Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der proletarische Rlassenkampf

und eine verstärkte Anteilnahme der Arbeiter am politischen Leben, aber das
Aufgehen der sozialen Klasse der industriellen Arbeitnehmer fast restlos in eine
politische Partei erklärt sich doch aus noch anderen Gründen als aus den wirt¬
schaftlichen, hygienischen und sozialen Dispositionen, welche das Jndustriesnstem
mit feiner Menschenzusammenballung, mit der größeren Arbeitsintensität, mit
den Konjunkturschwankungen und Wertverschiebungen geliefert hat.

Die wachsende intellektuelle Bildung, die Entwicklung des Zeitungswesens
und der öffentlichen Meinung, die Fortschritte der liberalen Ideen, die
Disziplinierung der Massen durch Volksschule und Militärdienst, der starke
unbefriedigte Jntelligenzüberschuß in Deutschland, denen Bestätigung und richtige
Placierung versagt ist; ein nahezu erstarrter Gesellschafts- und Ämteraufbau, die
steigende Wirksamkeit der politischen Organisationen; die eigentümliche soziale
Schichtung in Preußen und Deutschland mit dem Vorherrschen der Junker- und
Militäraristokratie und mit der Unterdrückung des geistig beweglichen und
agitatorisch leidenschaftlichen Judentums; das Aneinanderrücken der verschiedenen
Einkommensschichten in den Städten, das die Gegensätze nicht vermindert hat;
die Üppigkeit und Prachtentfaltung in den Hauptverkehrswegen, welche aufreizend
wirken -- alle diese Kulturerscheinnngen und Strömungen erzeugten eine
proletarische Kritik von der Intensität und nachhallenden Wirkung etwa des
"Kommunistischen Manifestes". In diesem heißt es an einerStelle: "Alle bisherigen
Bewegungen waren Bewegungen von Minoritäten oder im Interesse von
Minoritäten. Die proletarische Bewegung ist die selbständige Bewegung der
ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl. Das Proletariat,
die unterste Schicht der jetzigen Gesellschaft, kann sich nicht erheben, nicht auf¬
richten, ohne daß der ganze Unterbau der Schichten, die die offizielle Gesellschaft
bilden, in die Luft gesprengt wird." Mit diesen: kritischen Enthusiasmus wird
die Masse organisiert, lernt sie ihre Kraft schätzen, setzt sie sich in vielen politischen
Einrichtungen durch, obwohl das sozialistische Erfurter Programm vor der
strengen sozialistischen Nachkritik in wesentlichen Punkten nicht mehr zu Recht
bestehen kann, so hat sich doch die darauf aufgebaute Partei trotz gegenteiliger
Prophezeiungen als fehr lebensfähig erwiesen.

Es sind im Laufe des vorigen Jahrhunderts die Träume einsamer Denker
zu einer mächtigen sozialen Bewegung geworden. Zuerst die verhältnismäßig
zahme Formel Fouriers, daß jeder Sozialist sei, der die Verbesserung der
Gesellschaftsordnung anstrebe, und auf die sich vielleicht auch der britische Minister
William Harcourt in seiner Erklärung stützen mag, daß wir alle heute Sozialisten
seien. Dann aber ein die Welt durchdringender Kampfruf: Abschaffung der
Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und Vergesellschaftung der
Produktionsmittel. Der Sozialismus hat sich inzwischen überzeugt, daß die
Umgestaltung der sozialen Ordnung im Interesse der arbeitenden Klassen, der
größten Mehrheit des Volkes, sich nur mit Hilfe des Staates vollziehen kann:
Der Staat soll in einer riesigen Assoziation mit Großbetriebscharakter und


Der proletarische Rlassenkampf

und eine verstärkte Anteilnahme der Arbeiter am politischen Leben, aber das
Aufgehen der sozialen Klasse der industriellen Arbeitnehmer fast restlos in eine
politische Partei erklärt sich doch aus noch anderen Gründen als aus den wirt¬
schaftlichen, hygienischen und sozialen Dispositionen, welche das Jndustriesnstem
mit feiner Menschenzusammenballung, mit der größeren Arbeitsintensität, mit
den Konjunkturschwankungen und Wertverschiebungen geliefert hat.

Die wachsende intellektuelle Bildung, die Entwicklung des Zeitungswesens
und der öffentlichen Meinung, die Fortschritte der liberalen Ideen, die
Disziplinierung der Massen durch Volksschule und Militärdienst, der starke
unbefriedigte Jntelligenzüberschuß in Deutschland, denen Bestätigung und richtige
Placierung versagt ist; ein nahezu erstarrter Gesellschafts- und Ämteraufbau, die
steigende Wirksamkeit der politischen Organisationen; die eigentümliche soziale
Schichtung in Preußen und Deutschland mit dem Vorherrschen der Junker- und
Militäraristokratie und mit der Unterdrückung des geistig beweglichen und
agitatorisch leidenschaftlichen Judentums; das Aneinanderrücken der verschiedenen
Einkommensschichten in den Städten, das die Gegensätze nicht vermindert hat;
die Üppigkeit und Prachtentfaltung in den Hauptverkehrswegen, welche aufreizend
wirken — alle diese Kulturerscheinnngen und Strömungen erzeugten eine
proletarische Kritik von der Intensität und nachhallenden Wirkung etwa des
„Kommunistischen Manifestes". In diesem heißt es an einerStelle: „Alle bisherigen
Bewegungen waren Bewegungen von Minoritäten oder im Interesse von
Minoritäten. Die proletarische Bewegung ist die selbständige Bewegung der
ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl. Das Proletariat,
die unterste Schicht der jetzigen Gesellschaft, kann sich nicht erheben, nicht auf¬
richten, ohne daß der ganze Unterbau der Schichten, die die offizielle Gesellschaft
bilden, in die Luft gesprengt wird." Mit diesen: kritischen Enthusiasmus wird
die Masse organisiert, lernt sie ihre Kraft schätzen, setzt sie sich in vielen politischen
Einrichtungen durch, obwohl das sozialistische Erfurter Programm vor der
strengen sozialistischen Nachkritik in wesentlichen Punkten nicht mehr zu Recht
bestehen kann, so hat sich doch die darauf aufgebaute Partei trotz gegenteiliger
Prophezeiungen als fehr lebensfähig erwiesen.

Es sind im Laufe des vorigen Jahrhunderts die Träume einsamer Denker
zu einer mächtigen sozialen Bewegung geworden. Zuerst die verhältnismäßig
zahme Formel Fouriers, daß jeder Sozialist sei, der die Verbesserung der
Gesellschaftsordnung anstrebe, und auf die sich vielleicht auch der britische Minister
William Harcourt in seiner Erklärung stützen mag, daß wir alle heute Sozialisten
seien. Dann aber ein die Welt durchdringender Kampfruf: Abschaffung der
Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und Vergesellschaftung der
Produktionsmittel. Der Sozialismus hat sich inzwischen überzeugt, daß die
Umgestaltung der sozialen Ordnung im Interesse der arbeitenden Klassen, der
größten Mehrheit des Volkes, sich nur mit Hilfe des Staates vollziehen kann:
Der Staat soll in einer riesigen Assoziation mit Großbetriebscharakter und


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0556" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/315553"/>
          <fw type="header" place="top"> Der proletarische Rlassenkampf</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2497" prev="#ID_2496"> und eine verstärkte Anteilnahme der Arbeiter am politischen Leben, aber das<lb/>
Aufgehen der sozialen Klasse der industriellen Arbeitnehmer fast restlos in eine<lb/>
politische Partei erklärt sich doch aus noch anderen Gründen als aus den wirt¬<lb/>
schaftlichen, hygienischen und sozialen Dispositionen, welche das Jndustriesnstem<lb/>
mit feiner Menschenzusammenballung, mit der größeren Arbeitsintensität, mit<lb/>
den Konjunkturschwankungen und Wertverschiebungen geliefert hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2498"> Die wachsende intellektuelle Bildung, die Entwicklung des Zeitungswesens<lb/>
und der öffentlichen Meinung, die Fortschritte der liberalen Ideen, die<lb/>
Disziplinierung der Massen durch Volksschule und Militärdienst, der starke<lb/>
unbefriedigte Jntelligenzüberschuß in Deutschland, denen Bestätigung und richtige<lb/>
Placierung versagt ist; ein nahezu erstarrter Gesellschafts- und Ämteraufbau, die<lb/>
steigende Wirksamkeit der politischen Organisationen; die eigentümliche soziale<lb/>
Schichtung in Preußen und Deutschland mit dem Vorherrschen der Junker- und<lb/>
Militäraristokratie und mit der Unterdrückung des geistig beweglichen und<lb/>
agitatorisch leidenschaftlichen Judentums; das Aneinanderrücken der verschiedenen<lb/>
Einkommensschichten in den Städten, das die Gegensätze nicht vermindert hat;<lb/>
die Üppigkeit und Prachtentfaltung in den Hauptverkehrswegen, welche aufreizend<lb/>
wirken &#x2014; alle diese Kulturerscheinnngen und Strömungen erzeugten eine<lb/>
proletarische Kritik von der Intensität und nachhallenden Wirkung etwa des<lb/>
&#x201E;Kommunistischen Manifestes". In diesem heißt es an einerStelle: &#x201E;Alle bisherigen<lb/>
Bewegungen waren Bewegungen von Minoritäten oder im Interesse von<lb/>
Minoritäten. Die proletarische Bewegung ist die selbständige Bewegung der<lb/>
ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl. Das Proletariat,<lb/>
die unterste Schicht der jetzigen Gesellschaft, kann sich nicht erheben, nicht auf¬<lb/>
richten, ohne daß der ganze Unterbau der Schichten, die die offizielle Gesellschaft<lb/>
bilden, in die Luft gesprengt wird." Mit diesen: kritischen Enthusiasmus wird<lb/>
die Masse organisiert, lernt sie ihre Kraft schätzen, setzt sie sich in vielen politischen<lb/>
Einrichtungen durch, obwohl das sozialistische Erfurter Programm vor der<lb/>
strengen sozialistischen Nachkritik in wesentlichen Punkten nicht mehr zu Recht<lb/>
bestehen kann, so hat sich doch die darauf aufgebaute Partei trotz gegenteiliger<lb/>
Prophezeiungen als fehr lebensfähig erwiesen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2499" next="#ID_2500"> Es sind im Laufe des vorigen Jahrhunderts die Träume einsamer Denker<lb/>
zu einer mächtigen sozialen Bewegung geworden. Zuerst die verhältnismäßig<lb/>
zahme Formel Fouriers, daß jeder Sozialist sei, der die Verbesserung der<lb/>
Gesellschaftsordnung anstrebe, und auf die sich vielleicht auch der britische Minister<lb/>
William Harcourt in seiner Erklärung stützen mag, daß wir alle heute Sozialisten<lb/>
seien. Dann aber ein die Welt durchdringender Kampfruf: Abschaffung der<lb/>
Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und Vergesellschaftung der<lb/>
Produktionsmittel. Der Sozialismus hat sich inzwischen überzeugt, daß die<lb/>
Umgestaltung der sozialen Ordnung im Interesse der arbeitenden Klassen, der<lb/>
größten Mehrheit des Volkes, sich nur mit Hilfe des Staates vollziehen kann:<lb/>
Der Staat soll in einer riesigen Assoziation mit Großbetriebscharakter und</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0556] Der proletarische Rlassenkampf und eine verstärkte Anteilnahme der Arbeiter am politischen Leben, aber das Aufgehen der sozialen Klasse der industriellen Arbeitnehmer fast restlos in eine politische Partei erklärt sich doch aus noch anderen Gründen als aus den wirt¬ schaftlichen, hygienischen und sozialen Dispositionen, welche das Jndustriesnstem mit feiner Menschenzusammenballung, mit der größeren Arbeitsintensität, mit den Konjunkturschwankungen und Wertverschiebungen geliefert hat. Die wachsende intellektuelle Bildung, die Entwicklung des Zeitungswesens und der öffentlichen Meinung, die Fortschritte der liberalen Ideen, die Disziplinierung der Massen durch Volksschule und Militärdienst, der starke unbefriedigte Jntelligenzüberschuß in Deutschland, denen Bestätigung und richtige Placierung versagt ist; ein nahezu erstarrter Gesellschafts- und Ämteraufbau, die steigende Wirksamkeit der politischen Organisationen; die eigentümliche soziale Schichtung in Preußen und Deutschland mit dem Vorherrschen der Junker- und Militäraristokratie und mit der Unterdrückung des geistig beweglichen und agitatorisch leidenschaftlichen Judentums; das Aneinanderrücken der verschiedenen Einkommensschichten in den Städten, das die Gegensätze nicht vermindert hat; die Üppigkeit und Prachtentfaltung in den Hauptverkehrswegen, welche aufreizend wirken — alle diese Kulturerscheinnngen und Strömungen erzeugten eine proletarische Kritik von der Intensität und nachhallenden Wirkung etwa des „Kommunistischen Manifestes". In diesem heißt es an einerStelle: „Alle bisherigen Bewegungen waren Bewegungen von Minoritäten oder im Interesse von Minoritäten. Die proletarische Bewegung ist die selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl. Das Proletariat, die unterste Schicht der jetzigen Gesellschaft, kann sich nicht erheben, nicht auf¬ richten, ohne daß der ganze Unterbau der Schichten, die die offizielle Gesellschaft bilden, in die Luft gesprengt wird." Mit diesen: kritischen Enthusiasmus wird die Masse organisiert, lernt sie ihre Kraft schätzen, setzt sie sich in vielen politischen Einrichtungen durch, obwohl das sozialistische Erfurter Programm vor der strengen sozialistischen Nachkritik in wesentlichen Punkten nicht mehr zu Recht bestehen kann, so hat sich doch die darauf aufgebaute Partei trotz gegenteiliger Prophezeiungen als fehr lebensfähig erwiesen. Es sind im Laufe des vorigen Jahrhunderts die Träume einsamer Denker zu einer mächtigen sozialen Bewegung geworden. Zuerst die verhältnismäßig zahme Formel Fouriers, daß jeder Sozialist sei, der die Verbesserung der Gesellschaftsordnung anstrebe, und auf die sich vielleicht auch der britische Minister William Harcourt in seiner Erklärung stützen mag, daß wir alle heute Sozialisten seien. Dann aber ein die Welt durchdringender Kampfruf: Abschaffung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Der Sozialismus hat sich inzwischen überzeugt, daß die Umgestaltung der sozialen Ordnung im Interesse der arbeitenden Klassen, der größten Mehrheit des Volkes, sich nur mit Hilfe des Staates vollziehen kann: Der Staat soll in einer riesigen Assoziation mit Großbetriebscharakter und

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/556
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/556>, abgerufen am 24.07.2024.