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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Line zeitgemäße Abraham a Santa-Llara-Predigt

moralischen Halt in einer Zeit politischer Wirrungen verhängnisvolle Bahnen
einschlagen müssen und wäre wohl sicher dem unverhülltesten Macchiavellismus
zur Beute gefallen. Diesen moralischen Halt fand Bismarck in der Religion,
in seiner Religion. "Der Gott, der mich ^in mein Amt) hineingesetzt hat,"
so schrieb Bismarck im Jahre 1860 an Leopold von Gerlach, "wird mir auch
lieber den Weg hinauszeigeu als meine Seele darin verderben lassen, solange
ich ehrlich suche, was seines Dienstes in meinem Amte ist, und gehe ich fehl,
so wird er mein tägliches Gebet hören und mein Herz wenden."

Spricht so ein Mann, "mit dessen Christentum nicht viel mehr anzufangen
ist" und der sich "mit der Religion, nach der er wenig fragte, auch wirklich
sehr wohlfeil abgefunden hat?" (Overbeck a. a. O. 191, 198.) Bevor man
eine so ungeheuerliche Behauptung in die Welt gehen läßt, tut man gut, die Briefe
nachzulesen, die Bismarck mit dein Gutsbesitzer Andrae in Roman (Pommern)
und mit Senft von Pilsach gewechselt hat, die beide in freundschaftlichster Absicht
und doch in völliger Verkennung ihrer Berechtigung und Befähigung dazu dem
Minister als geistliche Warner und Berater zu dienen sich beifallen ließen
(BismarckjalM I 85, III 213 ff., 218 ff.). Bismarck antwortet Andrae mit
einer bei einem Manne von seiner Bedeutung geradezu rührenden Bescheidenheit,
indem er die Erwartung ausspricht, daß jener bei seiner Freundschaft und
christlichen Erkenntnis "den Urteilenden Vorsicht und Milde bei künftigen
Gelegenheiten empfehlen werde", und daß er hoffe, "daß unter die Vollzahl
der Sünder, die des Ruhmes vor Gott mangeln, seine Gnade auch ihm in
den Zweifeln und Gefahren seines Berufes den Stab demütigen Glaubens nicht
nehmen werde". Und Senft von Pilsach weist er auf den 4. und 5. Vers
des 12. Psalms hin: "Der Herr wolle ausrotten alle Heuchelei und die Zunge,
die da stolz redet, die da reden: .Unsere Zunge soll überHand haben, uns
gebühret zu reden; wer ist unser Herr?'" An diese Verwahrung gegen
pharisäischen Dünkel knüpft er die Versicherung, daß "er in ehrlicher Buße sein
schweres Tagewerk tue und in Furcht und Liebe Gottes seinen: angestammten
König in erschöpfender Arbeit diene", und daß er sich "für den Erfolg seiner
Arbeit und die Ruhe seines Gewissens" seinerseits auf den Schluß des
3. Psalms verlasse, der da lautet: "Bei dem Herrn findet man Hilfe und Deinen
Segen über Dein Volk. Sela."




Eine zeitgemäße Abraham a Santa-(Llara-predigt
von Wilhelm Wächter

zeitgemäß
Vorsetzenir leben im Zeitalter des "über"tuas, der Überkultur, der Über¬
bildung, der Überkunst, der Übererziehung, des Überweibertums,
der Überansprüche an Lebensgenuß, kurz -- -- der Übertreibung
jeder Art und nach allen Richtungen hin. Wir leben im Zeitalter
des "Zuviel" und das läßt sich, die ganze Eigenartigkeit dieser
eil Geschmacksrichtung kennzeichnend, summarisch eben am besten durch
dieses Wörtchens "über" zum Ausdruck bringen. Eben dadurch wirdMS


Line zeitgemäße Abraham a Santa-Llara-Predigt

moralischen Halt in einer Zeit politischer Wirrungen verhängnisvolle Bahnen
einschlagen müssen und wäre wohl sicher dem unverhülltesten Macchiavellismus
zur Beute gefallen. Diesen moralischen Halt fand Bismarck in der Religion,
in seiner Religion. „Der Gott, der mich ^in mein Amt) hineingesetzt hat,"
so schrieb Bismarck im Jahre 1860 an Leopold von Gerlach, „wird mir auch
lieber den Weg hinauszeigeu als meine Seele darin verderben lassen, solange
ich ehrlich suche, was seines Dienstes in meinem Amte ist, und gehe ich fehl,
so wird er mein tägliches Gebet hören und mein Herz wenden."

Spricht so ein Mann, „mit dessen Christentum nicht viel mehr anzufangen
ist" und der sich „mit der Religion, nach der er wenig fragte, auch wirklich
sehr wohlfeil abgefunden hat?" (Overbeck a. a. O. 191, 198.) Bevor man
eine so ungeheuerliche Behauptung in die Welt gehen läßt, tut man gut, die Briefe
nachzulesen, die Bismarck mit dein Gutsbesitzer Andrae in Roman (Pommern)
und mit Senft von Pilsach gewechselt hat, die beide in freundschaftlichster Absicht
und doch in völliger Verkennung ihrer Berechtigung und Befähigung dazu dem
Minister als geistliche Warner und Berater zu dienen sich beifallen ließen
(BismarckjalM I 85, III 213 ff., 218 ff.). Bismarck antwortet Andrae mit
einer bei einem Manne von seiner Bedeutung geradezu rührenden Bescheidenheit,
indem er die Erwartung ausspricht, daß jener bei seiner Freundschaft und
christlichen Erkenntnis „den Urteilenden Vorsicht und Milde bei künftigen
Gelegenheiten empfehlen werde", und daß er hoffe, „daß unter die Vollzahl
der Sünder, die des Ruhmes vor Gott mangeln, seine Gnade auch ihm in
den Zweifeln und Gefahren seines Berufes den Stab demütigen Glaubens nicht
nehmen werde". Und Senft von Pilsach weist er auf den 4. und 5. Vers
des 12. Psalms hin: „Der Herr wolle ausrotten alle Heuchelei und die Zunge,
die da stolz redet, die da reden: .Unsere Zunge soll überHand haben, uns
gebühret zu reden; wer ist unser Herr?'" An diese Verwahrung gegen
pharisäischen Dünkel knüpft er die Versicherung, daß „er in ehrlicher Buße sein
schweres Tagewerk tue und in Furcht und Liebe Gottes seinen: angestammten
König in erschöpfender Arbeit diene", und daß er sich „für den Erfolg seiner
Arbeit und die Ruhe seines Gewissens" seinerseits auf den Schluß des
3. Psalms verlasse, der da lautet: „Bei dem Herrn findet man Hilfe und Deinen
Segen über Dein Volk. Sela."




Eine zeitgemäße Abraham a Santa-(Llara-predigt
von Wilhelm Wächter

zeitgemäß
Vorsetzenir leben im Zeitalter des „über"tuas, der Überkultur, der Über¬
bildung, der Überkunst, der Übererziehung, des Überweibertums,
der Überansprüche an Lebensgenuß, kurz — — der Übertreibung
jeder Art und nach allen Richtungen hin. Wir leben im Zeitalter
des „Zuviel" und das läßt sich, die ganze Eigenartigkeit dieser
eil Geschmacksrichtung kennzeichnend, summarisch eben am besten durch
dieses Wörtchens „über" zum Ausdruck bringen. Eben dadurch wirdMS


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[0607] Line zeitgemäße Abraham a Santa-Llara-Predigt moralischen Halt in einer Zeit politischer Wirrungen verhängnisvolle Bahnen einschlagen müssen und wäre wohl sicher dem unverhülltesten Macchiavellismus zur Beute gefallen. Diesen moralischen Halt fand Bismarck in der Religion, in seiner Religion. „Der Gott, der mich ^in mein Amt) hineingesetzt hat," so schrieb Bismarck im Jahre 1860 an Leopold von Gerlach, „wird mir auch lieber den Weg hinauszeigeu als meine Seele darin verderben lassen, solange ich ehrlich suche, was seines Dienstes in meinem Amte ist, und gehe ich fehl, so wird er mein tägliches Gebet hören und mein Herz wenden." Spricht so ein Mann, „mit dessen Christentum nicht viel mehr anzufangen ist" und der sich „mit der Religion, nach der er wenig fragte, auch wirklich sehr wohlfeil abgefunden hat?" (Overbeck a. a. O. 191, 198.) Bevor man eine so ungeheuerliche Behauptung in die Welt gehen läßt, tut man gut, die Briefe nachzulesen, die Bismarck mit dein Gutsbesitzer Andrae in Roman (Pommern) und mit Senft von Pilsach gewechselt hat, die beide in freundschaftlichster Absicht und doch in völliger Verkennung ihrer Berechtigung und Befähigung dazu dem Minister als geistliche Warner und Berater zu dienen sich beifallen ließen (BismarckjalM I 85, III 213 ff., 218 ff.). Bismarck antwortet Andrae mit einer bei einem Manne von seiner Bedeutung geradezu rührenden Bescheidenheit, indem er die Erwartung ausspricht, daß jener bei seiner Freundschaft und christlichen Erkenntnis „den Urteilenden Vorsicht und Milde bei künftigen Gelegenheiten empfehlen werde", und daß er hoffe, „daß unter die Vollzahl der Sünder, die des Ruhmes vor Gott mangeln, seine Gnade auch ihm in den Zweifeln und Gefahren seines Berufes den Stab demütigen Glaubens nicht nehmen werde". Und Senft von Pilsach weist er auf den 4. und 5. Vers des 12. Psalms hin: „Der Herr wolle ausrotten alle Heuchelei und die Zunge, die da stolz redet, die da reden: .Unsere Zunge soll überHand haben, uns gebühret zu reden; wer ist unser Herr?'" An diese Verwahrung gegen pharisäischen Dünkel knüpft er die Versicherung, daß „er in ehrlicher Buße sein schweres Tagewerk tue und in Furcht und Liebe Gottes seinen: angestammten König in erschöpfender Arbeit diene", und daß er sich „für den Erfolg seiner Arbeit und die Ruhe seines Gewissens" seinerseits auf den Schluß des 3. Psalms verlasse, der da lautet: „Bei dem Herrn findet man Hilfe und Deinen Segen über Dein Volk. Sela." Eine zeitgemäße Abraham a Santa-(Llara-predigt von Wilhelm Wächter zeitgemäß Vorsetzenir leben im Zeitalter des „über"tuas, der Überkultur, der Über¬ bildung, der Überkunst, der Übererziehung, des Überweibertums, der Überansprüche an Lebensgenuß, kurz — — der Übertreibung jeder Art und nach allen Richtungen hin. Wir leben im Zeitalter des „Zuviel" und das läßt sich, die ganze Eigenartigkeit dieser eil Geschmacksrichtung kennzeichnend, summarisch eben am besten durch dieses Wörtchens „über" zum Ausdruck bringen. Eben dadurch wirdMS

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/607>, abgerufen am 04.07.2024.