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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Die Bedeutung und Berechtigung des spannenden in der Literatur

darauf, daß er als Erster die Naturgeschichte spannend vortrug wie ein Märchen¬
erzähler, und eine Technik einführte, die bis dahin nur in einigen französischen
oder englischen Kinderbüchern mit etwas Geschick versucht worden war.

Sonst hat der Deutsche die Langeweile in der Literatur immer geschätzt
und geliebt, weil er sie auch im Leben als Symbol der Tugend verehrte und
in seinem behaglichen Dasein verwickelte, also spannende Situationen gründlich
verabscheute. Eine langsam arbeitende Einbildungskraft macht ihm jede Intrige
äußerst mühsam und in künstlerischer Darstellung schwerer verständlich, während
Völker mit beweglicher Phantasie Intrigen, an denen sie sich auch im Leben
gern beteiligt hätten, schneller, feiner, lebhafter ausmalet! und ausspinnen. Man
betrachte nur als Gegensatz zu unseren Mären und Volksdichtungen die Freude
am Fabulieren im Süden, besonders Spaniens Jntrigenstücke und Abenteuer¬
romane.

Der Hintertreppenroman hat das spannende in Verruf gebracht, die
sogenannten "stillen Romane" sprechen seiner Berechtigung Hohn. Aber von
ihrer gut gemeinten Langeweile hinweg greift doch mancher, wenn anch ver¬
schämt, nach Werken, die seine Phantasie lebhafter beschäftigen und seinein
Spieltrieb Rechnung tragen. Das Interesse an jedem Spiel besteht darin, daß
zwei Parteien sich gegenüberstehen und Zug um Zug einander zu besiegen
trachten. Bei einer spannenden Erzählung waltet genau dasselbe Prinzip. Am
geschicktesten verfährt ein Erzähler, der für beide Spielparteien Interesse erweckt
und es fertig bringt, daß zum Beispiel "die Bösen" gewandt und geistes¬
gegenwärtig genug sind, um Bewunderung zu erwecken.

Der Fluch der Langeweile trifft ein Werk, sobald es Tendenz zeigt ohne
Naivität. Nur jemand, der nichts beweisen will, unterhält, wer aufdringlich
lehrt und predigt, ermüdet.

Künstlerisch berechtigt ist und bleibt die Art, wie Scheherezade ihren Sultan
unterhielt. Das spannende löst zunächst ein gutes und ein schlechtes Gefühl
bei allen Menschen aus. Das gute ist das Gerechtigkeitsgefühl, weil man vom
Wunsche beseelt ist, der Würdigste möge sein Ziel erreichen. Leidenschaftliche
Teilnahme für den Würdigsten veredelte sogar das Vergnügen derer, die an
den Gladiatorenkämpfen Gefallen fanden, und dasjenige der Zuschauer bei deu
Stiergefechten. Das böse Gefühl ist der Kitzel der Grausamkeit, der sehr eng
mit der Freude am spannenden zusammenhängt. Dieser Kitzel ist das
Bestialische am Vergnügen der Gladiatoren- und Stierkämpfe, er tritt heutzutage
vielleicht noch widerlicher bei ganz modernen, nervenfolternden Unterhaltungen
zutage, wie gefährlichen Zirkuskünsten, Looping the Loop und ähnlichen Dingen,
bei denen der Reiz der Gefahr allein Lustgefühl erzeugt. Gerechtigkeitsgefühl,
aber auch Grausamkeit, wird ausgelöst bei allen spannenden Erzählungen naiver
Art, deren Wirkung durch Jahrhunderte dauert. Sie malen al fresLv in krassen
Farben Lohn und Strafe. Nicht nnr im orientalischen Märchen werden selbst¬
verständlich Köpfe niedergemäht, auch unsere deutschen, urtümlichen Märchen


Die Bedeutung und Berechtigung des spannenden in der Literatur

darauf, daß er als Erster die Naturgeschichte spannend vortrug wie ein Märchen¬
erzähler, und eine Technik einführte, die bis dahin nur in einigen französischen
oder englischen Kinderbüchern mit etwas Geschick versucht worden war.

Sonst hat der Deutsche die Langeweile in der Literatur immer geschätzt
und geliebt, weil er sie auch im Leben als Symbol der Tugend verehrte und
in seinem behaglichen Dasein verwickelte, also spannende Situationen gründlich
verabscheute. Eine langsam arbeitende Einbildungskraft macht ihm jede Intrige
äußerst mühsam und in künstlerischer Darstellung schwerer verständlich, während
Völker mit beweglicher Phantasie Intrigen, an denen sie sich auch im Leben
gern beteiligt hätten, schneller, feiner, lebhafter ausmalet! und ausspinnen. Man
betrachte nur als Gegensatz zu unseren Mären und Volksdichtungen die Freude
am Fabulieren im Süden, besonders Spaniens Jntrigenstücke und Abenteuer¬
romane.

Der Hintertreppenroman hat das spannende in Verruf gebracht, die
sogenannten „stillen Romane" sprechen seiner Berechtigung Hohn. Aber von
ihrer gut gemeinten Langeweile hinweg greift doch mancher, wenn anch ver¬
schämt, nach Werken, die seine Phantasie lebhafter beschäftigen und seinein
Spieltrieb Rechnung tragen. Das Interesse an jedem Spiel besteht darin, daß
zwei Parteien sich gegenüberstehen und Zug um Zug einander zu besiegen
trachten. Bei einer spannenden Erzählung waltet genau dasselbe Prinzip. Am
geschicktesten verfährt ein Erzähler, der für beide Spielparteien Interesse erweckt
und es fertig bringt, daß zum Beispiel „die Bösen" gewandt und geistes¬
gegenwärtig genug sind, um Bewunderung zu erwecken.

Der Fluch der Langeweile trifft ein Werk, sobald es Tendenz zeigt ohne
Naivität. Nur jemand, der nichts beweisen will, unterhält, wer aufdringlich
lehrt und predigt, ermüdet.

Künstlerisch berechtigt ist und bleibt die Art, wie Scheherezade ihren Sultan
unterhielt. Das spannende löst zunächst ein gutes und ein schlechtes Gefühl
bei allen Menschen aus. Das gute ist das Gerechtigkeitsgefühl, weil man vom
Wunsche beseelt ist, der Würdigste möge sein Ziel erreichen. Leidenschaftliche
Teilnahme für den Würdigsten veredelte sogar das Vergnügen derer, die an
den Gladiatorenkämpfen Gefallen fanden, und dasjenige der Zuschauer bei deu
Stiergefechten. Das böse Gefühl ist der Kitzel der Grausamkeit, der sehr eng
mit der Freude am spannenden zusammenhängt. Dieser Kitzel ist das
Bestialische am Vergnügen der Gladiatoren- und Stierkämpfe, er tritt heutzutage
vielleicht noch widerlicher bei ganz modernen, nervenfolternden Unterhaltungen
zutage, wie gefährlichen Zirkuskünsten, Looping the Loop und ähnlichen Dingen,
bei denen der Reiz der Gefahr allein Lustgefühl erzeugt. Gerechtigkeitsgefühl,
aber auch Grausamkeit, wird ausgelöst bei allen spannenden Erzählungen naiver
Art, deren Wirkung durch Jahrhunderte dauert. Sie malen al fresLv in krassen
Farben Lohn und Strafe. Nicht nnr im orientalischen Märchen werden selbst¬
verständlich Köpfe niedergemäht, auch unsere deutschen, urtümlichen Märchen


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[0550] Die Bedeutung und Berechtigung des spannenden in der Literatur darauf, daß er als Erster die Naturgeschichte spannend vortrug wie ein Märchen¬ erzähler, und eine Technik einführte, die bis dahin nur in einigen französischen oder englischen Kinderbüchern mit etwas Geschick versucht worden war. Sonst hat der Deutsche die Langeweile in der Literatur immer geschätzt und geliebt, weil er sie auch im Leben als Symbol der Tugend verehrte und in seinem behaglichen Dasein verwickelte, also spannende Situationen gründlich verabscheute. Eine langsam arbeitende Einbildungskraft macht ihm jede Intrige äußerst mühsam und in künstlerischer Darstellung schwerer verständlich, während Völker mit beweglicher Phantasie Intrigen, an denen sie sich auch im Leben gern beteiligt hätten, schneller, feiner, lebhafter ausmalet! und ausspinnen. Man betrachte nur als Gegensatz zu unseren Mären und Volksdichtungen die Freude am Fabulieren im Süden, besonders Spaniens Jntrigenstücke und Abenteuer¬ romane. Der Hintertreppenroman hat das spannende in Verruf gebracht, die sogenannten „stillen Romane" sprechen seiner Berechtigung Hohn. Aber von ihrer gut gemeinten Langeweile hinweg greift doch mancher, wenn anch ver¬ schämt, nach Werken, die seine Phantasie lebhafter beschäftigen und seinein Spieltrieb Rechnung tragen. Das Interesse an jedem Spiel besteht darin, daß zwei Parteien sich gegenüberstehen und Zug um Zug einander zu besiegen trachten. Bei einer spannenden Erzählung waltet genau dasselbe Prinzip. Am geschicktesten verfährt ein Erzähler, der für beide Spielparteien Interesse erweckt und es fertig bringt, daß zum Beispiel „die Bösen" gewandt und geistes¬ gegenwärtig genug sind, um Bewunderung zu erwecken. Der Fluch der Langeweile trifft ein Werk, sobald es Tendenz zeigt ohne Naivität. Nur jemand, der nichts beweisen will, unterhält, wer aufdringlich lehrt und predigt, ermüdet. Künstlerisch berechtigt ist und bleibt die Art, wie Scheherezade ihren Sultan unterhielt. Das spannende löst zunächst ein gutes und ein schlechtes Gefühl bei allen Menschen aus. Das gute ist das Gerechtigkeitsgefühl, weil man vom Wunsche beseelt ist, der Würdigste möge sein Ziel erreichen. Leidenschaftliche Teilnahme für den Würdigsten veredelte sogar das Vergnügen derer, die an den Gladiatorenkämpfen Gefallen fanden, und dasjenige der Zuschauer bei deu Stiergefechten. Das böse Gefühl ist der Kitzel der Grausamkeit, der sehr eng mit der Freude am spannenden zusammenhängt. Dieser Kitzel ist das Bestialische am Vergnügen der Gladiatoren- und Stierkämpfe, er tritt heutzutage vielleicht noch widerlicher bei ganz modernen, nervenfolternden Unterhaltungen zutage, wie gefährlichen Zirkuskünsten, Looping the Loop und ähnlichen Dingen, bei denen der Reiz der Gefahr allein Lustgefühl erzeugt. Gerechtigkeitsgefühl, aber auch Grausamkeit, wird ausgelöst bei allen spannenden Erzählungen naiver Art, deren Wirkung durch Jahrhunderte dauert. Sie malen al fresLv in krassen Farben Lohn und Strafe. Nicht nnr im orientalischen Märchen werden selbst¬ verständlich Köpfe niedergemäht, auch unsere deutschen, urtümlichen Märchen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/550>, abgerufen am 22.12.2024.