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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Hellas und wilamowitz

ist Ödipus getroffen. Dem Dichter liegt alles an der ehernen Größe des
Schicksals und des Helden, wenig an deren sittlicher Motivierung. Darum spielen
die Gründe: das Verbrechen, der Spruch des Apollon und der Fluch,
den Ödipus selbst dem Mörder des Lajos anheftet, unklar durcheinander. Wie
man solche Entstellungen, die aus der heroischen Gebärde ein scheußliches
Sündenbewußtsein machen, entschuldigen soll, weiß ich nicht.

Von dichterischen Qualitäten ist bei diesen Übersetzungen überhaupt nicht
zu reden. Es handelt sich in zahllosen Fällen um kleine Umbiegungen, die
einzeln betrachtet nicht sehr bedeutend aussehen. Aber sie sind bedeutender als
die schwer zu fassenden Abflauungen, die einen wertlosen Druck von einer kostbaren
Radierung unterscheiden. Nur wenige Verse seien hiernach angeführt. Wilamowitz
bemitleidet Humboldt seiner Verse wegen, seine eigene Musik klingt so
(Agamemnon V. 154):

V. l<)9 Eumeniden:

V. 254 singen die Erinnnen,, vielleicht nach der Nodensteiner-Weis':

Dem Geist des Euripides steht Wilamowitz nicht ganz so fern als dem der
älteren Tragödie; aber anch diese Übersetzungen sind mangelhaft (z. B. wird
Zeussohn, mit "das himmlische Kind" übersetzt).

Erheblich höher als diese Übersetzungen und die Einleitungen dazu steht
Wilamowitzens Übersicht über die griechische Literaturgeschichte in der "Kultur der
Gegenwart". Hier beweist er ein besonderes Talent zu einer weit gespannten Dar¬
stellung eines komplizierten Stoffes, in der er das Typische und Entscheidende klar
hervorzuheben weiß. Aber es ergibt sich ja aus dem schon Gesagten, daß ihm die
schönsten Dinge der Antike fremd bleiben müssen. Die moderne Gelehrten-
Kultur sieht er als Ziel aller Weltentwicklung an und er verehrt in den alten
Zeiten nur das, was er von seinem eigenen Wesen darin ahnt. Nie sieht er
das Ganze, die Erscheinung des vollendeten Werkes, und an den köstlichsten
Blütenbaum weiß er nur die Frage zu stellen, welche Früchte er für seinen
Keller reifen ließ. Überlegen kritisierend naht er sich den gewaltigen Vorsokratikern.
(S. 32.) A "Die wahrhaft entscheidenden Männer erkannten, daß dieser Weg
falsch war. Wissenschaft braucht die kahle Rede, die uns nicht auf den Flügeln
des Gesanges erhebt, sondern zu Fuße geht." Woher weiß denn Wilamowitz.
daß der Eros dieser Philosophen kahle Wissenschaft erzeugen wollte? -- Das


Hellas und wilamowitz

ist Ödipus getroffen. Dem Dichter liegt alles an der ehernen Größe des
Schicksals und des Helden, wenig an deren sittlicher Motivierung. Darum spielen
die Gründe: das Verbrechen, der Spruch des Apollon und der Fluch,
den Ödipus selbst dem Mörder des Lajos anheftet, unklar durcheinander. Wie
man solche Entstellungen, die aus der heroischen Gebärde ein scheußliches
Sündenbewußtsein machen, entschuldigen soll, weiß ich nicht.

Von dichterischen Qualitäten ist bei diesen Übersetzungen überhaupt nicht
zu reden. Es handelt sich in zahllosen Fällen um kleine Umbiegungen, die
einzeln betrachtet nicht sehr bedeutend aussehen. Aber sie sind bedeutender als
die schwer zu fassenden Abflauungen, die einen wertlosen Druck von einer kostbaren
Radierung unterscheiden. Nur wenige Verse seien hiernach angeführt. Wilamowitz
bemitleidet Humboldt seiner Verse wegen, seine eigene Musik klingt so
(Agamemnon V. 154):

V. l<)9 Eumeniden:

V. 254 singen die Erinnnen,, vielleicht nach der Nodensteiner-Weis':

Dem Geist des Euripides steht Wilamowitz nicht ganz so fern als dem der
älteren Tragödie; aber anch diese Übersetzungen sind mangelhaft (z. B. wird
Zeussohn, mit „das himmlische Kind" übersetzt).

Erheblich höher als diese Übersetzungen und die Einleitungen dazu steht
Wilamowitzens Übersicht über die griechische Literaturgeschichte in der „Kultur der
Gegenwart". Hier beweist er ein besonderes Talent zu einer weit gespannten Dar¬
stellung eines komplizierten Stoffes, in der er das Typische und Entscheidende klar
hervorzuheben weiß. Aber es ergibt sich ja aus dem schon Gesagten, daß ihm die
schönsten Dinge der Antike fremd bleiben müssen. Die moderne Gelehrten-
Kultur sieht er als Ziel aller Weltentwicklung an und er verehrt in den alten
Zeiten nur das, was er von seinem eigenen Wesen darin ahnt. Nie sieht er
das Ganze, die Erscheinung des vollendeten Werkes, und an den köstlichsten
Blütenbaum weiß er nur die Frage zu stellen, welche Früchte er für seinen
Keller reifen ließ. Überlegen kritisierend naht er sich den gewaltigen Vorsokratikern.
(S. 32.) A „Die wahrhaft entscheidenden Männer erkannten, daß dieser Weg
falsch war. Wissenschaft braucht die kahle Rede, die uns nicht auf den Flügeln
des Gesanges erhebt, sondern zu Fuße geht." Woher weiß denn Wilamowitz.
daß der Eros dieser Philosophen kahle Wissenschaft erzeugen wollte? — Das


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[0431] Hellas und wilamowitz ist Ödipus getroffen. Dem Dichter liegt alles an der ehernen Größe des Schicksals und des Helden, wenig an deren sittlicher Motivierung. Darum spielen die Gründe: das Verbrechen, der Spruch des Apollon und der Fluch, den Ödipus selbst dem Mörder des Lajos anheftet, unklar durcheinander. Wie man solche Entstellungen, die aus der heroischen Gebärde ein scheußliches Sündenbewußtsein machen, entschuldigen soll, weiß ich nicht. Von dichterischen Qualitäten ist bei diesen Übersetzungen überhaupt nicht zu reden. Es handelt sich in zahllosen Fällen um kleine Umbiegungen, die einzeln betrachtet nicht sehr bedeutend aussehen. Aber sie sind bedeutender als die schwer zu fassenden Abflauungen, die einen wertlosen Druck von einer kostbaren Radierung unterscheiden. Nur wenige Verse seien hiernach angeführt. Wilamowitz bemitleidet Humboldt seiner Verse wegen, seine eigene Musik klingt so (Agamemnon V. 154): V. l<)9 Eumeniden: V. 254 singen die Erinnnen,, vielleicht nach der Nodensteiner-Weis': Dem Geist des Euripides steht Wilamowitz nicht ganz so fern als dem der älteren Tragödie; aber anch diese Übersetzungen sind mangelhaft (z. B. wird Zeussohn, mit „das himmlische Kind" übersetzt). Erheblich höher als diese Übersetzungen und die Einleitungen dazu steht Wilamowitzens Übersicht über die griechische Literaturgeschichte in der „Kultur der Gegenwart". Hier beweist er ein besonderes Talent zu einer weit gespannten Dar¬ stellung eines komplizierten Stoffes, in der er das Typische und Entscheidende klar hervorzuheben weiß. Aber es ergibt sich ja aus dem schon Gesagten, daß ihm die schönsten Dinge der Antike fremd bleiben müssen. Die moderne Gelehrten- Kultur sieht er als Ziel aller Weltentwicklung an und er verehrt in den alten Zeiten nur das, was er von seinem eigenen Wesen darin ahnt. Nie sieht er das Ganze, die Erscheinung des vollendeten Werkes, und an den köstlichsten Blütenbaum weiß er nur die Frage zu stellen, welche Früchte er für seinen Keller reifen ließ. Überlegen kritisierend naht er sich den gewaltigen Vorsokratikern. (S. 32.) A „Die wahrhaft entscheidenden Männer erkannten, daß dieser Weg falsch war. Wissenschaft braucht die kahle Rede, die uns nicht auf den Flügeln des Gesanges erhebt, sondern zu Fuße geht." Woher weiß denn Wilamowitz. daß der Eros dieser Philosophen kahle Wissenschaft erzeugen wollte? — Das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/431>, abgerufen am 24.07.2024.