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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Aus dem englischen Parlament

diesem Übel abzuhelfen, und anderseits, um durch die Beschaffung der nötigen
Staatsmittel der ärmeren Bevölkerung möglichst wenig neue Lasten aufzuerlegen,
hat nun die Regierung im Budget die Bestimmung vorgesehen, daß die Steuer
auf jedwedes Grundbesitztum in Zukunft von den, wirklichen derzeitigen Wert
entrichtet werden soll und nicht, wie dies bisher bei unbebauten oder sonstigem
Privatbesitz der Fall war. auf den ursprünglichen Erwerbswert, der oft nur
einen kleinen Prozentsatz von dein gegenwärtigen Wert darstellt. Das Oberhaus
beanstandet diese Besteuerung mit der Begründung, daß diese neue Basis der
Steuererhebung in einer EiuzelgesetzvorlcM der Genehmigung des Oberhauses
bedürfe und im übrigen eine sozialistische Tendenz verriete, indem sie auf eine
von den Ultra-Liberalen befürwortete Verstaatlichung von Grund und Boden
hinzielte. Die erfolgte Abweisung des Budgets bedeutete die Auflösung des
Parlaments.

Es ist besonders interessant, daß in den nun entstandenen Parteikämpfen
die Fragen, welche die Krisis herbeigeführt haben, ganz in den Hintergrund
getreten sind. Dein Volk ist es auch ziemlich gleichgültig, ob die Lords
konstitutionell das Recht haben, ein Budget zu verwerfen oder nicht. Der neue
Vorschlag der Besteuerung vou Grundbesitz ist an sich nicht unpopulär, doch
das Volk hat zwischen zwei politischen Parteien zu wählen und sich zu vergegen¬
wärtigen, von welcher die Landesinterefsen und seine eigenen am besten gefördert
werden.

Diejenige Partei, welche gewohnt war, sich von der Vorsehung als für die
Regierung prädestiniert zu halten, ist die Partei der oberen Klasse, der Konser¬
vativen. Ihre Anhänger werden auch Unionisten genannt. Die Bezeichnung
stammt aus den achtziger Jahren, als Gladstone im Parlament eine Vorlage
einbrachte, welche Irland Selbstregierung (Homerule) gewähren sollte. Die
beabsichtigte Maßregel hatte zur Folge, daß sich ein großer Teil seiner liberalen
Anhänger von ihm lossagte und zu deu Konservativen überging, welche für die
Aufrechterhaltung der Reichseinheit (Union) in der bestehenden Form eintraten.
Die Bezeichnung "Unionisten" im Sinne dieser Stellungnahme zu Irland
gilt seitdem mit heute nicht mehr ganz unbedingter Berechtigung für alle
Konservativen. Unter der Fahne der Liberalen steht die Arbeiterpartei, sowie
mit wenigen Ausnahmen die nach wie vor nach selbständiger Regierung strebende
Gruppe der irländischen Volksvertreter, anch Nationalisten genannt.

Die Hauptfrage, in der sich die beiden großen Parteien gegenüberstehen,
welche die Wohlfahrt des Landes aufs tiefste berührt, ist: Erhaltung. des
Freihandels in liberalem Sinne gegenüber der von der konservativen Partei
angestrebten Einführung vou Schutzzöllen. Diese Frage ist in ihrem
Einfluß auf den Gesamthandel des Vereinigten Königreichs, in ihrer Wirkung
auf die Staatsmaschine so komplizierten Charakters, daß sie weit über das
Verständnis des Durchschuittswählers hinausgeht. Es erklärt sich daher, daß
die Parteiführer und ihre Anhänger zu gröberen Mitteln greifen mußten, um


Aus dem englischen Parlament

diesem Übel abzuhelfen, und anderseits, um durch die Beschaffung der nötigen
Staatsmittel der ärmeren Bevölkerung möglichst wenig neue Lasten aufzuerlegen,
hat nun die Regierung im Budget die Bestimmung vorgesehen, daß die Steuer
auf jedwedes Grundbesitztum in Zukunft von den, wirklichen derzeitigen Wert
entrichtet werden soll und nicht, wie dies bisher bei unbebauten oder sonstigem
Privatbesitz der Fall war. auf den ursprünglichen Erwerbswert, der oft nur
einen kleinen Prozentsatz von dein gegenwärtigen Wert darstellt. Das Oberhaus
beanstandet diese Besteuerung mit der Begründung, daß diese neue Basis der
Steuererhebung in einer EiuzelgesetzvorlcM der Genehmigung des Oberhauses
bedürfe und im übrigen eine sozialistische Tendenz verriete, indem sie auf eine
von den Ultra-Liberalen befürwortete Verstaatlichung von Grund und Boden
hinzielte. Die erfolgte Abweisung des Budgets bedeutete die Auflösung des
Parlaments.

Es ist besonders interessant, daß in den nun entstandenen Parteikämpfen
die Fragen, welche die Krisis herbeigeführt haben, ganz in den Hintergrund
getreten sind. Dein Volk ist es auch ziemlich gleichgültig, ob die Lords
konstitutionell das Recht haben, ein Budget zu verwerfen oder nicht. Der neue
Vorschlag der Besteuerung vou Grundbesitz ist an sich nicht unpopulär, doch
das Volk hat zwischen zwei politischen Parteien zu wählen und sich zu vergegen¬
wärtigen, von welcher die Landesinterefsen und seine eigenen am besten gefördert
werden.

Diejenige Partei, welche gewohnt war, sich von der Vorsehung als für die
Regierung prädestiniert zu halten, ist die Partei der oberen Klasse, der Konser¬
vativen. Ihre Anhänger werden auch Unionisten genannt. Die Bezeichnung
stammt aus den achtziger Jahren, als Gladstone im Parlament eine Vorlage
einbrachte, welche Irland Selbstregierung (Homerule) gewähren sollte. Die
beabsichtigte Maßregel hatte zur Folge, daß sich ein großer Teil seiner liberalen
Anhänger von ihm lossagte und zu deu Konservativen überging, welche für die
Aufrechterhaltung der Reichseinheit (Union) in der bestehenden Form eintraten.
Die Bezeichnung „Unionisten" im Sinne dieser Stellungnahme zu Irland
gilt seitdem mit heute nicht mehr ganz unbedingter Berechtigung für alle
Konservativen. Unter der Fahne der Liberalen steht die Arbeiterpartei, sowie
mit wenigen Ausnahmen die nach wie vor nach selbständiger Regierung strebende
Gruppe der irländischen Volksvertreter, anch Nationalisten genannt.

Die Hauptfrage, in der sich die beiden großen Parteien gegenüberstehen,
welche die Wohlfahrt des Landes aufs tiefste berührt, ist: Erhaltung. des
Freihandels in liberalem Sinne gegenüber der von der konservativen Partei
angestrebten Einführung vou Schutzzöllen. Diese Frage ist in ihrem
Einfluß auf den Gesamthandel des Vereinigten Königreichs, in ihrer Wirkung
auf die Staatsmaschine so komplizierten Charakters, daß sie weit über das
Verständnis des Durchschuittswählers hinausgeht. Es erklärt sich daher, daß
die Parteiführer und ihre Anhänger zu gröberen Mitteln greifen mußten, um


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[0543] Aus dem englischen Parlament diesem Übel abzuhelfen, und anderseits, um durch die Beschaffung der nötigen Staatsmittel der ärmeren Bevölkerung möglichst wenig neue Lasten aufzuerlegen, hat nun die Regierung im Budget die Bestimmung vorgesehen, daß die Steuer auf jedwedes Grundbesitztum in Zukunft von den, wirklichen derzeitigen Wert entrichtet werden soll und nicht, wie dies bisher bei unbebauten oder sonstigem Privatbesitz der Fall war. auf den ursprünglichen Erwerbswert, der oft nur einen kleinen Prozentsatz von dein gegenwärtigen Wert darstellt. Das Oberhaus beanstandet diese Besteuerung mit der Begründung, daß diese neue Basis der Steuererhebung in einer EiuzelgesetzvorlcM der Genehmigung des Oberhauses bedürfe und im übrigen eine sozialistische Tendenz verriete, indem sie auf eine von den Ultra-Liberalen befürwortete Verstaatlichung von Grund und Boden hinzielte. Die erfolgte Abweisung des Budgets bedeutete die Auflösung des Parlaments. Es ist besonders interessant, daß in den nun entstandenen Parteikämpfen die Fragen, welche die Krisis herbeigeführt haben, ganz in den Hintergrund getreten sind. Dein Volk ist es auch ziemlich gleichgültig, ob die Lords konstitutionell das Recht haben, ein Budget zu verwerfen oder nicht. Der neue Vorschlag der Besteuerung vou Grundbesitz ist an sich nicht unpopulär, doch das Volk hat zwischen zwei politischen Parteien zu wählen und sich zu vergegen¬ wärtigen, von welcher die Landesinterefsen und seine eigenen am besten gefördert werden. Diejenige Partei, welche gewohnt war, sich von der Vorsehung als für die Regierung prädestiniert zu halten, ist die Partei der oberen Klasse, der Konser¬ vativen. Ihre Anhänger werden auch Unionisten genannt. Die Bezeichnung stammt aus den achtziger Jahren, als Gladstone im Parlament eine Vorlage einbrachte, welche Irland Selbstregierung (Homerule) gewähren sollte. Die beabsichtigte Maßregel hatte zur Folge, daß sich ein großer Teil seiner liberalen Anhänger von ihm lossagte und zu deu Konservativen überging, welche für die Aufrechterhaltung der Reichseinheit (Union) in der bestehenden Form eintraten. Die Bezeichnung „Unionisten" im Sinne dieser Stellungnahme zu Irland gilt seitdem mit heute nicht mehr ganz unbedingter Berechtigung für alle Konservativen. Unter der Fahne der Liberalen steht die Arbeiterpartei, sowie mit wenigen Ausnahmen die nach wie vor nach selbständiger Regierung strebende Gruppe der irländischen Volksvertreter, anch Nationalisten genannt. Die Hauptfrage, in der sich die beiden großen Parteien gegenüberstehen, welche die Wohlfahrt des Landes aufs tiefste berührt, ist: Erhaltung. des Freihandels in liberalem Sinne gegenüber der von der konservativen Partei angestrebten Einführung vou Schutzzöllen. Diese Frage ist in ihrem Einfluß auf den Gesamthandel des Vereinigten Königreichs, in ihrer Wirkung auf die Staatsmaschine so komplizierten Charakters, daß sie weit über das Verständnis des Durchschuittswählers hinausgeht. Es erklärt sich daher, daß die Parteiführer und ihre Anhänger zu gröberen Mitteln greifen mußten, um

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Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/543>, abgerufen am 04.07.2024.