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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Die Bedeutung und Berechtigung des spannenden in der Literatur

Frauen, die bei Turnieren oder Kriegen zugesehen. Die Beschreibung von
Schlachten ist heute künstlerisch so unerfreulich wie das konventionelle Schlachten¬
bild, weil es nicht mehr übersichtlich sein und nur eine Episode darstellen kann.
Auch steht selbst militärfrommes Publikum den Anhäufungen von Blut und
Greueln zu fremd gegenüber. Einige Schriftsteller wußten diese Klippe zu
umgehen, indem sie mitten im Schlachtgetümmel uns nur für die Psychologie
ihres Helden interessierten, dessen Seele einzeln und einsam im großen Sturm
hin und her geweht wird. So beschreibt Stendhal die Schlacht von Waterloo
in "La Chartreuse de Parme", so zeichnet Tolstoi in "Krieg und Frieden".
Die eventuelle physische Geschicklichkeit oder Kraft des Romanhelden bleibt für
den Leser ziemlich gleichgültig, während die älteren Schriftsteller auf diese gerade
die spannende Wirkung gebaut hatten. Da ferner die politischen Kämpfe der
Gegenwart hauptsächlich materielle Jnteressenkämpfe sind, das Moment pathetischer
Vasallentreue und ritterlich tollkühnen Wagemuth ausgeschlossen scheint, bieten
die meisten politischen Fragen der spielenden Phantasie des Dichters wenig
Anregung. Um in modernen Werken Spannung zu erzielen, mußten also die
feinsten Schwingungen der Seelen dargestellt werden oder die Psychologie der
Massen, für die sich in früheren Zeitaltern künstlerisch kein Publikum inter¬
essiert hatte.

Außerdem bildete sich nach und nach die Darstellungsart so weit aus, daß
Stoffe, die man einst nur langweilig und trocken behandeln konnte, für den
Leser interessant gemacht wurden. Statt langweiliger Chroniken entstanden
Geschichtswerke, deren Inhalt bei dem Laien Spannung erweckte. Ferrero,
Lamprecht und die bekannteren Essayisten unserer Zeit gehören hierher. In
zahlreichen Aufsätzen und vielen geschickt zusammengestellten Memoirenwerken --
namentlich in französischer Sprache -- kann man mühelos Kenntnisse sammeln.
Trotz allen Widerstrebens der zünftigen Herren wird fogar die Philosophie in
genießbarer Form geboten. Der große Ketzer Nietzsche reichte sie zuerst wie
schöne Früchte in einer herrlich ziselierten Schale. Spencer schrieb nicht ohne
Humor, Schleiermachers philologisch genane, aber unverständliche Plato-
übersetzung weicht den formvollendeten Übertragungen moderner Autoren.

Man beginnt einzusehen, daß auch Vorträge nicht akademisch nüchtern sein
müssen, daß der Redner nicht davor zurückschrecken soll, warm oder persönlich
zu werden, ja in begeisterten rethorischen Schwung zu kommen. Die schönsten
Reden sind Laienpredigten, wie sie Emerson, Carlyle und einige Moderne
gehalten haben. Sie können mit künstlerischen Mitteln hinreihend wirken. Ich
erinnere an das Pathos von Schillers Antrittsrede in Jena, an die flammenden
Schönheitspredigten Ruskins, der die Kunstgeschichte so spannend zu behandeln
wußte, daß seine Vorträge wie erhabene, manchmal zornige Prophezeiungen
klangen und die Zuhörer zu begeisterten Jüngern machten. Es gibt keinen
Zweig des menschlichen Wissens, der notgedrungen ganz langweilige Behandlung
verlangt. Wie der interessanteste Tatbestand, nüchtern erzählt, nur ermüdet


Die Bedeutung und Berechtigung des spannenden in der Literatur

Frauen, die bei Turnieren oder Kriegen zugesehen. Die Beschreibung von
Schlachten ist heute künstlerisch so unerfreulich wie das konventionelle Schlachten¬
bild, weil es nicht mehr übersichtlich sein und nur eine Episode darstellen kann.
Auch steht selbst militärfrommes Publikum den Anhäufungen von Blut und
Greueln zu fremd gegenüber. Einige Schriftsteller wußten diese Klippe zu
umgehen, indem sie mitten im Schlachtgetümmel uns nur für die Psychologie
ihres Helden interessierten, dessen Seele einzeln und einsam im großen Sturm
hin und her geweht wird. So beschreibt Stendhal die Schlacht von Waterloo
in „La Chartreuse de Parme", so zeichnet Tolstoi in „Krieg und Frieden".
Die eventuelle physische Geschicklichkeit oder Kraft des Romanhelden bleibt für
den Leser ziemlich gleichgültig, während die älteren Schriftsteller auf diese gerade
die spannende Wirkung gebaut hatten. Da ferner die politischen Kämpfe der
Gegenwart hauptsächlich materielle Jnteressenkämpfe sind, das Moment pathetischer
Vasallentreue und ritterlich tollkühnen Wagemuth ausgeschlossen scheint, bieten
die meisten politischen Fragen der spielenden Phantasie des Dichters wenig
Anregung. Um in modernen Werken Spannung zu erzielen, mußten also die
feinsten Schwingungen der Seelen dargestellt werden oder die Psychologie der
Massen, für die sich in früheren Zeitaltern künstlerisch kein Publikum inter¬
essiert hatte.

Außerdem bildete sich nach und nach die Darstellungsart so weit aus, daß
Stoffe, die man einst nur langweilig und trocken behandeln konnte, für den
Leser interessant gemacht wurden. Statt langweiliger Chroniken entstanden
Geschichtswerke, deren Inhalt bei dem Laien Spannung erweckte. Ferrero,
Lamprecht und die bekannteren Essayisten unserer Zeit gehören hierher. In
zahlreichen Aufsätzen und vielen geschickt zusammengestellten Memoirenwerken —
namentlich in französischer Sprache — kann man mühelos Kenntnisse sammeln.
Trotz allen Widerstrebens der zünftigen Herren wird fogar die Philosophie in
genießbarer Form geboten. Der große Ketzer Nietzsche reichte sie zuerst wie
schöne Früchte in einer herrlich ziselierten Schale. Spencer schrieb nicht ohne
Humor, Schleiermachers philologisch genane, aber unverständliche Plato-
übersetzung weicht den formvollendeten Übertragungen moderner Autoren.

Man beginnt einzusehen, daß auch Vorträge nicht akademisch nüchtern sein
müssen, daß der Redner nicht davor zurückschrecken soll, warm oder persönlich
zu werden, ja in begeisterten rethorischen Schwung zu kommen. Die schönsten
Reden sind Laienpredigten, wie sie Emerson, Carlyle und einige Moderne
gehalten haben. Sie können mit künstlerischen Mitteln hinreihend wirken. Ich
erinnere an das Pathos von Schillers Antrittsrede in Jena, an die flammenden
Schönheitspredigten Ruskins, der die Kunstgeschichte so spannend zu behandeln
wußte, daß seine Vorträge wie erhabene, manchmal zornige Prophezeiungen
klangen und die Zuhörer zu begeisterten Jüngern machten. Es gibt keinen
Zweig des menschlichen Wissens, der notgedrungen ganz langweilige Behandlung
verlangt. Wie der interessanteste Tatbestand, nüchtern erzählt, nur ermüdet


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[0552] Die Bedeutung und Berechtigung des spannenden in der Literatur Frauen, die bei Turnieren oder Kriegen zugesehen. Die Beschreibung von Schlachten ist heute künstlerisch so unerfreulich wie das konventionelle Schlachten¬ bild, weil es nicht mehr übersichtlich sein und nur eine Episode darstellen kann. Auch steht selbst militärfrommes Publikum den Anhäufungen von Blut und Greueln zu fremd gegenüber. Einige Schriftsteller wußten diese Klippe zu umgehen, indem sie mitten im Schlachtgetümmel uns nur für die Psychologie ihres Helden interessierten, dessen Seele einzeln und einsam im großen Sturm hin und her geweht wird. So beschreibt Stendhal die Schlacht von Waterloo in „La Chartreuse de Parme", so zeichnet Tolstoi in „Krieg und Frieden". Die eventuelle physische Geschicklichkeit oder Kraft des Romanhelden bleibt für den Leser ziemlich gleichgültig, während die älteren Schriftsteller auf diese gerade die spannende Wirkung gebaut hatten. Da ferner die politischen Kämpfe der Gegenwart hauptsächlich materielle Jnteressenkämpfe sind, das Moment pathetischer Vasallentreue und ritterlich tollkühnen Wagemuth ausgeschlossen scheint, bieten die meisten politischen Fragen der spielenden Phantasie des Dichters wenig Anregung. Um in modernen Werken Spannung zu erzielen, mußten also die feinsten Schwingungen der Seelen dargestellt werden oder die Psychologie der Massen, für die sich in früheren Zeitaltern künstlerisch kein Publikum inter¬ essiert hatte. Außerdem bildete sich nach und nach die Darstellungsart so weit aus, daß Stoffe, die man einst nur langweilig und trocken behandeln konnte, für den Leser interessant gemacht wurden. Statt langweiliger Chroniken entstanden Geschichtswerke, deren Inhalt bei dem Laien Spannung erweckte. Ferrero, Lamprecht und die bekannteren Essayisten unserer Zeit gehören hierher. In zahlreichen Aufsätzen und vielen geschickt zusammengestellten Memoirenwerken — namentlich in französischer Sprache — kann man mühelos Kenntnisse sammeln. Trotz allen Widerstrebens der zünftigen Herren wird fogar die Philosophie in genießbarer Form geboten. Der große Ketzer Nietzsche reichte sie zuerst wie schöne Früchte in einer herrlich ziselierten Schale. Spencer schrieb nicht ohne Humor, Schleiermachers philologisch genane, aber unverständliche Plato- übersetzung weicht den formvollendeten Übertragungen moderner Autoren. Man beginnt einzusehen, daß auch Vorträge nicht akademisch nüchtern sein müssen, daß der Redner nicht davor zurückschrecken soll, warm oder persönlich zu werden, ja in begeisterten rethorischen Schwung zu kommen. Die schönsten Reden sind Laienpredigten, wie sie Emerson, Carlyle und einige Moderne gehalten haben. Sie können mit künstlerischen Mitteln hinreihend wirken. Ich erinnere an das Pathos von Schillers Antrittsrede in Jena, an die flammenden Schönheitspredigten Ruskins, der die Kunstgeschichte so spannend zu behandeln wußte, daß seine Vorträge wie erhabene, manchmal zornige Prophezeiungen klangen und die Zuhörer zu begeisterten Jüngern machten. Es gibt keinen Zweig des menschlichen Wissens, der notgedrungen ganz langweilige Behandlung verlangt. Wie der interessanteste Tatbestand, nüchtern erzählt, nur ermüdet

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/552>, abgerufen am 22.12.2024.