Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Line zeitgemäße Abraham a Santa-Llara-Predigt

frorenheit breit, daß wir schon gar nicht mehr anders können, als Schönheit
und Nacktsein so ziemlich für dasselbe zu halten. Die krankhaft gesteigerte Sucht
nach dem Schönen, das Sichhineinknienwollen in das Schöne, das "Über", das
"Zuviel" am modernen Schönheitsbegriff treibt schnurstracks in die Arme der
Nacktschwärmerei, die eine der bedenklichsten Treibhausblüten moderner Über¬
kultur genannt werdeu muß. Sie ist um so bedenklicher, als sie längst
schlummernde, von der Kulturmenschheit erst nach langwierigem, mühsamem
Ringen überwundene tierische Triebe zu gemeingefährlichen Rückschlagserscheinungen
anreizt.

Das Propagandamachen für das Nackte kann, aller Frauenemanzipation
und des Sichauslebenwollens ungeachtet, kulturgeschichtlich nur als ein Atavismus
schlimmster Sorte gedeutet werden. Diejenigen, welche das Nackte oder den
Geschmack am Nackten uuter der vergoldeten Aufschrift "Schönheit" im gesitteten,
sozialen Menschenleben wieder einzuführen bestrebt sind, spielen, wie das Kind,
mit dem Feuer, sie handhaben ein zweischneidiges Schwert mit solchen: Ungeschick,
daß es demi Menschenkenner und Menschenfreund davor graust.

Wenn es heute innerhalb der Kulturmenschheit schon so weit gekommen ist,
daß sich nackte Frauenzimmer zur Schönheitskonkurrenz zusammenfinden, daß
sich das Weib, angeblich im Dienst der Schönheit, vor vielen Männeraugen
entblößt, dann kann man es der Obrigkeit nur hoch anrechnen, wenn sie gegen¬
über diesem Schönheitskultus, wenn sie angesichts so bedenklicher Äußerungen
des Schönheitsempfindens und -Verlangens eine steifnackige Haltung annimmt.
Kein aufrichtiger Kulturfreund kann heute einem Richter genug danken, der
sich in dem allgemeinen dekadenten Schönheits- und Nacktheitstaumel der Gegen¬
wart so viel gesunde Urteilskraft und -fähigkeit bewahrt, daß er, den Ansichten
der Kunst- und Schönheitsexperten gegebenenfalls sogar entgegentretend, jede
Nacktschwärmerei, jede Art der Nacktdarstellung, sei es in tiZura, sei es im
Bild, aus der Gesellschaft auszurotten sich bestrebt. Als gerichtliche Sach¬
verständige, die darüber zu entscheiden haben, wann und wo die Nacktdarstellung
zulässig sei, muß man vor allem solche auswählen, die in der Menschheit¬
geschichte gelesen haben und wissen, was es diese für einen Aufwand an Zeit
und Mühe kostete, bis der durch den Anblick des nackten Menschenleibes provozierte
tierische Trieb so weit gebändigt war, daß der Mensch als Kulturmensch unter
seinesgleichen mit Ehren bestehen konnte.

"Öder Philister -- ausgetrocknete Alltagsseele!" werden nicht wenige aus¬
rufen. Ich weiß es, ich bin darauf gefaßt und bemühe mich, diesen Vorwurf
mit Würde zu tragen, aber -- ich sehe auch, ich höre auch, was rings um
mich herum vorgeht. Ich beobachte, wo ich gerade geh' und stehe, meine Mit¬
menschen -- im Haus und aus der Straße, im Konzertsaal und im Theater,
in dem Buchladen und in der Kunsthandlung, auf dem Spaziergang und in
der Eisenbahn, in der Elektrischen und im Kaffeehaus', im Schwimmbad und
in der Rasierstube -- und ich hunde die Eindrücke, das Gesehene und Gehörte,


Line zeitgemäße Abraham a Santa-Llara-Predigt

frorenheit breit, daß wir schon gar nicht mehr anders können, als Schönheit
und Nacktsein so ziemlich für dasselbe zu halten. Die krankhaft gesteigerte Sucht
nach dem Schönen, das Sichhineinknienwollen in das Schöne, das „Über", das
„Zuviel" am modernen Schönheitsbegriff treibt schnurstracks in die Arme der
Nacktschwärmerei, die eine der bedenklichsten Treibhausblüten moderner Über¬
kultur genannt werdeu muß. Sie ist um so bedenklicher, als sie längst
schlummernde, von der Kulturmenschheit erst nach langwierigem, mühsamem
Ringen überwundene tierische Triebe zu gemeingefährlichen Rückschlagserscheinungen
anreizt.

Das Propagandamachen für das Nackte kann, aller Frauenemanzipation
und des Sichauslebenwollens ungeachtet, kulturgeschichtlich nur als ein Atavismus
schlimmster Sorte gedeutet werden. Diejenigen, welche das Nackte oder den
Geschmack am Nackten uuter der vergoldeten Aufschrift „Schönheit" im gesitteten,
sozialen Menschenleben wieder einzuführen bestrebt sind, spielen, wie das Kind,
mit dem Feuer, sie handhaben ein zweischneidiges Schwert mit solchen: Ungeschick,
daß es demi Menschenkenner und Menschenfreund davor graust.

Wenn es heute innerhalb der Kulturmenschheit schon so weit gekommen ist,
daß sich nackte Frauenzimmer zur Schönheitskonkurrenz zusammenfinden, daß
sich das Weib, angeblich im Dienst der Schönheit, vor vielen Männeraugen
entblößt, dann kann man es der Obrigkeit nur hoch anrechnen, wenn sie gegen¬
über diesem Schönheitskultus, wenn sie angesichts so bedenklicher Äußerungen
des Schönheitsempfindens und -Verlangens eine steifnackige Haltung annimmt.
Kein aufrichtiger Kulturfreund kann heute einem Richter genug danken, der
sich in dem allgemeinen dekadenten Schönheits- und Nacktheitstaumel der Gegen¬
wart so viel gesunde Urteilskraft und -fähigkeit bewahrt, daß er, den Ansichten
der Kunst- und Schönheitsexperten gegebenenfalls sogar entgegentretend, jede
Nacktschwärmerei, jede Art der Nacktdarstellung, sei es in tiZura, sei es im
Bild, aus der Gesellschaft auszurotten sich bestrebt. Als gerichtliche Sach¬
verständige, die darüber zu entscheiden haben, wann und wo die Nacktdarstellung
zulässig sei, muß man vor allem solche auswählen, die in der Menschheit¬
geschichte gelesen haben und wissen, was es diese für einen Aufwand an Zeit
und Mühe kostete, bis der durch den Anblick des nackten Menschenleibes provozierte
tierische Trieb so weit gebändigt war, daß der Mensch als Kulturmensch unter
seinesgleichen mit Ehren bestehen konnte.

„Öder Philister — ausgetrocknete Alltagsseele!" werden nicht wenige aus¬
rufen. Ich weiß es, ich bin darauf gefaßt und bemühe mich, diesen Vorwurf
mit Würde zu tragen, aber — ich sehe auch, ich höre auch, was rings um
mich herum vorgeht. Ich beobachte, wo ich gerade geh' und stehe, meine Mit¬
menschen — im Haus und aus der Straße, im Konzertsaal und im Theater,
in dem Buchladen und in der Kunsthandlung, auf dem Spaziergang und in
der Eisenbahn, in der Elektrischen und im Kaffeehaus', im Schwimmbad und
in der Rasierstube — und ich hunde die Eindrücke, das Gesehene und Gehörte,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0609" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/315606"/>
          <fw type="header" place="top"> Line zeitgemäße Abraham a Santa-Llara-Predigt</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2754" prev="#ID_2753"> frorenheit breit, daß wir schon gar nicht mehr anders können, als Schönheit<lb/>
und Nacktsein so ziemlich für dasselbe zu halten. Die krankhaft gesteigerte Sucht<lb/>
nach dem Schönen, das Sichhineinknienwollen in das Schöne, das &#x201E;Über", das<lb/>
&#x201E;Zuviel" am modernen Schönheitsbegriff treibt schnurstracks in die Arme der<lb/>
Nacktschwärmerei, die eine der bedenklichsten Treibhausblüten moderner Über¬<lb/>
kultur genannt werdeu muß. Sie ist um so bedenklicher, als sie längst<lb/>
schlummernde, von der Kulturmenschheit erst nach langwierigem, mühsamem<lb/>
Ringen überwundene tierische Triebe zu gemeingefährlichen Rückschlagserscheinungen<lb/>
anreizt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2755"> Das Propagandamachen für das Nackte kann, aller Frauenemanzipation<lb/>
und des Sichauslebenwollens ungeachtet, kulturgeschichtlich nur als ein Atavismus<lb/>
schlimmster Sorte gedeutet werden. Diejenigen, welche das Nackte oder den<lb/>
Geschmack am Nackten uuter der vergoldeten Aufschrift &#x201E;Schönheit" im gesitteten,<lb/>
sozialen Menschenleben wieder einzuführen bestrebt sind, spielen, wie das Kind,<lb/>
mit dem Feuer, sie handhaben ein zweischneidiges Schwert mit solchen: Ungeschick,<lb/>
daß es demi Menschenkenner und Menschenfreund davor graust.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2756"> Wenn es heute innerhalb der Kulturmenschheit schon so weit gekommen ist,<lb/>
daß sich nackte Frauenzimmer zur Schönheitskonkurrenz zusammenfinden, daß<lb/>
sich das Weib, angeblich im Dienst der Schönheit, vor vielen Männeraugen<lb/>
entblößt, dann kann man es der Obrigkeit nur hoch anrechnen, wenn sie gegen¬<lb/>
über diesem Schönheitskultus, wenn sie angesichts so bedenklicher Äußerungen<lb/>
des Schönheitsempfindens und -Verlangens eine steifnackige Haltung annimmt.<lb/>
Kein aufrichtiger Kulturfreund kann heute einem Richter genug danken, der<lb/>
sich in dem allgemeinen dekadenten Schönheits- und Nacktheitstaumel der Gegen¬<lb/>
wart so viel gesunde Urteilskraft und -fähigkeit bewahrt, daß er, den Ansichten<lb/>
der Kunst- und Schönheitsexperten gegebenenfalls sogar entgegentretend, jede<lb/>
Nacktschwärmerei, jede Art der Nacktdarstellung, sei es in tiZura, sei es im<lb/>
Bild, aus der Gesellschaft auszurotten sich bestrebt. Als gerichtliche Sach¬<lb/>
verständige, die darüber zu entscheiden haben, wann und wo die Nacktdarstellung<lb/>
zulässig sei, muß man vor allem solche auswählen, die in der Menschheit¬<lb/>
geschichte gelesen haben und wissen, was es diese für einen Aufwand an Zeit<lb/>
und Mühe kostete, bis der durch den Anblick des nackten Menschenleibes provozierte<lb/>
tierische Trieb so weit gebändigt war, daß der Mensch als Kulturmensch unter<lb/>
seinesgleichen mit Ehren bestehen konnte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2757" next="#ID_2758"> &#x201E;Öder Philister &#x2014; ausgetrocknete Alltagsseele!" werden nicht wenige aus¬<lb/>
rufen. Ich weiß es, ich bin darauf gefaßt und bemühe mich, diesen Vorwurf<lb/>
mit Würde zu tragen, aber &#x2014; ich sehe auch, ich höre auch, was rings um<lb/>
mich herum vorgeht. Ich beobachte, wo ich gerade geh' und stehe, meine Mit¬<lb/>
menschen &#x2014; im Haus und aus der Straße, im Konzertsaal und im Theater,<lb/>
in dem Buchladen und in der Kunsthandlung, auf dem Spaziergang und in<lb/>
der Eisenbahn, in der Elektrischen und im Kaffeehaus', im Schwimmbad und<lb/>
in der Rasierstube &#x2014; und ich hunde die Eindrücke, das Gesehene und Gehörte,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0609] Line zeitgemäße Abraham a Santa-Llara-Predigt frorenheit breit, daß wir schon gar nicht mehr anders können, als Schönheit und Nacktsein so ziemlich für dasselbe zu halten. Die krankhaft gesteigerte Sucht nach dem Schönen, das Sichhineinknienwollen in das Schöne, das „Über", das „Zuviel" am modernen Schönheitsbegriff treibt schnurstracks in die Arme der Nacktschwärmerei, die eine der bedenklichsten Treibhausblüten moderner Über¬ kultur genannt werdeu muß. Sie ist um so bedenklicher, als sie längst schlummernde, von der Kulturmenschheit erst nach langwierigem, mühsamem Ringen überwundene tierische Triebe zu gemeingefährlichen Rückschlagserscheinungen anreizt. Das Propagandamachen für das Nackte kann, aller Frauenemanzipation und des Sichauslebenwollens ungeachtet, kulturgeschichtlich nur als ein Atavismus schlimmster Sorte gedeutet werden. Diejenigen, welche das Nackte oder den Geschmack am Nackten uuter der vergoldeten Aufschrift „Schönheit" im gesitteten, sozialen Menschenleben wieder einzuführen bestrebt sind, spielen, wie das Kind, mit dem Feuer, sie handhaben ein zweischneidiges Schwert mit solchen: Ungeschick, daß es demi Menschenkenner und Menschenfreund davor graust. Wenn es heute innerhalb der Kulturmenschheit schon so weit gekommen ist, daß sich nackte Frauenzimmer zur Schönheitskonkurrenz zusammenfinden, daß sich das Weib, angeblich im Dienst der Schönheit, vor vielen Männeraugen entblößt, dann kann man es der Obrigkeit nur hoch anrechnen, wenn sie gegen¬ über diesem Schönheitskultus, wenn sie angesichts so bedenklicher Äußerungen des Schönheitsempfindens und -Verlangens eine steifnackige Haltung annimmt. Kein aufrichtiger Kulturfreund kann heute einem Richter genug danken, der sich in dem allgemeinen dekadenten Schönheits- und Nacktheitstaumel der Gegen¬ wart so viel gesunde Urteilskraft und -fähigkeit bewahrt, daß er, den Ansichten der Kunst- und Schönheitsexperten gegebenenfalls sogar entgegentretend, jede Nacktschwärmerei, jede Art der Nacktdarstellung, sei es in tiZura, sei es im Bild, aus der Gesellschaft auszurotten sich bestrebt. Als gerichtliche Sach¬ verständige, die darüber zu entscheiden haben, wann und wo die Nacktdarstellung zulässig sei, muß man vor allem solche auswählen, die in der Menschheit¬ geschichte gelesen haben und wissen, was es diese für einen Aufwand an Zeit und Mühe kostete, bis der durch den Anblick des nackten Menschenleibes provozierte tierische Trieb so weit gebändigt war, daß der Mensch als Kulturmensch unter seinesgleichen mit Ehren bestehen konnte. „Öder Philister — ausgetrocknete Alltagsseele!" werden nicht wenige aus¬ rufen. Ich weiß es, ich bin darauf gefaßt und bemühe mich, diesen Vorwurf mit Würde zu tragen, aber — ich sehe auch, ich höre auch, was rings um mich herum vorgeht. Ich beobachte, wo ich gerade geh' und stehe, meine Mit¬ menschen — im Haus und aus der Straße, im Konzertsaal und im Theater, in dem Buchladen und in der Kunsthandlung, auf dem Spaziergang und in der Eisenbahn, in der Elektrischen und im Kaffeehaus', im Schwimmbad und in der Rasierstube — und ich hunde die Eindrücke, das Gesehene und Gehörte,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/609
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/609>, abgerufen am 04.07.2024.