Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das Elsaß

reich genommen hatte? Was hat es später getan, an die schönen Grenzlande
mit Sicherheit an sich zu fesseln?

Nun konnte wohl kein Mensch erwarten, daß das neugeborne Reich sofort
oder auch nur im Verlauf weniger Jahre die Stelle Frankreichs in vollem
Umfange ausfüllen sollte; dazu war es doch gar zu jung. Mit dem eben
abgeschlossenen stegreichen Kampfe und der sich anschließenden Annahme der
Reichsverfassung war doch nur die allererste, gröbste Arbeit getan, es mußten
ihr längere Jahre stetiger, intensiver Arbeit zum Ausbau des großen Werkes
folgen. Die Konstituierung des Reichs und das gemeinsame Heer bildeten doch
nur die schützenden Mauern des Geländes, während im Innern noch das alte
Chaos fortbestand; hier konnte nur eine lange Arbeitsperiode helfen, welche die
ganze Nation zusammenfassen mußte. Womit ist nun Deutschland in dieser
Richtung vorgegangen?

Um zunächst die politische Form des Landes vorwegzunehmen, so hatte
sich die Lage des Elsaß entschieden verschlechtert. Es war bis dahin die voll¬
berechtigte Provinz eines Großstaats gewesen, in dem es keine politischen Grenzen
mehr gab, von dessen Zentrum aus die Verwaltung für alle gleichmäßig geordnet
war, in dem seit der großen Revolution alle Standesunterschiede aufgehoben waren
und auch mehr und mehr aus der Gesellschaft verschwanden. Jetzt sah es sich als
Glied eines Bundes von zirka fünfundzwanzig Staaten, von denen die meisten
kleiner waren als es selbst. Bunt waren ihre Verfassungen, sehr wechselnd ihre
Verwaltungsgrundsätze, groß der Unterschied ihrer Stammeseigenschaften. Zu¬
sammengehalten wurden sie nur durch das Heer, die gemeinsame Sprache und
die neue Verfassung; über die Tragweite der noch auf ihrer Höhe befindlichen
patriotischen Bewegung der letzten Jahrzehnte gingen die Anschauungen weit
auseinander. Unter den Gliedern dieses Reichs war nur eins, das sich zwar
nicht an innerer Ausgeglichenheit, aber doch an Macht mit Frankreich in
Vergleich setzen ließ; es hatte erst vor kurzem durch die Aufnahme sehr großer
neuer Provinzen eine bedeutende Kraft zur Assimilierung bewiesen. Aber
Preußen lehnte die Angliederung des Elsaß ab, ein anderer Staat vermochte
nicht an seine Stelle zu treten, somit sah sich das Elsaß auf seine Landes¬
grenzen beschränkt, ohne große und bedeutsame Interessen, ohne weiten Horizont,
auch nach 1874. Es war sich selbst überlassen und mußte sich in seinen vier
Wänden einrichten. Dabei war es darin nicht einmal Herr, sondern Kaiser
und Bundesrat behielten sich die letzte Entscheidung vor. Diese Ordnung verriet
wenig Vertrauen in den neuen Zustand, keiner der Staaten wollte Last und
Verantwortung des Anschlusses auf sich nehmen. Im Elsaß dagegen und erst
recht jenseits der neuen Grenzen mußte die Gründung eines Kleinstaats alle
Hoffnungen auf Rückgängigmachung der Abtrennung zu Heller Glut entfachen;
sie war ein Fehler.

Sehr erfreuliche Fortschritte wurden dagegen unter der Leitung des großen
Staatsmannes auf zahlreichen und wichtigen Gebieten des Verkehrs- und Rechts-


Das Elsaß

reich genommen hatte? Was hat es später getan, an die schönen Grenzlande
mit Sicherheit an sich zu fesseln?

Nun konnte wohl kein Mensch erwarten, daß das neugeborne Reich sofort
oder auch nur im Verlauf weniger Jahre die Stelle Frankreichs in vollem
Umfange ausfüllen sollte; dazu war es doch gar zu jung. Mit dem eben
abgeschlossenen stegreichen Kampfe und der sich anschließenden Annahme der
Reichsverfassung war doch nur die allererste, gröbste Arbeit getan, es mußten
ihr längere Jahre stetiger, intensiver Arbeit zum Ausbau des großen Werkes
folgen. Die Konstituierung des Reichs und das gemeinsame Heer bildeten doch
nur die schützenden Mauern des Geländes, während im Innern noch das alte
Chaos fortbestand; hier konnte nur eine lange Arbeitsperiode helfen, welche die
ganze Nation zusammenfassen mußte. Womit ist nun Deutschland in dieser
Richtung vorgegangen?

Um zunächst die politische Form des Landes vorwegzunehmen, so hatte
sich die Lage des Elsaß entschieden verschlechtert. Es war bis dahin die voll¬
berechtigte Provinz eines Großstaats gewesen, in dem es keine politischen Grenzen
mehr gab, von dessen Zentrum aus die Verwaltung für alle gleichmäßig geordnet
war, in dem seit der großen Revolution alle Standesunterschiede aufgehoben waren
und auch mehr und mehr aus der Gesellschaft verschwanden. Jetzt sah es sich als
Glied eines Bundes von zirka fünfundzwanzig Staaten, von denen die meisten
kleiner waren als es selbst. Bunt waren ihre Verfassungen, sehr wechselnd ihre
Verwaltungsgrundsätze, groß der Unterschied ihrer Stammeseigenschaften. Zu¬
sammengehalten wurden sie nur durch das Heer, die gemeinsame Sprache und
die neue Verfassung; über die Tragweite der noch auf ihrer Höhe befindlichen
patriotischen Bewegung der letzten Jahrzehnte gingen die Anschauungen weit
auseinander. Unter den Gliedern dieses Reichs war nur eins, das sich zwar
nicht an innerer Ausgeglichenheit, aber doch an Macht mit Frankreich in
Vergleich setzen ließ; es hatte erst vor kurzem durch die Aufnahme sehr großer
neuer Provinzen eine bedeutende Kraft zur Assimilierung bewiesen. Aber
Preußen lehnte die Angliederung des Elsaß ab, ein anderer Staat vermochte
nicht an seine Stelle zu treten, somit sah sich das Elsaß auf seine Landes¬
grenzen beschränkt, ohne große und bedeutsame Interessen, ohne weiten Horizont,
auch nach 1874. Es war sich selbst überlassen und mußte sich in seinen vier
Wänden einrichten. Dabei war es darin nicht einmal Herr, sondern Kaiser
und Bundesrat behielten sich die letzte Entscheidung vor. Diese Ordnung verriet
wenig Vertrauen in den neuen Zustand, keiner der Staaten wollte Last und
Verantwortung des Anschlusses auf sich nehmen. Im Elsaß dagegen und erst
recht jenseits der neuen Grenzen mußte die Gründung eines Kleinstaats alle
Hoffnungen auf Rückgängigmachung der Abtrennung zu Heller Glut entfachen;
sie war ein Fehler.

Sehr erfreuliche Fortschritte wurden dagegen unter der Leitung des großen
Staatsmannes auf zahlreichen und wichtigen Gebieten des Verkehrs- und Rechts-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0463" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/315460"/>
          <fw type="header" place="top"> Das Elsaß</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2003" prev="#ID_2002"> reich genommen hatte? Was hat es später getan, an die schönen Grenzlande<lb/>
mit Sicherheit an sich zu fesseln?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2004"> Nun konnte wohl kein Mensch erwarten, daß das neugeborne Reich sofort<lb/>
oder auch nur im Verlauf weniger Jahre die Stelle Frankreichs in vollem<lb/>
Umfange ausfüllen sollte; dazu war es doch gar zu jung. Mit dem eben<lb/>
abgeschlossenen stegreichen Kampfe und der sich anschließenden Annahme der<lb/>
Reichsverfassung war doch nur die allererste, gröbste Arbeit getan, es mußten<lb/>
ihr längere Jahre stetiger, intensiver Arbeit zum Ausbau des großen Werkes<lb/>
folgen. Die Konstituierung des Reichs und das gemeinsame Heer bildeten doch<lb/>
nur die schützenden Mauern des Geländes, während im Innern noch das alte<lb/>
Chaos fortbestand; hier konnte nur eine lange Arbeitsperiode helfen, welche die<lb/>
ganze Nation zusammenfassen mußte. Womit ist nun Deutschland in dieser<lb/>
Richtung vorgegangen?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2005"> Um zunächst die politische Form des Landes vorwegzunehmen, so hatte<lb/>
sich die Lage des Elsaß entschieden verschlechtert. Es war bis dahin die voll¬<lb/>
berechtigte Provinz eines Großstaats gewesen, in dem es keine politischen Grenzen<lb/>
mehr gab, von dessen Zentrum aus die Verwaltung für alle gleichmäßig geordnet<lb/>
war, in dem seit der großen Revolution alle Standesunterschiede aufgehoben waren<lb/>
und auch mehr und mehr aus der Gesellschaft verschwanden. Jetzt sah es sich als<lb/>
Glied eines Bundes von zirka fünfundzwanzig Staaten, von denen die meisten<lb/>
kleiner waren als es selbst. Bunt waren ihre Verfassungen, sehr wechselnd ihre<lb/>
Verwaltungsgrundsätze, groß der Unterschied ihrer Stammeseigenschaften. Zu¬<lb/>
sammengehalten wurden sie nur durch das Heer, die gemeinsame Sprache und<lb/>
die neue Verfassung; über die Tragweite der noch auf ihrer Höhe befindlichen<lb/>
patriotischen Bewegung der letzten Jahrzehnte gingen die Anschauungen weit<lb/>
auseinander. Unter den Gliedern dieses Reichs war nur eins, das sich zwar<lb/>
nicht an innerer Ausgeglichenheit, aber doch an Macht mit Frankreich in<lb/>
Vergleich setzen ließ; es hatte erst vor kurzem durch die Aufnahme sehr großer<lb/>
neuer Provinzen eine bedeutende Kraft zur Assimilierung bewiesen. Aber<lb/>
Preußen lehnte die Angliederung des Elsaß ab, ein anderer Staat vermochte<lb/>
nicht an seine Stelle zu treten, somit sah sich das Elsaß auf seine Landes¬<lb/>
grenzen beschränkt, ohne große und bedeutsame Interessen, ohne weiten Horizont,<lb/>
auch nach 1874. Es war sich selbst überlassen und mußte sich in seinen vier<lb/>
Wänden einrichten. Dabei war es darin nicht einmal Herr, sondern Kaiser<lb/>
und Bundesrat behielten sich die letzte Entscheidung vor. Diese Ordnung verriet<lb/>
wenig Vertrauen in den neuen Zustand, keiner der Staaten wollte Last und<lb/>
Verantwortung des Anschlusses auf sich nehmen. Im Elsaß dagegen und erst<lb/>
recht jenseits der neuen Grenzen mußte die Gründung eines Kleinstaats alle<lb/>
Hoffnungen auf Rückgängigmachung der Abtrennung zu Heller Glut entfachen;<lb/>
sie war ein Fehler.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2006" next="#ID_2007"> Sehr erfreuliche Fortschritte wurden dagegen unter der Leitung des großen<lb/>
Staatsmannes auf zahlreichen und wichtigen Gebieten des Verkehrs- und Rechts-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0463] Das Elsaß reich genommen hatte? Was hat es später getan, an die schönen Grenzlande mit Sicherheit an sich zu fesseln? Nun konnte wohl kein Mensch erwarten, daß das neugeborne Reich sofort oder auch nur im Verlauf weniger Jahre die Stelle Frankreichs in vollem Umfange ausfüllen sollte; dazu war es doch gar zu jung. Mit dem eben abgeschlossenen stegreichen Kampfe und der sich anschließenden Annahme der Reichsverfassung war doch nur die allererste, gröbste Arbeit getan, es mußten ihr längere Jahre stetiger, intensiver Arbeit zum Ausbau des großen Werkes folgen. Die Konstituierung des Reichs und das gemeinsame Heer bildeten doch nur die schützenden Mauern des Geländes, während im Innern noch das alte Chaos fortbestand; hier konnte nur eine lange Arbeitsperiode helfen, welche die ganze Nation zusammenfassen mußte. Womit ist nun Deutschland in dieser Richtung vorgegangen? Um zunächst die politische Form des Landes vorwegzunehmen, so hatte sich die Lage des Elsaß entschieden verschlechtert. Es war bis dahin die voll¬ berechtigte Provinz eines Großstaats gewesen, in dem es keine politischen Grenzen mehr gab, von dessen Zentrum aus die Verwaltung für alle gleichmäßig geordnet war, in dem seit der großen Revolution alle Standesunterschiede aufgehoben waren und auch mehr und mehr aus der Gesellschaft verschwanden. Jetzt sah es sich als Glied eines Bundes von zirka fünfundzwanzig Staaten, von denen die meisten kleiner waren als es selbst. Bunt waren ihre Verfassungen, sehr wechselnd ihre Verwaltungsgrundsätze, groß der Unterschied ihrer Stammeseigenschaften. Zu¬ sammengehalten wurden sie nur durch das Heer, die gemeinsame Sprache und die neue Verfassung; über die Tragweite der noch auf ihrer Höhe befindlichen patriotischen Bewegung der letzten Jahrzehnte gingen die Anschauungen weit auseinander. Unter den Gliedern dieses Reichs war nur eins, das sich zwar nicht an innerer Ausgeglichenheit, aber doch an Macht mit Frankreich in Vergleich setzen ließ; es hatte erst vor kurzem durch die Aufnahme sehr großer neuer Provinzen eine bedeutende Kraft zur Assimilierung bewiesen. Aber Preußen lehnte die Angliederung des Elsaß ab, ein anderer Staat vermochte nicht an seine Stelle zu treten, somit sah sich das Elsaß auf seine Landes¬ grenzen beschränkt, ohne große und bedeutsame Interessen, ohne weiten Horizont, auch nach 1874. Es war sich selbst überlassen und mußte sich in seinen vier Wänden einrichten. Dabei war es darin nicht einmal Herr, sondern Kaiser und Bundesrat behielten sich die letzte Entscheidung vor. Diese Ordnung verriet wenig Vertrauen in den neuen Zustand, keiner der Staaten wollte Last und Verantwortung des Anschlusses auf sich nehmen. Im Elsaß dagegen und erst recht jenseits der neuen Grenzen mußte die Gründung eines Kleinstaats alle Hoffnungen auf Rückgängigmachung der Abtrennung zu Heller Glut entfachen; sie war ein Fehler. Sehr erfreuliche Fortschritte wurden dagegen unter der Leitung des großen Staatsmannes auf zahlreichen und wichtigen Gebieten des Verkehrs- und Rechts-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/463
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/463>, abgerufen am 22.12.2024.