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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Aus den? englischen Parlament

das Volk für ihre Sache zu gewinnen. Dies gröbere Mittel war der Hinweis
auf die Lage des Deutschen Reichs.

Mit der Entwicklung, dem Aufblühen der deutscheu Industrie und des
Handels seit den siebziger Jahren ist für England ein machtvoller Konkurrent
erstanden. Mit der zeitgemäßen Erziehung der deutschen Jugend im allgemeinen,
ihrer guten Borbereitung für die Erfordernisse des Erwerbs und speziell mit
dem steten Fortschritt auf allen technischen Gebieten konnte es den Deutschen
gelingen, durch intelligente Ausnutzung aller Möglichkeiten nicht nur die eigene
Industrie auf ihre jetzige Höhe zu bringen, sondern im Weltmarkt eine Stellung
zu erringen, die in ihrer Bedeutung dem englischen Volke auf Schritt und
Tritt vor Augen geführt wird. Der Freihandel in England ermöglicht es --
und es wird ihm dies besonders zur Last gelegt --, daß die ausländische
Industrie mit der einheimischen in ungehemmte Konkurrenz treten kann. -- In
diesem Wettstreit haben deutsche Artikel aller Art dermaßen das Feld gewonnen,
daß sie jetzt unter den Lebensbedürfnissen des englischen Volkes einen wichtigen
Platz einnehmen. Was ist natürlicher, als daß die große Menge sich fragt:
Wie kommt es, daß unsere eigene Industrie uns nicht versorgt, daß wir einem
fremden Lande Arbeit und Verdienst verschaffen? Wie kommt es, daß ein
fremdes Land unsere Märkte erobert? Hat der Freihandel unsere einheimische
Industrie ruiniert? Niemand fragt: Warum ist der Deutsche konkurrenzfähiger?

Die Vorteile des Freihandels sind freilich für die große Menge weniger
in die Augen fallend. Sie urteilt nach dem, was sie sieht, und ihr Blick fällt
auf große Prozessionen von "Arbeitslosen", die in langen Reihen demonstrativ
durch die Straßen ziehen. Wie viele Müßiggänger sich darunter befinden, die
aus allen Richtungen kommend in London zusammenfließen, um unter dein
Banner der Notdurft der Wohltätigkeit zur Last zu fallen, ist nicht ersichtlich,
auch bleibt die Frage offen, wie sich nach Abrechnung dieser Unverwendbaren
die Anzahl der Arbeitslosen mit der anderer Länder vergleichen läßt, denn
Arbeitslose gibt es jederzeit und allerorten, je nachdem wie Industriezweige von
einer auf- und absteigenden Tendenz beeinflußt werden.

So war für die nach Schutzzöllen strebende Partei das Feld gut vorbereitet,
um den vertagten Plan Chamberlains zu erneuerter, energischer Attacke zu
bringen. Die Wahlredner machten von der günstigen Lage ausgiebigen Gebrauch
und ließen es an grotesken Übertreibungen nicht fehlen. Deutschland wurde den
aufgeregten Massen als ein Land vorgeführt, das ein nie gesehenes Aufblühen
in Handel und Industrie einzig und allein seinen Schutzzöllen zu verdanken hat.
Nur den Schutzzöllen ist es zuzuschreiben, daß die Arbeitslosigkeit in Deutschland
auf ein Minimum herabgesunken ist. Man denke sich, selbst in der harten
Winterzeit konnten in diesem beneidenswerten Lande nicht genügend Arbeitslose
aufgetrieben werden, um in Berlin nach einem schweren Schneestürme die Straßen
zu säubern! Das ganze Geschäft mußte tagelang ins Stocken geraten, nur weil
es keine Arbeitslose gab, den Schnee wegzuschaufeln. Deutschland ist das Land,


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das Volk für ihre Sache zu gewinnen. Dies gröbere Mittel war der Hinweis
auf die Lage des Deutschen Reichs.

Mit der Entwicklung, dem Aufblühen der deutscheu Industrie und des
Handels seit den siebziger Jahren ist für England ein machtvoller Konkurrent
erstanden. Mit der zeitgemäßen Erziehung der deutschen Jugend im allgemeinen,
ihrer guten Borbereitung für die Erfordernisse des Erwerbs und speziell mit
dem steten Fortschritt auf allen technischen Gebieten konnte es den Deutschen
gelingen, durch intelligente Ausnutzung aller Möglichkeiten nicht nur die eigene
Industrie auf ihre jetzige Höhe zu bringen, sondern im Weltmarkt eine Stellung
zu erringen, die in ihrer Bedeutung dem englischen Volke auf Schritt und
Tritt vor Augen geführt wird. Der Freihandel in England ermöglicht es —
und es wird ihm dies besonders zur Last gelegt —, daß die ausländische
Industrie mit der einheimischen in ungehemmte Konkurrenz treten kann. — In
diesem Wettstreit haben deutsche Artikel aller Art dermaßen das Feld gewonnen,
daß sie jetzt unter den Lebensbedürfnissen des englischen Volkes einen wichtigen
Platz einnehmen. Was ist natürlicher, als daß die große Menge sich fragt:
Wie kommt es, daß unsere eigene Industrie uns nicht versorgt, daß wir einem
fremden Lande Arbeit und Verdienst verschaffen? Wie kommt es, daß ein
fremdes Land unsere Märkte erobert? Hat der Freihandel unsere einheimische
Industrie ruiniert? Niemand fragt: Warum ist der Deutsche konkurrenzfähiger?

Die Vorteile des Freihandels sind freilich für die große Menge weniger
in die Augen fallend. Sie urteilt nach dem, was sie sieht, und ihr Blick fällt
auf große Prozessionen von „Arbeitslosen", die in langen Reihen demonstrativ
durch die Straßen ziehen. Wie viele Müßiggänger sich darunter befinden, die
aus allen Richtungen kommend in London zusammenfließen, um unter dein
Banner der Notdurft der Wohltätigkeit zur Last zu fallen, ist nicht ersichtlich,
auch bleibt die Frage offen, wie sich nach Abrechnung dieser Unverwendbaren
die Anzahl der Arbeitslosen mit der anderer Länder vergleichen läßt, denn
Arbeitslose gibt es jederzeit und allerorten, je nachdem wie Industriezweige von
einer auf- und absteigenden Tendenz beeinflußt werden.

So war für die nach Schutzzöllen strebende Partei das Feld gut vorbereitet,
um den vertagten Plan Chamberlains zu erneuerter, energischer Attacke zu
bringen. Die Wahlredner machten von der günstigen Lage ausgiebigen Gebrauch
und ließen es an grotesken Übertreibungen nicht fehlen. Deutschland wurde den
aufgeregten Massen als ein Land vorgeführt, das ein nie gesehenes Aufblühen
in Handel und Industrie einzig und allein seinen Schutzzöllen zu verdanken hat.
Nur den Schutzzöllen ist es zuzuschreiben, daß die Arbeitslosigkeit in Deutschland
auf ein Minimum herabgesunken ist. Man denke sich, selbst in der harten
Winterzeit konnten in diesem beneidenswerten Lande nicht genügend Arbeitslose
aufgetrieben werden, um in Berlin nach einem schweren Schneestürme die Straßen
zu säubern! Das ganze Geschäft mußte tagelang ins Stocken geraten, nur weil
es keine Arbeitslose gab, den Schnee wegzuschaufeln. Deutschland ist das Land,


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[0544] Aus den? englischen Parlament das Volk für ihre Sache zu gewinnen. Dies gröbere Mittel war der Hinweis auf die Lage des Deutschen Reichs. Mit der Entwicklung, dem Aufblühen der deutscheu Industrie und des Handels seit den siebziger Jahren ist für England ein machtvoller Konkurrent erstanden. Mit der zeitgemäßen Erziehung der deutschen Jugend im allgemeinen, ihrer guten Borbereitung für die Erfordernisse des Erwerbs und speziell mit dem steten Fortschritt auf allen technischen Gebieten konnte es den Deutschen gelingen, durch intelligente Ausnutzung aller Möglichkeiten nicht nur die eigene Industrie auf ihre jetzige Höhe zu bringen, sondern im Weltmarkt eine Stellung zu erringen, die in ihrer Bedeutung dem englischen Volke auf Schritt und Tritt vor Augen geführt wird. Der Freihandel in England ermöglicht es — und es wird ihm dies besonders zur Last gelegt —, daß die ausländische Industrie mit der einheimischen in ungehemmte Konkurrenz treten kann. — In diesem Wettstreit haben deutsche Artikel aller Art dermaßen das Feld gewonnen, daß sie jetzt unter den Lebensbedürfnissen des englischen Volkes einen wichtigen Platz einnehmen. Was ist natürlicher, als daß die große Menge sich fragt: Wie kommt es, daß unsere eigene Industrie uns nicht versorgt, daß wir einem fremden Lande Arbeit und Verdienst verschaffen? Wie kommt es, daß ein fremdes Land unsere Märkte erobert? Hat der Freihandel unsere einheimische Industrie ruiniert? Niemand fragt: Warum ist der Deutsche konkurrenzfähiger? Die Vorteile des Freihandels sind freilich für die große Menge weniger in die Augen fallend. Sie urteilt nach dem, was sie sieht, und ihr Blick fällt auf große Prozessionen von „Arbeitslosen", die in langen Reihen demonstrativ durch die Straßen ziehen. Wie viele Müßiggänger sich darunter befinden, die aus allen Richtungen kommend in London zusammenfließen, um unter dein Banner der Notdurft der Wohltätigkeit zur Last zu fallen, ist nicht ersichtlich, auch bleibt die Frage offen, wie sich nach Abrechnung dieser Unverwendbaren die Anzahl der Arbeitslosen mit der anderer Länder vergleichen läßt, denn Arbeitslose gibt es jederzeit und allerorten, je nachdem wie Industriezweige von einer auf- und absteigenden Tendenz beeinflußt werden. So war für die nach Schutzzöllen strebende Partei das Feld gut vorbereitet, um den vertagten Plan Chamberlains zu erneuerter, energischer Attacke zu bringen. Die Wahlredner machten von der günstigen Lage ausgiebigen Gebrauch und ließen es an grotesken Übertreibungen nicht fehlen. Deutschland wurde den aufgeregten Massen als ein Land vorgeführt, das ein nie gesehenes Aufblühen in Handel und Industrie einzig und allein seinen Schutzzöllen zu verdanken hat. Nur den Schutzzöllen ist es zuzuschreiben, daß die Arbeitslosigkeit in Deutschland auf ein Minimum herabgesunken ist. Man denke sich, selbst in der harten Winterzeit konnten in diesem beneidenswerten Lande nicht genügend Arbeitslose aufgetrieben werden, um in Berlin nach einem schweren Schneestürme die Straßen zu säubern! Das ganze Geschäft mußte tagelang ins Stocken geraten, nur weil es keine Arbeitslose gab, den Schnee wegzuschaufeln. Deutschland ist das Land,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/544>, abgerufen am 22.12.2024.