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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Ernst Jahr

ruht, und gewinnt mit dem höchsten Amt des Dorfes auch die Liebe der Tochter
seines Vorgängers, des Dorfaristokraten, der an einen: innern Konflikt zwischen
seiner Ehrenstellung und heißer Sinnenlust zugrunde gegangen ist.

"Daß einer Meister ist über sich selber, darüber staunen die am meisten,
die es nie sind" -- zu diesem fein formulierten Grundsatz ("Menschen", 1900)
bekennen sich unbewußt alle diese aus dem Dunkel ins Licht strebenden Zahnschen
Gestalten; und mehr als einmal zeigt Zahn, wie haltlose Menschen zugrunde
gehn, zeigt es so, wie sein Landsmann Jeremias Gotthelf immer wieder auf
das Elend der "meisterlosen" Knechte hinweist und ihnen seinen Ali gegenüber¬
stellt. Glück und Frieden einer Familie bricht wie morsches GebM an dem
Rausch einer Stunde zusammen, da der Starke schwach geworden war, und
fein ist es in dieser Menschenerzählung, wie in dem Augenblick der Katastrophe
die Ureigenschaften aller Beteiligten wieder hervortreten, die Gewohnheit und
Zusammenleben scheinbar geändert hatten. Die Tote ist dahin, und die Lebenden
gehn auseinander, ohne sich zu versteh", da in Wirklichkeit keine Brücke zwischen
ihnen bestanden hat. Noch ist Zahn so ganz ausschließlich im Uri daheim, daß
ihm Ausflüge ins Weitere nicht recht gelingen, wenn er etwa das Dorfkind Kuni
("Kumis Heilung") in die Pensionswelt oberitalienischer Seen führt, oder in
ähnlicher, um eine gesellschaftliche Stufe höherer Umgebung dein Tod leibhaftig
begegnet, dem Herrn "Herr" im Kavaliersgewande.

Ernst Zahn war dreiunddreißig Jahre alt, als er diesen Novellenband
veröffentlichte,- er schließt die erste, gärende Periode seines Schaffens, in der
neben Vollendeten: Unfertiges und Halbgelungenes liegt. Von nun an ist es,
als ob er ganz freien Boden gewonnen hätte mit einer Aussicht, die oft genug
schon über die Grenzen des engsten heimischen Bezirks hinausgeht, und er schafft
in der Reihe von Werken, die sich ihm seitdem vollendeten, nur noch Gestalten
von vollem menschlichen Gehalt inmitten einer ganz echt eingestimmten Umgebung.

Diese Verse geben den Auftakt aus der Natur selbst für drei Erzählungen
von der Schattenseite, "Schattenhalb" benannt (1903). Da tritt uns die erste,
allseitig gesehene Frauengestalt Zahns, Violanta Zureich, entgegen, die sich, ganz
noch unter dem Druck des schmutzigen Lebens bei den verkommenen Eltern, in
einer verlorenen Stunde den: Leutnant Marianus Renner hingibt. Aber diese
Stunde entscheidet in ganz andern: Sinne über sie, es kommt über das^Mädchen
wie ein Erwachen, sie streift die Häuslichkeit von sich ab und geht als Magd
in ein ehrbares Haus. In stiller, fester, ernster Arbeit, die das Erinnern an
jene Stunde nur noch wie ein leichter Schatten trifft, kommt sie innerlich immer
weiter empor und schließlich jais Frau in das Nennerhaus, als Frau des Bruders
jeues Wüstlings, der längst fern der Heimat verkommen umherirrt. Als eine
reine und starke Frau und Mutter steht sie da, bis der Schatten wieder Leben


Ernst Jahr

ruht, und gewinnt mit dem höchsten Amt des Dorfes auch die Liebe der Tochter
seines Vorgängers, des Dorfaristokraten, der an einen: innern Konflikt zwischen
seiner Ehrenstellung und heißer Sinnenlust zugrunde gegangen ist.

„Daß einer Meister ist über sich selber, darüber staunen die am meisten,
die es nie sind" — zu diesem fein formulierten Grundsatz („Menschen", 1900)
bekennen sich unbewußt alle diese aus dem Dunkel ins Licht strebenden Zahnschen
Gestalten; und mehr als einmal zeigt Zahn, wie haltlose Menschen zugrunde
gehn, zeigt es so, wie sein Landsmann Jeremias Gotthelf immer wieder auf
das Elend der „meisterlosen" Knechte hinweist und ihnen seinen Ali gegenüber¬
stellt. Glück und Frieden einer Familie bricht wie morsches GebM an dem
Rausch einer Stunde zusammen, da der Starke schwach geworden war, und
fein ist es in dieser Menschenerzählung, wie in dem Augenblick der Katastrophe
die Ureigenschaften aller Beteiligten wieder hervortreten, die Gewohnheit und
Zusammenleben scheinbar geändert hatten. Die Tote ist dahin, und die Lebenden
gehn auseinander, ohne sich zu versteh«, da in Wirklichkeit keine Brücke zwischen
ihnen bestanden hat. Noch ist Zahn so ganz ausschließlich im Uri daheim, daß
ihm Ausflüge ins Weitere nicht recht gelingen, wenn er etwa das Dorfkind Kuni
(„Kumis Heilung") in die Pensionswelt oberitalienischer Seen führt, oder in
ähnlicher, um eine gesellschaftliche Stufe höherer Umgebung dein Tod leibhaftig
begegnet, dem Herrn „Herr" im Kavaliersgewande.

Ernst Zahn war dreiunddreißig Jahre alt, als er diesen Novellenband
veröffentlichte,- er schließt die erste, gärende Periode seines Schaffens, in der
neben Vollendeten: Unfertiges und Halbgelungenes liegt. Von nun an ist es,
als ob er ganz freien Boden gewonnen hätte mit einer Aussicht, die oft genug
schon über die Grenzen des engsten heimischen Bezirks hinausgeht, und er schafft
in der Reihe von Werken, die sich ihm seitdem vollendeten, nur noch Gestalten
von vollem menschlichen Gehalt inmitten einer ganz echt eingestimmten Umgebung.

Diese Verse geben den Auftakt aus der Natur selbst für drei Erzählungen
von der Schattenseite, „Schattenhalb" benannt (1903). Da tritt uns die erste,
allseitig gesehene Frauengestalt Zahns, Violanta Zureich, entgegen, die sich, ganz
noch unter dem Druck des schmutzigen Lebens bei den verkommenen Eltern, in
einer verlorenen Stunde den: Leutnant Marianus Renner hingibt. Aber diese
Stunde entscheidet in ganz andern: Sinne über sie, es kommt über das^Mädchen
wie ein Erwachen, sie streift die Häuslichkeit von sich ab und geht als Magd
in ein ehrbares Haus. In stiller, fester, ernster Arbeit, die das Erinnern an
jene Stunde nur noch wie ein leichter Schatten trifft, kommt sie innerlich immer
weiter empor und schließlich jais Frau in das Nennerhaus, als Frau des Bruders
jeues Wüstlings, der längst fern der Heimat verkommen umherirrt. Als eine
reine und starke Frau und Mutter steht sie da, bis der Schatten wieder Leben


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[0356] Ernst Jahr ruht, und gewinnt mit dem höchsten Amt des Dorfes auch die Liebe der Tochter seines Vorgängers, des Dorfaristokraten, der an einen: innern Konflikt zwischen seiner Ehrenstellung und heißer Sinnenlust zugrunde gegangen ist. „Daß einer Meister ist über sich selber, darüber staunen die am meisten, die es nie sind" — zu diesem fein formulierten Grundsatz („Menschen", 1900) bekennen sich unbewußt alle diese aus dem Dunkel ins Licht strebenden Zahnschen Gestalten; und mehr als einmal zeigt Zahn, wie haltlose Menschen zugrunde gehn, zeigt es so, wie sein Landsmann Jeremias Gotthelf immer wieder auf das Elend der „meisterlosen" Knechte hinweist und ihnen seinen Ali gegenüber¬ stellt. Glück und Frieden einer Familie bricht wie morsches GebM an dem Rausch einer Stunde zusammen, da der Starke schwach geworden war, und fein ist es in dieser Menschenerzählung, wie in dem Augenblick der Katastrophe die Ureigenschaften aller Beteiligten wieder hervortreten, die Gewohnheit und Zusammenleben scheinbar geändert hatten. Die Tote ist dahin, und die Lebenden gehn auseinander, ohne sich zu versteh«, da in Wirklichkeit keine Brücke zwischen ihnen bestanden hat. Noch ist Zahn so ganz ausschließlich im Uri daheim, daß ihm Ausflüge ins Weitere nicht recht gelingen, wenn er etwa das Dorfkind Kuni („Kumis Heilung") in die Pensionswelt oberitalienischer Seen führt, oder in ähnlicher, um eine gesellschaftliche Stufe höherer Umgebung dein Tod leibhaftig begegnet, dem Herrn „Herr" im Kavaliersgewande. Ernst Zahn war dreiunddreißig Jahre alt, als er diesen Novellenband veröffentlichte,- er schließt die erste, gärende Periode seines Schaffens, in der neben Vollendeten: Unfertiges und Halbgelungenes liegt. Von nun an ist es, als ob er ganz freien Boden gewonnen hätte mit einer Aussicht, die oft genug schon über die Grenzen des engsten heimischen Bezirks hinausgeht, und er schafft in der Reihe von Werken, die sich ihm seitdem vollendeten, nur noch Gestalten von vollem menschlichen Gehalt inmitten einer ganz echt eingestimmten Umgebung. Diese Verse geben den Auftakt aus der Natur selbst für drei Erzählungen von der Schattenseite, „Schattenhalb" benannt (1903). Da tritt uns die erste, allseitig gesehene Frauengestalt Zahns, Violanta Zureich, entgegen, die sich, ganz noch unter dem Druck des schmutzigen Lebens bei den verkommenen Eltern, in einer verlorenen Stunde den: Leutnant Marianus Renner hingibt. Aber diese Stunde entscheidet in ganz andern: Sinne über sie, es kommt über das^Mädchen wie ein Erwachen, sie streift die Häuslichkeit von sich ab und geht als Magd in ein ehrbares Haus. In stiller, fester, ernster Arbeit, die das Erinnern an jene Stunde nur noch wie ein leichter Schatten trifft, kommt sie innerlich immer weiter empor und schließlich jais Frau in das Nennerhaus, als Frau des Bruders jeues Wüstlings, der längst fern der Heimat verkommen umherirrt. Als eine reine und starke Frau und Mutter steht sie da, bis der Schatten wieder Leben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/356>, abgerufen am 22.12.2024.