschensinn wird völlig auf den Kopf gestellt, er bleibt zuletzt rat- und hilflos wie ein Kind vor alledem, was ihm heutzutage vorgesetzt wird, stehen und sieht sich zu dem beschämenden Geständnis gezwungen, daß die moderne Kunst ihm „über" ist, daß sie für sein Empfinden, für seinen veralteten Geschmack eben gerade durch dieses „Über", dieses „Zuviel" zum Gegenteil von dem geworden, was er seither für Kunst zu halten gewohnt war. Für unsern veralteten Geschmack hat die hochmoderne „Überkunst" nichts Erbauendes, Erhebendes, Beruhigendes, Versöhnendes mehr an sich. Er fühlt sich im Gegenteil von ihr nur abgestoßen, angewidert, beunruhigt. Wir fühlen uns durch sie gekränkt, im besten Empfinden verletzt. Das edel schöne, ideale Angesicht der Muse ist uns zur verzerrten Fratze einer scheußlichen Mißgeburt geworden. Nicht besser geht es uns Alten, Unmodernen, sobald wir von Schönheit lesen oder sprechen hören. Die begrifflich einseitige Tendenz, die dieses Wort heutzutage zum Ausdruck bringt, macht sich mit solcher Dreistigkeit und Unver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/608>, abgerufen am 04.07.2024.