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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Das Li>aß

Niemand wird bezweifeln, daß diese Worte auf das Jahr 1814 genau
passen; fraglich dagegen ist, ob die Lage nach 1870 wesentlich zu unsern
Gunsten verändert ist. Versuchen wir es, an der Hand dieses Zitats, ohne
Rücksicht auf unsere Eigenliebe, einen Vergleich zu ziehen! Dabei sollen, um
nicht ins Uferlose zu geraten, alle örtlichen und persönlichen Beziehungen, alle
Übergangsschwierigkeiten, ferner auch das altfranzösische Sprachgebiet außer
Betracht bleiben; es stehen mithin nur die allgemeinsten Verhältnisse zur
Erörterung, wie bei Bernhardi.

Auf der einen Seite steht Frankreich, ein geschlossenes Gebiet mit einer
seit Jahrhunderten im Ausgleich begriffenen Bevölkerung, mit einer ruhmreichen
Geschichte, die mehr als einen Anstoß zu Bewegungen des ganzen Zentral¬
europas gab; mit einem glänzenden Heere, dem noch vor sechzig bis siebzig
Jahren das halbe Europa zu Füßen lag; mit einer alten, bis ans die Römer¬
zeiten zurückreichenden Kultur, die lange Zeit in der ganzen Welt bewundert
war, der insbesondere Deutschland erst seit etwa hundert Jahren angefangen
hatte sich zu entziehen; mit wissenschaftlichen und künstlerischen Leistungen ersten
Ranges; mit einer Industrie, die auf großen und wichtigen Gebieten ihres¬
gleichen nicht hatte; mit einer festorganisierten Regierung, die trotz der viel¬
fachen und starken Erschütterungen des letzten Jahrhunderts die vorhandenen
Kräfte einheitlich nach dem Wunsche des Landes zusammenfaßte; mit einer
Konstitution, die unter Ablehnung von Standesunterschieden freie Bahn für alle
Aufstrebenden bot; endlich mit einer Hauptstadt, deren Anziehungskraft bis in
die entferntesten Winkel aller Erdteile wirkte. In diesen homogenen Staat
waren die Elsässer als vollberechtigt aufgenommen und hatten sich mit gutem
Erfolge in allen Gebieten des Lebens beteiligt; besonders in der Armee spielten
sie eine größere Rolle, als ihrer Zahl zukam. Für ihre Landesprodukte aus
Industrie und Ackerbau fanden sie ein mehr als wohlhabendes Absatzgebiet.
Die Mehrzahl von ihnen gehörte der in Frankreich herrschenden Konfession an.
Die Verschiedenheit der Sprache war zwar ein Hindernis, wurde jedoch mit
Hilfe der schon langen Kenntnis der französischen Literatur rasch überwunden.
So fühlten sich die Elsässer in der neuen Gemeinschaft bald behaglich, und
wenn ihnen ihr provinzialer Akzent und ihr wenig gewandtes Wesen auch hier
und da Schwierigkeiten bereiteten, so wußte doch die französische Liebens¬
würdigkeit verletzenden Spott zu verhindern. Die Elsässer waren ihrer Meinung
nach aus engeren, unbedeutenderen Verhältnissen in eine größere, bedeutendere,
höhere Gemeinschaft versetzt, und dadurch hatten sie nicht nur bedeutende
materielle und ideelle Vorteile, sondern auch ihrer Eitelkeit war geschmeichelt.

Aus dieser günstigen Lage wurden sie 1870 gegen ihren Willen und gegen
ihr Hoffen herausgerissen. Sie wurden dem neuerstandenen Reiche angeschlossen,
dessen Wiederauftauchen den ganzen Erdteil keineswegs angenehm überrascht
hatte, dessen Erfolge überall mit großem Mißtrauen betrachtet wurden. Was
bot nun dieses' Reich dem Elsaß als Ersatz für das, was es ihm mit Frank-


Das Li>aß

Niemand wird bezweifeln, daß diese Worte auf das Jahr 1814 genau
passen; fraglich dagegen ist, ob die Lage nach 1870 wesentlich zu unsern
Gunsten verändert ist. Versuchen wir es, an der Hand dieses Zitats, ohne
Rücksicht auf unsere Eigenliebe, einen Vergleich zu ziehen! Dabei sollen, um
nicht ins Uferlose zu geraten, alle örtlichen und persönlichen Beziehungen, alle
Übergangsschwierigkeiten, ferner auch das altfranzösische Sprachgebiet außer
Betracht bleiben; es stehen mithin nur die allgemeinsten Verhältnisse zur
Erörterung, wie bei Bernhardi.

Auf der einen Seite steht Frankreich, ein geschlossenes Gebiet mit einer
seit Jahrhunderten im Ausgleich begriffenen Bevölkerung, mit einer ruhmreichen
Geschichte, die mehr als einen Anstoß zu Bewegungen des ganzen Zentral¬
europas gab; mit einem glänzenden Heere, dem noch vor sechzig bis siebzig
Jahren das halbe Europa zu Füßen lag; mit einer alten, bis ans die Römer¬
zeiten zurückreichenden Kultur, die lange Zeit in der ganzen Welt bewundert
war, der insbesondere Deutschland erst seit etwa hundert Jahren angefangen
hatte sich zu entziehen; mit wissenschaftlichen und künstlerischen Leistungen ersten
Ranges; mit einer Industrie, die auf großen und wichtigen Gebieten ihres¬
gleichen nicht hatte; mit einer festorganisierten Regierung, die trotz der viel¬
fachen und starken Erschütterungen des letzten Jahrhunderts die vorhandenen
Kräfte einheitlich nach dem Wunsche des Landes zusammenfaßte; mit einer
Konstitution, die unter Ablehnung von Standesunterschieden freie Bahn für alle
Aufstrebenden bot; endlich mit einer Hauptstadt, deren Anziehungskraft bis in
die entferntesten Winkel aller Erdteile wirkte. In diesen homogenen Staat
waren die Elsässer als vollberechtigt aufgenommen und hatten sich mit gutem
Erfolge in allen Gebieten des Lebens beteiligt; besonders in der Armee spielten
sie eine größere Rolle, als ihrer Zahl zukam. Für ihre Landesprodukte aus
Industrie und Ackerbau fanden sie ein mehr als wohlhabendes Absatzgebiet.
Die Mehrzahl von ihnen gehörte der in Frankreich herrschenden Konfession an.
Die Verschiedenheit der Sprache war zwar ein Hindernis, wurde jedoch mit
Hilfe der schon langen Kenntnis der französischen Literatur rasch überwunden.
So fühlten sich die Elsässer in der neuen Gemeinschaft bald behaglich, und
wenn ihnen ihr provinzialer Akzent und ihr wenig gewandtes Wesen auch hier
und da Schwierigkeiten bereiteten, so wußte doch die französische Liebens¬
würdigkeit verletzenden Spott zu verhindern. Die Elsässer waren ihrer Meinung
nach aus engeren, unbedeutenderen Verhältnissen in eine größere, bedeutendere,
höhere Gemeinschaft versetzt, und dadurch hatten sie nicht nur bedeutende
materielle und ideelle Vorteile, sondern auch ihrer Eitelkeit war geschmeichelt.

Aus dieser günstigen Lage wurden sie 1870 gegen ihren Willen und gegen
ihr Hoffen herausgerissen. Sie wurden dem neuerstandenen Reiche angeschlossen,
dessen Wiederauftauchen den ganzen Erdteil keineswegs angenehm überrascht
hatte, dessen Erfolge überall mit großem Mißtrauen betrachtet wurden. Was
bot nun dieses' Reich dem Elsaß als Ersatz für das, was es ihm mit Frank-


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[0462] Das Li>aß Niemand wird bezweifeln, daß diese Worte auf das Jahr 1814 genau passen; fraglich dagegen ist, ob die Lage nach 1870 wesentlich zu unsern Gunsten verändert ist. Versuchen wir es, an der Hand dieses Zitats, ohne Rücksicht auf unsere Eigenliebe, einen Vergleich zu ziehen! Dabei sollen, um nicht ins Uferlose zu geraten, alle örtlichen und persönlichen Beziehungen, alle Übergangsschwierigkeiten, ferner auch das altfranzösische Sprachgebiet außer Betracht bleiben; es stehen mithin nur die allgemeinsten Verhältnisse zur Erörterung, wie bei Bernhardi. Auf der einen Seite steht Frankreich, ein geschlossenes Gebiet mit einer seit Jahrhunderten im Ausgleich begriffenen Bevölkerung, mit einer ruhmreichen Geschichte, die mehr als einen Anstoß zu Bewegungen des ganzen Zentral¬ europas gab; mit einem glänzenden Heere, dem noch vor sechzig bis siebzig Jahren das halbe Europa zu Füßen lag; mit einer alten, bis ans die Römer¬ zeiten zurückreichenden Kultur, die lange Zeit in der ganzen Welt bewundert war, der insbesondere Deutschland erst seit etwa hundert Jahren angefangen hatte sich zu entziehen; mit wissenschaftlichen und künstlerischen Leistungen ersten Ranges; mit einer Industrie, die auf großen und wichtigen Gebieten ihres¬ gleichen nicht hatte; mit einer festorganisierten Regierung, die trotz der viel¬ fachen und starken Erschütterungen des letzten Jahrhunderts die vorhandenen Kräfte einheitlich nach dem Wunsche des Landes zusammenfaßte; mit einer Konstitution, die unter Ablehnung von Standesunterschieden freie Bahn für alle Aufstrebenden bot; endlich mit einer Hauptstadt, deren Anziehungskraft bis in die entferntesten Winkel aller Erdteile wirkte. In diesen homogenen Staat waren die Elsässer als vollberechtigt aufgenommen und hatten sich mit gutem Erfolge in allen Gebieten des Lebens beteiligt; besonders in der Armee spielten sie eine größere Rolle, als ihrer Zahl zukam. Für ihre Landesprodukte aus Industrie und Ackerbau fanden sie ein mehr als wohlhabendes Absatzgebiet. Die Mehrzahl von ihnen gehörte der in Frankreich herrschenden Konfession an. Die Verschiedenheit der Sprache war zwar ein Hindernis, wurde jedoch mit Hilfe der schon langen Kenntnis der französischen Literatur rasch überwunden. So fühlten sich die Elsässer in der neuen Gemeinschaft bald behaglich, und wenn ihnen ihr provinzialer Akzent und ihr wenig gewandtes Wesen auch hier und da Schwierigkeiten bereiteten, so wußte doch die französische Liebens¬ würdigkeit verletzenden Spott zu verhindern. Die Elsässer waren ihrer Meinung nach aus engeren, unbedeutenderen Verhältnissen in eine größere, bedeutendere, höhere Gemeinschaft versetzt, und dadurch hatten sie nicht nur bedeutende materielle und ideelle Vorteile, sondern auch ihrer Eitelkeit war geschmeichelt. Aus dieser günstigen Lage wurden sie 1870 gegen ihren Willen und gegen ihr Hoffen herausgerissen. Sie wurden dem neuerstandenen Reiche angeschlossen, dessen Wiederauftauchen den ganzen Erdteil keineswegs angenehm überrascht hatte, dessen Erfolge überall mit großem Mißtrauen betrachtet wurden. Was bot nun dieses' Reich dem Elsaß als Ersatz für das, was es ihm mit Frank-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/462>, abgerufen am 24.07.2024.