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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Das Llsaß

lebens gemacht, und zwar ohne jeden Verzug und ohne den Ausbau des Schutzes
nach außen zu vernachlässigen. Das Zollwesen wurde vom Zollverein über¬
nommen, Post und Telegraphen, Münze und Währung, das Maßsystem
einheitlich geordnet, eine gemeinsame diplomatische Vertretung im Auslande ein¬
gerichtet. Gerichtsverfassung und Gerichtsverfahren mit gemeinsamem Kriminal¬
recht sind ebenfalls bereits seit 1879 gleichmäßig geordnet; seit 1900 ist auch
das Zivilrecht gemeinsam. Alle diese Arbeiten ersten Ranges stellen einen ganz
bedeutenden Fortschritt im Sinne eines Ausgleichs der alten Trennungen im
Innern der Nation dar und haben ohne Zweifel auch ihre Wirkuug auf
dauernden Zusammenschluß getan. Doch gerade auf das Elsaß Eindruck zu
machen waren sie alle wenig geeignet; denn hier waren alle diese Fortschritte
bereits siebzig bis achtzig Jahre früher unter Napoleon gemacht, sie waren
bereits ein sicherer Besitz des Kleinstaats, dem der frühere deutsche Zustand nur
für eine wenig zeitgemäße Rückständigkeit gelten konnte.

Als nun jedoch nach Verlauf von etwa zehn Jahren die starke patriotische
Erregung von 1870 größerer Ruhe und Beschaulichkeit Platz gemacht hatte, kam
die einigende Bewegung nach und nach in langsameres Tempo und stockte bald
ganz. Wie der weitere Verlauf gelehrt hat, wurden hiervon besonders schwer
die Finanzen betroffen, dasjenige Gebiet, auf dem Fehler am verhängnis¬
vollsten zu wirken pflegen, auf dem das reiche Frankreich seine früheren
Angehörigen recht verwöhnt hatte. Bismarck hatte diesen Mangel des neuen
Reichsbaues rechtzeitig erkannt und fing bereits Mitte der siebziger Jahre die
Ausbesserung an. Aber sein vorzüglicher erster Plan, den Geldbedarf des Reichs
durch Erwerb der Eisenbahnen zu decken, kam nicht über die ersten Anfänge hinaus
und scheiterte am Widerstande der Partikularstaaten, z. B. des preußischen Finanz¬
ministeriums. Dadurch sah Bismarck sich zum Wechsel des Zollsystems gezwungen;
1879 begann der Schutzzoll mit seinem cirLuIus vitio8U8, der alle Preise in
die Höhe getrieben und doch dem Anwachsen der Schulden nicht gesteuert hat.
In dem betriebsamen Elsaß erfreute sich diese Maßregel keineswegs großer
Sympathien, sondern vergrößerte nur den Abstand von: geliebten Frankreich.
Nach 1879 setzte sehr bald die soziale Gesetzgebung ein; sie nahm für lange
Zeit ziemlich ausschließlich die ganze Aufmerksamkeit der politischen Kreise in
Anspruch und drängte die einigende Arbeit, an der sie doch nur mittelbar Anteil
hatte, ziemlich vollständig in den Hintergrund; es wurden nur die bereits
begonnenen Arbeiten, vor allem die am Bürgerlichen Gesetzbuch, fortgesetzt;
jetzt sind auch diese vollendet und von jenen Aufgaben ist es still. Damit
drängt sich die Ansicht auf, daß man in den leitenden Kreisen des Reichs die
Ziele der Bewegung von 1870 für erreicht hält, daß es nur des Allsbaues
im einzelnen bedürfe, vor allem auf finanziellem Gebiet, daß dagegen noch
weitergehende Bestrebungen zentralisierender Art abzuweisen seien, weil sie
teils nicht in der Verfassung begründet seien, teils den Verträgen von 1870
widersprächen; das Reich sei fertig.


Das Llsaß

lebens gemacht, und zwar ohne jeden Verzug und ohne den Ausbau des Schutzes
nach außen zu vernachlässigen. Das Zollwesen wurde vom Zollverein über¬
nommen, Post und Telegraphen, Münze und Währung, das Maßsystem
einheitlich geordnet, eine gemeinsame diplomatische Vertretung im Auslande ein¬
gerichtet. Gerichtsverfassung und Gerichtsverfahren mit gemeinsamem Kriminal¬
recht sind ebenfalls bereits seit 1879 gleichmäßig geordnet; seit 1900 ist auch
das Zivilrecht gemeinsam. Alle diese Arbeiten ersten Ranges stellen einen ganz
bedeutenden Fortschritt im Sinne eines Ausgleichs der alten Trennungen im
Innern der Nation dar und haben ohne Zweifel auch ihre Wirkuug auf
dauernden Zusammenschluß getan. Doch gerade auf das Elsaß Eindruck zu
machen waren sie alle wenig geeignet; denn hier waren alle diese Fortschritte
bereits siebzig bis achtzig Jahre früher unter Napoleon gemacht, sie waren
bereits ein sicherer Besitz des Kleinstaats, dem der frühere deutsche Zustand nur
für eine wenig zeitgemäße Rückständigkeit gelten konnte.

Als nun jedoch nach Verlauf von etwa zehn Jahren die starke patriotische
Erregung von 1870 größerer Ruhe und Beschaulichkeit Platz gemacht hatte, kam
die einigende Bewegung nach und nach in langsameres Tempo und stockte bald
ganz. Wie der weitere Verlauf gelehrt hat, wurden hiervon besonders schwer
die Finanzen betroffen, dasjenige Gebiet, auf dem Fehler am verhängnis¬
vollsten zu wirken pflegen, auf dem das reiche Frankreich seine früheren
Angehörigen recht verwöhnt hatte. Bismarck hatte diesen Mangel des neuen
Reichsbaues rechtzeitig erkannt und fing bereits Mitte der siebziger Jahre die
Ausbesserung an. Aber sein vorzüglicher erster Plan, den Geldbedarf des Reichs
durch Erwerb der Eisenbahnen zu decken, kam nicht über die ersten Anfänge hinaus
und scheiterte am Widerstande der Partikularstaaten, z. B. des preußischen Finanz¬
ministeriums. Dadurch sah Bismarck sich zum Wechsel des Zollsystems gezwungen;
1879 begann der Schutzzoll mit seinem cirLuIus vitio8U8, der alle Preise in
die Höhe getrieben und doch dem Anwachsen der Schulden nicht gesteuert hat.
In dem betriebsamen Elsaß erfreute sich diese Maßregel keineswegs großer
Sympathien, sondern vergrößerte nur den Abstand von: geliebten Frankreich.
Nach 1879 setzte sehr bald die soziale Gesetzgebung ein; sie nahm für lange
Zeit ziemlich ausschließlich die ganze Aufmerksamkeit der politischen Kreise in
Anspruch und drängte die einigende Arbeit, an der sie doch nur mittelbar Anteil
hatte, ziemlich vollständig in den Hintergrund; es wurden nur die bereits
begonnenen Arbeiten, vor allem die am Bürgerlichen Gesetzbuch, fortgesetzt;
jetzt sind auch diese vollendet und von jenen Aufgaben ist es still. Damit
drängt sich die Ansicht auf, daß man in den leitenden Kreisen des Reichs die
Ziele der Bewegung von 1870 für erreicht hält, daß es nur des Allsbaues
im einzelnen bedürfe, vor allem auf finanziellem Gebiet, daß dagegen noch
weitergehende Bestrebungen zentralisierender Art abzuweisen seien, weil sie
teils nicht in der Verfassung begründet seien, teils den Verträgen von 1870
widersprächen; das Reich sei fertig.


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[0464] Das Llsaß lebens gemacht, und zwar ohne jeden Verzug und ohne den Ausbau des Schutzes nach außen zu vernachlässigen. Das Zollwesen wurde vom Zollverein über¬ nommen, Post und Telegraphen, Münze und Währung, das Maßsystem einheitlich geordnet, eine gemeinsame diplomatische Vertretung im Auslande ein¬ gerichtet. Gerichtsverfassung und Gerichtsverfahren mit gemeinsamem Kriminal¬ recht sind ebenfalls bereits seit 1879 gleichmäßig geordnet; seit 1900 ist auch das Zivilrecht gemeinsam. Alle diese Arbeiten ersten Ranges stellen einen ganz bedeutenden Fortschritt im Sinne eines Ausgleichs der alten Trennungen im Innern der Nation dar und haben ohne Zweifel auch ihre Wirkuug auf dauernden Zusammenschluß getan. Doch gerade auf das Elsaß Eindruck zu machen waren sie alle wenig geeignet; denn hier waren alle diese Fortschritte bereits siebzig bis achtzig Jahre früher unter Napoleon gemacht, sie waren bereits ein sicherer Besitz des Kleinstaats, dem der frühere deutsche Zustand nur für eine wenig zeitgemäße Rückständigkeit gelten konnte. Als nun jedoch nach Verlauf von etwa zehn Jahren die starke patriotische Erregung von 1870 größerer Ruhe und Beschaulichkeit Platz gemacht hatte, kam die einigende Bewegung nach und nach in langsameres Tempo und stockte bald ganz. Wie der weitere Verlauf gelehrt hat, wurden hiervon besonders schwer die Finanzen betroffen, dasjenige Gebiet, auf dem Fehler am verhängnis¬ vollsten zu wirken pflegen, auf dem das reiche Frankreich seine früheren Angehörigen recht verwöhnt hatte. Bismarck hatte diesen Mangel des neuen Reichsbaues rechtzeitig erkannt und fing bereits Mitte der siebziger Jahre die Ausbesserung an. Aber sein vorzüglicher erster Plan, den Geldbedarf des Reichs durch Erwerb der Eisenbahnen zu decken, kam nicht über die ersten Anfänge hinaus und scheiterte am Widerstande der Partikularstaaten, z. B. des preußischen Finanz¬ ministeriums. Dadurch sah Bismarck sich zum Wechsel des Zollsystems gezwungen; 1879 begann der Schutzzoll mit seinem cirLuIus vitio8U8, der alle Preise in die Höhe getrieben und doch dem Anwachsen der Schulden nicht gesteuert hat. In dem betriebsamen Elsaß erfreute sich diese Maßregel keineswegs großer Sympathien, sondern vergrößerte nur den Abstand von: geliebten Frankreich. Nach 1879 setzte sehr bald die soziale Gesetzgebung ein; sie nahm für lange Zeit ziemlich ausschließlich die ganze Aufmerksamkeit der politischen Kreise in Anspruch und drängte die einigende Arbeit, an der sie doch nur mittelbar Anteil hatte, ziemlich vollständig in den Hintergrund; es wurden nur die bereits begonnenen Arbeiten, vor allem die am Bürgerlichen Gesetzbuch, fortgesetzt; jetzt sind auch diese vollendet und von jenen Aufgaben ist es still. Damit drängt sich die Ansicht auf, daß man in den leitenden Kreisen des Reichs die Ziele der Bewegung von 1870 für erreicht hält, daß es nur des Allsbaues im einzelnen bedürfe, vor allem auf finanziellem Gebiet, daß dagegen noch weitergehende Bestrebungen zentralisierender Art abzuweisen seien, weil sie teils nicht in der Verfassung begründet seien, teils den Verträgen von 1870 widersprächen; das Reich sei fertig.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/464>, abgerufen am 22.12.2024.