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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Gin Fremidcsgrust an Paul Lseyse

dich fein" zu beherzigen und auch diese Aufgabe, wie so viele andre, glänzend
zu lösen. Bange mag es ihm erst vor der heranschwebenden papierener Wolke
werden, den Briefen seiner vielen Freunde und Verehrer, und Versen und
Aufsätzen und ganzen Büchern, alles freundliche Gaben, die dem Dichter gewiß
manch neuen Einblick in das, was er gewollt und erreicht hat, eröffnen würden,
wenn er sie nur gründlich studieren wollte. Ich fürchte aber, er wird es nicht
tun, sondern höchstens aus dem übervollen Strauße ein paar einzelne Blüten
heraussuchen, jedenfalls aber wird er das, was ich hier schreibe, nicht lesen,
und es ist mir sehr recht. Denn da ich weiß, daß er mir nicht zuhört, kann
ich nun um so behaglicher von ihm erzählen, an allerlei "schlichte Menschlich¬
keiten" zurückdenkend, die ja leider mich selbst vielfach angehn, aber doch, wie
ich hoffe, auch für andere des Dichters Bild mit dem warmen Schlummer über¬
glänzen, mit dem es sich in meinen Augen spiegelt.

Den Dichter Paul Heyse kenne ich ja natürlich schon seit der Jugendzeit,
das heißt, so ganz natürlich ist das nicht. Hevses Bücher wurden uns selbst¬
verständlich nicht empfohlen, man war damals ja bei weitem ängstlicher als
heute. Überhaupt aber dachte man damals wenig daran, die jungen Menschen
auch in die Literatur ihrer Zeit einzuführen, sondern meinte, wenn man
sie gründlich in die Vergangenheit und besonders in die große klassische
Periode hineingeführt habe, dann würden sie auch fähig geworden sein, sich in
der Gegenwart zurecht zu finden und das künstlerisch und menschlich Wertvolle
aus dem Wust des Unzulänglichen und Schlechten mit sichren Blick herauszusuchen.

Eine große Täuschung I Meine Literaturgeschichte aus dem Jahre 1879
schließt mit Immermanns Münchhausen, als dem einzigen Roman von
wirklichem Kunstwert, den unsre Zeit hervorgebracht habe. Der Verfasser
schrieb's in den fünfziger oder sechziger Jahren und der neue Herausgeber hatte
nichts hinzuzufügen gehabt. Dabei war Otto Ludwigs Lebenswerk schon voll¬
endet und er selbst schon gestorben, der grüne Heinrich, die Leute von Seldwyla,
auch die Züricher Novellen waren erschienen, Raabe hatte schon so viel von seiner
köstlichen Kunst geschaffen, Storm und Heyse wie auch mancher andre hatten
schon viele Jahre ihren Reichtum gespendet,'und was heute zu den Kleinodien
der Literatur gerechnet wird, in die Welt hinausgeschickt. Aber die Literatur¬
geschichte schwieg darüber, aus wissenschaftlichen Gründen gewiß, weil sie eben
Geschichte bieten wollte und daher von den "Tageserzeugnifsen" absetzn zu
müssen glaubte.

Andre waren freilich nicht so schweigsam, aber während man sich den
geringsten Dichtersmann der Vorzeit nicht entgehn ließ, wußte man wohl in den
neuen Zeiten noch nicht recht Bescheid und stand ihren Erscheinungen unsicher
gegenüber, vorsichtig das Ende abwartend, vor dem man keinen glücklich preisen
soll. Ich erinnere mich noch, damals etwas über W. Raabe gelesen zu haben,
so kühl, so maßvoll und zurückhaltend im Ausdruck, so matt im Klang, daß
wer den Ton im Ohre hatte, in dem vorher selbst von Dichtern gesprochen


Gin Fremidcsgrust an Paul Lseyse

dich fein" zu beherzigen und auch diese Aufgabe, wie so viele andre, glänzend
zu lösen. Bange mag es ihm erst vor der heranschwebenden papierener Wolke
werden, den Briefen seiner vielen Freunde und Verehrer, und Versen und
Aufsätzen und ganzen Büchern, alles freundliche Gaben, die dem Dichter gewiß
manch neuen Einblick in das, was er gewollt und erreicht hat, eröffnen würden,
wenn er sie nur gründlich studieren wollte. Ich fürchte aber, er wird es nicht
tun, sondern höchstens aus dem übervollen Strauße ein paar einzelne Blüten
heraussuchen, jedenfalls aber wird er das, was ich hier schreibe, nicht lesen,
und es ist mir sehr recht. Denn da ich weiß, daß er mir nicht zuhört, kann
ich nun um so behaglicher von ihm erzählen, an allerlei „schlichte Menschlich¬
keiten" zurückdenkend, die ja leider mich selbst vielfach angehn, aber doch, wie
ich hoffe, auch für andere des Dichters Bild mit dem warmen Schlummer über¬
glänzen, mit dem es sich in meinen Augen spiegelt.

Den Dichter Paul Heyse kenne ich ja natürlich schon seit der Jugendzeit,
das heißt, so ganz natürlich ist das nicht. Hevses Bücher wurden uns selbst¬
verständlich nicht empfohlen, man war damals ja bei weitem ängstlicher als
heute. Überhaupt aber dachte man damals wenig daran, die jungen Menschen
auch in die Literatur ihrer Zeit einzuführen, sondern meinte, wenn man
sie gründlich in die Vergangenheit und besonders in die große klassische
Periode hineingeführt habe, dann würden sie auch fähig geworden sein, sich in
der Gegenwart zurecht zu finden und das künstlerisch und menschlich Wertvolle
aus dem Wust des Unzulänglichen und Schlechten mit sichren Blick herauszusuchen.

Eine große Täuschung I Meine Literaturgeschichte aus dem Jahre 1879
schließt mit Immermanns Münchhausen, als dem einzigen Roman von
wirklichem Kunstwert, den unsre Zeit hervorgebracht habe. Der Verfasser
schrieb's in den fünfziger oder sechziger Jahren und der neue Herausgeber hatte
nichts hinzuzufügen gehabt. Dabei war Otto Ludwigs Lebenswerk schon voll¬
endet und er selbst schon gestorben, der grüne Heinrich, die Leute von Seldwyla,
auch die Züricher Novellen waren erschienen, Raabe hatte schon so viel von seiner
köstlichen Kunst geschaffen, Storm und Heyse wie auch mancher andre hatten
schon viele Jahre ihren Reichtum gespendet,'und was heute zu den Kleinodien
der Literatur gerechnet wird, in die Welt hinausgeschickt. Aber die Literatur¬
geschichte schwieg darüber, aus wissenschaftlichen Gründen gewiß, weil sie eben
Geschichte bieten wollte und daher von den „Tageserzeugnifsen" absetzn zu
müssen glaubte.

Andre waren freilich nicht so schweigsam, aber während man sich den
geringsten Dichtersmann der Vorzeit nicht entgehn ließ, wußte man wohl in den
neuen Zeiten noch nicht recht Bescheid und stand ihren Erscheinungen unsicher
gegenüber, vorsichtig das Ende abwartend, vor dem man keinen glücklich preisen
soll. Ich erinnere mich noch, damals etwas über W. Raabe gelesen zu haben,
so kühl, so maßvoll und zurückhaltend im Ausdruck, so matt im Klang, daß
wer den Ton im Ohre hatte, in dem vorher selbst von Dichtern gesprochen


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[0454] Gin Fremidcsgrust an Paul Lseyse dich fein" zu beherzigen und auch diese Aufgabe, wie so viele andre, glänzend zu lösen. Bange mag es ihm erst vor der heranschwebenden papierener Wolke werden, den Briefen seiner vielen Freunde und Verehrer, und Versen und Aufsätzen und ganzen Büchern, alles freundliche Gaben, die dem Dichter gewiß manch neuen Einblick in das, was er gewollt und erreicht hat, eröffnen würden, wenn er sie nur gründlich studieren wollte. Ich fürchte aber, er wird es nicht tun, sondern höchstens aus dem übervollen Strauße ein paar einzelne Blüten heraussuchen, jedenfalls aber wird er das, was ich hier schreibe, nicht lesen, und es ist mir sehr recht. Denn da ich weiß, daß er mir nicht zuhört, kann ich nun um so behaglicher von ihm erzählen, an allerlei „schlichte Menschlich¬ keiten" zurückdenkend, die ja leider mich selbst vielfach angehn, aber doch, wie ich hoffe, auch für andere des Dichters Bild mit dem warmen Schlummer über¬ glänzen, mit dem es sich in meinen Augen spiegelt. Den Dichter Paul Heyse kenne ich ja natürlich schon seit der Jugendzeit, das heißt, so ganz natürlich ist das nicht. Hevses Bücher wurden uns selbst¬ verständlich nicht empfohlen, man war damals ja bei weitem ängstlicher als heute. Überhaupt aber dachte man damals wenig daran, die jungen Menschen auch in die Literatur ihrer Zeit einzuführen, sondern meinte, wenn man sie gründlich in die Vergangenheit und besonders in die große klassische Periode hineingeführt habe, dann würden sie auch fähig geworden sein, sich in der Gegenwart zurecht zu finden und das künstlerisch und menschlich Wertvolle aus dem Wust des Unzulänglichen und Schlechten mit sichren Blick herauszusuchen. Eine große Täuschung I Meine Literaturgeschichte aus dem Jahre 1879 schließt mit Immermanns Münchhausen, als dem einzigen Roman von wirklichem Kunstwert, den unsre Zeit hervorgebracht habe. Der Verfasser schrieb's in den fünfziger oder sechziger Jahren und der neue Herausgeber hatte nichts hinzuzufügen gehabt. Dabei war Otto Ludwigs Lebenswerk schon voll¬ endet und er selbst schon gestorben, der grüne Heinrich, die Leute von Seldwyla, auch die Züricher Novellen waren erschienen, Raabe hatte schon so viel von seiner köstlichen Kunst geschaffen, Storm und Heyse wie auch mancher andre hatten schon viele Jahre ihren Reichtum gespendet,'und was heute zu den Kleinodien der Literatur gerechnet wird, in die Welt hinausgeschickt. Aber die Literatur¬ geschichte schwieg darüber, aus wissenschaftlichen Gründen gewiß, weil sie eben Geschichte bieten wollte und daher von den „Tageserzeugnifsen" absetzn zu müssen glaubte. Andre waren freilich nicht so schweigsam, aber während man sich den geringsten Dichtersmann der Vorzeit nicht entgehn ließ, wußte man wohl in den neuen Zeiten noch nicht recht Bescheid und stand ihren Erscheinungen unsicher gegenüber, vorsichtig das Ende abwartend, vor dem man keinen glücklich preisen soll. Ich erinnere mich noch, damals etwas über W. Raabe gelesen zu haben, so kühl, so maßvoll und zurückhaltend im Ausdruck, so matt im Klang, daß wer den Ton im Ohre hatte, in dem vorher selbst von Dichtern gesprochen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/454>, abgerufen am 22.12.2024.