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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Die Bedeutung und Berechtigung des spannenden in der Literatur

enthalten Strafgerichte schrecklicher Art. Die verbrannte Hexe in "Hansel und
Gretel", die glühenden Schuhe, in denen Schneewittehens Mutter sich zu Tode tanzen
muß, gehören zu keiner sentimentalen humanen Phantasie. Ebenso unerbittlich
ist Boccaccio in seinen spannenden Novellen, sind die Spanier in ihren Stücken,
ist im Norden etwa Waller Scott, dessen Erzählungskunst mehrere Generationen
fesselte. Zu den schrecklichen Strafgerichten stehen phantastische Belohnungen in
grellem Gegensatz. Die brave Jungfrau schüttelt Perlen und Diamanten aus
ihrer Schürze, das Hirtenmädchen wird Königin. Aber all diese Dinge wirken
nur dann fortreißend und erfrischend auf das Gemüt, wenn sie harmlos mit
nimmer endender Lust am Erfinden vorgetragen sind, wenn sie niemals eine
Absicht auf den Leser verraten, sondern nur tatsächlich berichten, als ginge die
Wirkung niemand etwas ,ein. Ein schalkhaftes den Leser Hinein-fallen-lassen
kann auch sehr gut zur Spannung führen. So liebte Goethe in feiner Jugend,
den Kameraden ein Märchen als wirklich wahr zu erzählen.

Inwieweit sich die Würze des spannenden mit dem Wesen des Kunstwerks
verträgt, ist eine der heikelsten Fragen. Die Größten selbst wußten oft uicht
richtig Bescheid darin. Es heißt, daß Schiller den "Geisterseher" unvollendet
ließ, weil er durch die vielen Anfragen von Damen: "wie es denn weiter
ging", unruhig gemacht, fürchtete, die Fabel könne im schlechten Sinn --
im Sinn der Leihbibliothek und des heutigen Feuilletonromans -- spannend
werden. In den von manchen Redaktionen verlangten Eigenschaften des
Feuilletonromans liegt eine große Gefahr für die Literatur. Man muß dies
eingestehen, auch wenn man selbst solche schreibt. Die Notwendigkeit, in jeder
"Fortsetzung" etwas Spannendes zu bringen, verführt leicht zu Geschmacklosig¬
keiten und zu Dingen, "die an den Haaren herbeigezogen sind", um so mehr als
der wenig naive, durch sensationelle Nachrichten aller Art abgestumpfte Leser
nicht leicht zu spannen ist und von Beschreibungen oder tiefergehenden Gesprächen
so unliebsam berührt wird, daß er sie überhüpft.

Daß Beschreibungen in früheren Kunstwerken auch spannend wirken konnten,
war ein besonders anmutiger Vorzug. Wenn etwa Homer einzelne Kunst¬
fertigkeiten genau und plastisch beschrieb, lauschten die Hörer aufmerksam, denn
all diese Kunstfertigkeiten waren noch junge Erfindungen, jeder Handwerksgriff
wirkte neu und interessant. Alles wurde von und vor allem betrieben, mit
naivem Interesse angestaunt, wie etwa heute uoch die Bauern dem Landschafts¬
maler zusehen. Beschreibungen von Kunstfertigkeiten der heutigen tausendfach
komplizierten Welt, wie sie Viktor Hugo und Zola in die Literatur einführten,
sind nicht spannend, weil wir uns sehr schwer ein plastisches Bild machen können.
Ähnlich verhält es sich mit Einzelheiten eines Kampfes. Kampfszenen galten
durch viele Jahrhunderte bei Männern und Frauen für äußerst spannend, während
heute fast nur Knaben regen Müden daran nehmen. In der heroischen Zeit
interessierten die von Dichtern beschriebenen Kämpfe auch sportmäßig die Männer,
die selbst an ähnlichen teilgenommen hatten oder teilnehmen wollten, und die


Die Bedeutung und Berechtigung des spannenden in der Literatur

enthalten Strafgerichte schrecklicher Art. Die verbrannte Hexe in „Hansel und
Gretel", die glühenden Schuhe, in denen Schneewittehens Mutter sich zu Tode tanzen
muß, gehören zu keiner sentimentalen humanen Phantasie. Ebenso unerbittlich
ist Boccaccio in seinen spannenden Novellen, sind die Spanier in ihren Stücken,
ist im Norden etwa Waller Scott, dessen Erzählungskunst mehrere Generationen
fesselte. Zu den schrecklichen Strafgerichten stehen phantastische Belohnungen in
grellem Gegensatz. Die brave Jungfrau schüttelt Perlen und Diamanten aus
ihrer Schürze, das Hirtenmädchen wird Königin. Aber all diese Dinge wirken
nur dann fortreißend und erfrischend auf das Gemüt, wenn sie harmlos mit
nimmer endender Lust am Erfinden vorgetragen sind, wenn sie niemals eine
Absicht auf den Leser verraten, sondern nur tatsächlich berichten, als ginge die
Wirkung niemand etwas ,ein. Ein schalkhaftes den Leser Hinein-fallen-lassen
kann auch sehr gut zur Spannung führen. So liebte Goethe in feiner Jugend,
den Kameraden ein Märchen als wirklich wahr zu erzählen.

Inwieweit sich die Würze des spannenden mit dem Wesen des Kunstwerks
verträgt, ist eine der heikelsten Fragen. Die Größten selbst wußten oft uicht
richtig Bescheid darin. Es heißt, daß Schiller den „Geisterseher" unvollendet
ließ, weil er durch die vielen Anfragen von Damen: „wie es denn weiter
ging", unruhig gemacht, fürchtete, die Fabel könne im schlechten Sinn —
im Sinn der Leihbibliothek und des heutigen Feuilletonromans — spannend
werden. In den von manchen Redaktionen verlangten Eigenschaften des
Feuilletonromans liegt eine große Gefahr für die Literatur. Man muß dies
eingestehen, auch wenn man selbst solche schreibt. Die Notwendigkeit, in jeder
„Fortsetzung" etwas Spannendes zu bringen, verführt leicht zu Geschmacklosig¬
keiten und zu Dingen, „die an den Haaren herbeigezogen sind", um so mehr als
der wenig naive, durch sensationelle Nachrichten aller Art abgestumpfte Leser
nicht leicht zu spannen ist und von Beschreibungen oder tiefergehenden Gesprächen
so unliebsam berührt wird, daß er sie überhüpft.

Daß Beschreibungen in früheren Kunstwerken auch spannend wirken konnten,
war ein besonders anmutiger Vorzug. Wenn etwa Homer einzelne Kunst¬
fertigkeiten genau und plastisch beschrieb, lauschten die Hörer aufmerksam, denn
all diese Kunstfertigkeiten waren noch junge Erfindungen, jeder Handwerksgriff
wirkte neu und interessant. Alles wurde von und vor allem betrieben, mit
naivem Interesse angestaunt, wie etwa heute uoch die Bauern dem Landschafts¬
maler zusehen. Beschreibungen von Kunstfertigkeiten der heutigen tausendfach
komplizierten Welt, wie sie Viktor Hugo und Zola in die Literatur einführten,
sind nicht spannend, weil wir uns sehr schwer ein plastisches Bild machen können.
Ähnlich verhält es sich mit Einzelheiten eines Kampfes. Kampfszenen galten
durch viele Jahrhunderte bei Männern und Frauen für äußerst spannend, während
heute fast nur Knaben regen Müden daran nehmen. In der heroischen Zeit
interessierten die von Dichtern beschriebenen Kämpfe auch sportmäßig die Männer,
die selbst an ähnlichen teilgenommen hatten oder teilnehmen wollten, und die


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[0551] Die Bedeutung und Berechtigung des spannenden in der Literatur enthalten Strafgerichte schrecklicher Art. Die verbrannte Hexe in „Hansel und Gretel", die glühenden Schuhe, in denen Schneewittehens Mutter sich zu Tode tanzen muß, gehören zu keiner sentimentalen humanen Phantasie. Ebenso unerbittlich ist Boccaccio in seinen spannenden Novellen, sind die Spanier in ihren Stücken, ist im Norden etwa Waller Scott, dessen Erzählungskunst mehrere Generationen fesselte. Zu den schrecklichen Strafgerichten stehen phantastische Belohnungen in grellem Gegensatz. Die brave Jungfrau schüttelt Perlen und Diamanten aus ihrer Schürze, das Hirtenmädchen wird Königin. Aber all diese Dinge wirken nur dann fortreißend und erfrischend auf das Gemüt, wenn sie harmlos mit nimmer endender Lust am Erfinden vorgetragen sind, wenn sie niemals eine Absicht auf den Leser verraten, sondern nur tatsächlich berichten, als ginge die Wirkung niemand etwas ,ein. Ein schalkhaftes den Leser Hinein-fallen-lassen kann auch sehr gut zur Spannung führen. So liebte Goethe in feiner Jugend, den Kameraden ein Märchen als wirklich wahr zu erzählen. Inwieweit sich die Würze des spannenden mit dem Wesen des Kunstwerks verträgt, ist eine der heikelsten Fragen. Die Größten selbst wußten oft uicht richtig Bescheid darin. Es heißt, daß Schiller den „Geisterseher" unvollendet ließ, weil er durch die vielen Anfragen von Damen: „wie es denn weiter ging", unruhig gemacht, fürchtete, die Fabel könne im schlechten Sinn — im Sinn der Leihbibliothek und des heutigen Feuilletonromans — spannend werden. In den von manchen Redaktionen verlangten Eigenschaften des Feuilletonromans liegt eine große Gefahr für die Literatur. Man muß dies eingestehen, auch wenn man selbst solche schreibt. Die Notwendigkeit, in jeder „Fortsetzung" etwas Spannendes zu bringen, verführt leicht zu Geschmacklosig¬ keiten und zu Dingen, „die an den Haaren herbeigezogen sind", um so mehr als der wenig naive, durch sensationelle Nachrichten aller Art abgestumpfte Leser nicht leicht zu spannen ist und von Beschreibungen oder tiefergehenden Gesprächen so unliebsam berührt wird, daß er sie überhüpft. Daß Beschreibungen in früheren Kunstwerken auch spannend wirken konnten, war ein besonders anmutiger Vorzug. Wenn etwa Homer einzelne Kunst¬ fertigkeiten genau und plastisch beschrieb, lauschten die Hörer aufmerksam, denn all diese Kunstfertigkeiten waren noch junge Erfindungen, jeder Handwerksgriff wirkte neu und interessant. Alles wurde von und vor allem betrieben, mit naivem Interesse angestaunt, wie etwa heute uoch die Bauern dem Landschafts¬ maler zusehen. Beschreibungen von Kunstfertigkeiten der heutigen tausendfach komplizierten Welt, wie sie Viktor Hugo und Zola in die Literatur einführten, sind nicht spannend, weil wir uns sehr schwer ein plastisches Bild machen können. Ähnlich verhält es sich mit Einzelheiten eines Kampfes. Kampfszenen galten durch viele Jahrhunderte bei Männern und Frauen für äußerst spannend, während heute fast nur Knaben regen Müden daran nehmen. In der heroischen Zeit interessierten die von Dichtern beschriebenen Kämpfe auch sportmäßig die Männer, die selbst an ähnlichen teilgenommen hatten oder teilnehmen wollten, und die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/551>, abgerufen am 04.07.2024.