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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Die religiösen Grundlagen der politischen Anschauungen Bismarcks

unsere ganze Zeit durchsetzt, eine Krankheit, die bis in die höchsten Spitzen der
menschlichen Gesellschaft hinaufreicht: selbst dem Souverän ist die Verantwort¬
lichkeit im höchsten Grade beschwerlich und empfindlich, die er mit der Hand¬
habung des Richtschwertes übernimmt."

So schwer die Verantwortung aber auch sein mag, die dem gewissenhaften
Staatsmann aus dieser Frage erwächst, so wiegt doch unendlich schwerer die
Verantwortung, die er vor seinem eigenen Gewissen, vor Mit- und Nachwelt
zu tragen hat, wenn er sich entschließt, das Heil des Staates dein blutig-ernsten
Spiele des Krieges anzuvertrauen. Während es sich bei der Ausübung der
Todesstrafe nur um das Leben des Einzelnen handelt und nur um das Dasein
eines Menschen, dessen Leben ein Schaden für die Allgemeinheit sein würde,
verschlingt der Krieg die besten, die wackersten Söhne des Volks und läßt
Ströme edlen Blutes fließen. Es fällt uns schwer, uns in die Seele eines
Staatsmannes zu denken, der sich in die furchtbare Notwendigkeit versetzt sieht,
das Heil des Staates auf die Spitze des Schwertes zu stellen und die Bitterkeit
des Danteschen Wortes durchzukosten: "Gefühllosigkeit ist oft Gefühl und Pflicht".

Dreimal im Verlaufe seiner dreißigjährigen Ministerlaufbahu ist Bismarck
in die Lage versetzt worden, seinem königlichen Herrn zu raten, das Schwert
zu ziehen. Alle diese drei Kriege galten der Ordnung der deutschen Angelegen¬
heiten. Schon früh hatte Bismarck die Überzeugung gewonnen, daß die Krankheit
des deutschen Volkskörpers, durch die Sünden vergangener Jahrhunderte ver¬
schleppt und verschlimmert, nur "ierro et i^ni" geheilt werden könnte. "Die
Frage," schreibt er im Jahre 1849 an seine Gattin, "wird überhaupt nicht in
unseren Kammern, sondern in der Diplomatie und im Felde entschieden, und
alles, was wir darüber schwatzen und beschließen, hat nicht mehr Wert als die
Mondscheinbetrachtungen eines sentimentalen Jünglings, der Luftschlösser baut
und denkt, daß irgendein unverhofftes Ereignis ihn zum großen Manne macht."
Er war also von der Notwendigkeit dieses Krieges überzeugt, wie von der
Notwendigkeit des Krieges überhaupt.

Zu dieser Ansicht gesellt sich die Erkenntnis, daß, wie die sozialen Ver¬
schiedenheiten "gottgewollte Realitäten" sind, und, wie nach Bismarcks Auf¬
fassung, der Kampf zwischen Kapital und Arbeit eine Einrichtung der Vorsehung
ist, so auch die Verschiedenheit der Nationalitäten im Plane des Schöpfers
begründet ist, dem es leicht gewesen sein würde, der Menschheit den ewigen
Frieden zu schenken, dadurch, daß er bloß eine Rasse in den Erdteil, in die
Welt gesetzt hätte. "Wenn nun viele nebeneinander wohnen," so schließt Bismarck
auf Grund dieser Voraussetzungen, "so muß man, wenn man überhaupt über
die Intentionen der göttlichen Vorsehung nachdenken will, doch darin das
Prinzip erkennen, das sich in der ganzen Natur betätigt."

Und doch darf der Staat, wenn er, wie Bismarck will, ein christlicher
Staat sein soll, die Stimme des Mitleids und der Menschlichkeit nicht ganz
vom Getöse der Waffen übertäuben lassen, wenn es ihm auch unmöglich ist,
sich zu der idealen sittlichen Höhe des christlichen Gebotes der Feindesliebe zu
erheben.

Auch die unbilligste Betrachtung wird Bismarck, in Ansehung seiner drei
blutigen Wassergänge, nicht auf eine Stufe mit Napoleon I. oder Ludwig XIV.
stellen können. Polnischer Ehrgeiz war ihm ebenso fremd wie persönlicher, und
selbst das Blut des Geringsten würde ihm zu kostbar gewesen sein, um es dem
bloßen Verlangen zu opfern, das "Prestige" zu wahren oder den Lorbeer des
Helden um seine Stirne zu winden. "Glauben Sie mir," sagte er über diesen


Grenzboten I 1910 75
Die religiösen Grundlagen der politischen Anschauungen Bismarcks

unsere ganze Zeit durchsetzt, eine Krankheit, die bis in die höchsten Spitzen der
menschlichen Gesellschaft hinaufreicht: selbst dem Souverän ist die Verantwort¬
lichkeit im höchsten Grade beschwerlich und empfindlich, die er mit der Hand¬
habung des Richtschwertes übernimmt."

So schwer die Verantwortung aber auch sein mag, die dem gewissenhaften
Staatsmann aus dieser Frage erwächst, so wiegt doch unendlich schwerer die
Verantwortung, die er vor seinem eigenen Gewissen, vor Mit- und Nachwelt
zu tragen hat, wenn er sich entschließt, das Heil des Staates dein blutig-ernsten
Spiele des Krieges anzuvertrauen. Während es sich bei der Ausübung der
Todesstrafe nur um das Leben des Einzelnen handelt und nur um das Dasein
eines Menschen, dessen Leben ein Schaden für die Allgemeinheit sein würde,
verschlingt der Krieg die besten, die wackersten Söhne des Volks und läßt
Ströme edlen Blutes fließen. Es fällt uns schwer, uns in die Seele eines
Staatsmannes zu denken, der sich in die furchtbare Notwendigkeit versetzt sieht,
das Heil des Staates auf die Spitze des Schwertes zu stellen und die Bitterkeit
des Danteschen Wortes durchzukosten: „Gefühllosigkeit ist oft Gefühl und Pflicht".

Dreimal im Verlaufe seiner dreißigjährigen Ministerlaufbahu ist Bismarck
in die Lage versetzt worden, seinem königlichen Herrn zu raten, das Schwert
zu ziehen. Alle diese drei Kriege galten der Ordnung der deutschen Angelegen¬
heiten. Schon früh hatte Bismarck die Überzeugung gewonnen, daß die Krankheit
des deutschen Volkskörpers, durch die Sünden vergangener Jahrhunderte ver¬
schleppt und verschlimmert, nur „ierro et i^ni" geheilt werden könnte. „Die
Frage," schreibt er im Jahre 1849 an seine Gattin, „wird überhaupt nicht in
unseren Kammern, sondern in der Diplomatie und im Felde entschieden, und
alles, was wir darüber schwatzen und beschließen, hat nicht mehr Wert als die
Mondscheinbetrachtungen eines sentimentalen Jünglings, der Luftschlösser baut
und denkt, daß irgendein unverhofftes Ereignis ihn zum großen Manne macht."
Er war also von der Notwendigkeit dieses Krieges überzeugt, wie von der
Notwendigkeit des Krieges überhaupt.

Zu dieser Ansicht gesellt sich die Erkenntnis, daß, wie die sozialen Ver¬
schiedenheiten „gottgewollte Realitäten" sind, und, wie nach Bismarcks Auf¬
fassung, der Kampf zwischen Kapital und Arbeit eine Einrichtung der Vorsehung
ist, so auch die Verschiedenheit der Nationalitäten im Plane des Schöpfers
begründet ist, dem es leicht gewesen sein würde, der Menschheit den ewigen
Frieden zu schenken, dadurch, daß er bloß eine Rasse in den Erdteil, in die
Welt gesetzt hätte. „Wenn nun viele nebeneinander wohnen," so schließt Bismarck
auf Grund dieser Voraussetzungen, „so muß man, wenn man überhaupt über
die Intentionen der göttlichen Vorsehung nachdenken will, doch darin das
Prinzip erkennen, das sich in der ganzen Natur betätigt."

Und doch darf der Staat, wenn er, wie Bismarck will, ein christlicher
Staat sein soll, die Stimme des Mitleids und der Menschlichkeit nicht ganz
vom Getöse der Waffen übertäuben lassen, wenn es ihm auch unmöglich ist,
sich zu der idealen sittlichen Höhe des christlichen Gebotes der Feindesliebe zu
erheben.

Auch die unbilligste Betrachtung wird Bismarck, in Ansehung seiner drei
blutigen Wassergänge, nicht auf eine Stufe mit Napoleon I. oder Ludwig XIV.
stellen können. Polnischer Ehrgeiz war ihm ebenso fremd wie persönlicher, und
selbst das Blut des Geringsten würde ihm zu kostbar gewesen sein, um es dem
bloßen Verlangen zu opfern, das „Prestige" zu wahren oder den Lorbeer des
Helden um seine Stirne zu winden. „Glauben Sie mir," sagte er über diesen


Grenzboten I 1910 75
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[0605] Die religiösen Grundlagen der politischen Anschauungen Bismarcks unsere ganze Zeit durchsetzt, eine Krankheit, die bis in die höchsten Spitzen der menschlichen Gesellschaft hinaufreicht: selbst dem Souverän ist die Verantwort¬ lichkeit im höchsten Grade beschwerlich und empfindlich, die er mit der Hand¬ habung des Richtschwertes übernimmt." So schwer die Verantwortung aber auch sein mag, die dem gewissenhaften Staatsmann aus dieser Frage erwächst, so wiegt doch unendlich schwerer die Verantwortung, die er vor seinem eigenen Gewissen, vor Mit- und Nachwelt zu tragen hat, wenn er sich entschließt, das Heil des Staates dein blutig-ernsten Spiele des Krieges anzuvertrauen. Während es sich bei der Ausübung der Todesstrafe nur um das Leben des Einzelnen handelt und nur um das Dasein eines Menschen, dessen Leben ein Schaden für die Allgemeinheit sein würde, verschlingt der Krieg die besten, die wackersten Söhne des Volks und läßt Ströme edlen Blutes fließen. Es fällt uns schwer, uns in die Seele eines Staatsmannes zu denken, der sich in die furchtbare Notwendigkeit versetzt sieht, das Heil des Staates auf die Spitze des Schwertes zu stellen und die Bitterkeit des Danteschen Wortes durchzukosten: „Gefühllosigkeit ist oft Gefühl und Pflicht". Dreimal im Verlaufe seiner dreißigjährigen Ministerlaufbahu ist Bismarck in die Lage versetzt worden, seinem königlichen Herrn zu raten, das Schwert zu ziehen. Alle diese drei Kriege galten der Ordnung der deutschen Angelegen¬ heiten. Schon früh hatte Bismarck die Überzeugung gewonnen, daß die Krankheit des deutschen Volkskörpers, durch die Sünden vergangener Jahrhunderte ver¬ schleppt und verschlimmert, nur „ierro et i^ni" geheilt werden könnte. „Die Frage," schreibt er im Jahre 1849 an seine Gattin, „wird überhaupt nicht in unseren Kammern, sondern in der Diplomatie und im Felde entschieden, und alles, was wir darüber schwatzen und beschließen, hat nicht mehr Wert als die Mondscheinbetrachtungen eines sentimentalen Jünglings, der Luftschlösser baut und denkt, daß irgendein unverhofftes Ereignis ihn zum großen Manne macht." Er war also von der Notwendigkeit dieses Krieges überzeugt, wie von der Notwendigkeit des Krieges überhaupt. Zu dieser Ansicht gesellt sich die Erkenntnis, daß, wie die sozialen Ver¬ schiedenheiten „gottgewollte Realitäten" sind, und, wie nach Bismarcks Auf¬ fassung, der Kampf zwischen Kapital und Arbeit eine Einrichtung der Vorsehung ist, so auch die Verschiedenheit der Nationalitäten im Plane des Schöpfers begründet ist, dem es leicht gewesen sein würde, der Menschheit den ewigen Frieden zu schenken, dadurch, daß er bloß eine Rasse in den Erdteil, in die Welt gesetzt hätte. „Wenn nun viele nebeneinander wohnen," so schließt Bismarck auf Grund dieser Voraussetzungen, „so muß man, wenn man überhaupt über die Intentionen der göttlichen Vorsehung nachdenken will, doch darin das Prinzip erkennen, das sich in der ganzen Natur betätigt." Und doch darf der Staat, wenn er, wie Bismarck will, ein christlicher Staat sein soll, die Stimme des Mitleids und der Menschlichkeit nicht ganz vom Getöse der Waffen übertäuben lassen, wenn es ihm auch unmöglich ist, sich zu der idealen sittlichen Höhe des christlichen Gebotes der Feindesliebe zu erheben. Auch die unbilligste Betrachtung wird Bismarck, in Ansehung seiner drei blutigen Wassergänge, nicht auf eine Stufe mit Napoleon I. oder Ludwig XIV. stellen können. Polnischer Ehrgeiz war ihm ebenso fremd wie persönlicher, und selbst das Blut des Geringsten würde ihm zu kostbar gewesen sein, um es dem bloßen Verlangen zu opfern, das „Prestige" zu wahren oder den Lorbeer des Helden um seine Stirne zu winden. „Glauben Sie mir," sagte er über diesen Grenzboten I 1910 75

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/605>, abgerufen am 22.12.2024.