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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Ernst Jahr

gewinnt und Marianus zurückkehrt, geil und gierig wie je. Da er nicht von
ihr ablassen will mit Zweideutigkeiten und Bedrängung, tilgt sie den Schatten,
indem sie den verlorenen Menschen auf einem Berggang mit fester Hand in den
Abgrund stößt. Aber sie tilgt auch sich selbst und geht gefaßt, ihr Geheimnis
in der Brust, aus dem Leben und läßt dein Mann und den Kindern das
Gedächtnis einer heißen und festen ehrlichen Liebe.

Ich möchte mit Zahn nicht darüber rechten, ob dieser Ausgang notwendig
war, ob Violanta nicht, so hoch, wie sie jetzt innerlich steht, weiterleben könnte --
der ganze Gehalt des Werkes ist so rein und einheitlich, die herrschende Erscheinung
der Frau und die um sie herum sind so echt und voll, daß vor diesem Leben
solche Einwände verstummen. Und wiederum aus dem Schatten ins innre
Licht, ob auch nach das Aeußere entstellenden, unverdienten Leiden, gelangt
Lentin ("Lentin" in demselben Bande), der Sohn, der -- immer kehrt das
alte Motiv wieder -- schwere, unbekannte Schuld des Vaters gegen den Nachbarn
durch ehrlichen, unbelohnten Dienst bei diesem führt bis an dessen Tod, und
der von den verkommenen Söhnen dann als einziges Aufgeld Messerstiche erntet.
Und bis zur tragischen Not steigert sich dies Leben schattenhalb >in der letzten
Novelle des Bandes: "Das Muttergöttesli"; da sehn wir im Hause des Trunken¬
bolds die Tochter mit dem alten Großvater, und am Schluß des Abendgebets
legt sie die beiden Hände über dem Buch zusammen und sagt ganz klar und
fest: "Herrgott, laß den Großvater sterben". Und der gequälte Mann, den
der rohe Sohn mißhandelt, wartet schon in der Ecke immer auf diese Worte,
"und wenn sie kommen, nickt er so hastig und ungeduldig wie ein Kind, das
noch nicht reden kann und doch um alle Welt ja sagen möchte".

Es sind immer wieder "Helden des Alltags" (1905), die in solcher Um¬
gebung wachsen, und immer ist Zahns spröder Stil biegsam genug, allen Wegen
der Seele nachgehn zu können, die in diesen Menschen kämpfen. Das zeigt sich
nun mit einer schlechthin meisterhaften Reinheit in der schönsten Novelle, die er
vielleicht geschrieben hat, "Keine Brücke" ("Firnwind", 1906). In ihr tritt er
ganz und zum erstenmal nun mit vollem Gelingen aus der Enge der Gotthard-
täler in das weitere Leben einer Stadt am See, Se. Felix, wo schon die gehaltne
Erzählung "Verena Stadler" ("Helden des Alltags") spielt; und zum erstenmal
stehn seine Menschen ganz in freier Luft gegeneinander ohne Mitwirkung der
großen Natur. Der Konflikt ist uns bekannt, der 'alte aus so vielen seiner
früheren Romane und Novellen, nur ins Städtische übertragen: die Verbindung
zwischen Menschen zweier verschiedener Sphären, zweier Kreise, die sich für
gewöhnlich gesellschaftlich nicht schneiden. Der Pfarrer Ludwig Heß, der Sohn
einer Patrizierfamilie, hat die schöne Tochter eines Weinhändlers geheiratet, die
er am Krankenbett des Vaters kennen lernte. Er aber ist so ganz mit allen
Nerven ein Sohn seiner alten Kultur, daß ihn immer wieder vieles in Art und
Umkreis der Frau und der Ihren empfindlich berührt. Aber nicht das gibt
schließlich ganz den Ausschlag, sondern es ist ungemein fein, wie es sich nur


GrenMten I 1910 44
Ernst Jahr

gewinnt und Marianus zurückkehrt, geil und gierig wie je. Da er nicht von
ihr ablassen will mit Zweideutigkeiten und Bedrängung, tilgt sie den Schatten,
indem sie den verlorenen Menschen auf einem Berggang mit fester Hand in den
Abgrund stößt. Aber sie tilgt auch sich selbst und geht gefaßt, ihr Geheimnis
in der Brust, aus dem Leben und läßt dein Mann und den Kindern das
Gedächtnis einer heißen und festen ehrlichen Liebe.

Ich möchte mit Zahn nicht darüber rechten, ob dieser Ausgang notwendig
war, ob Violanta nicht, so hoch, wie sie jetzt innerlich steht, weiterleben könnte —
der ganze Gehalt des Werkes ist so rein und einheitlich, die herrschende Erscheinung
der Frau und die um sie herum sind so echt und voll, daß vor diesem Leben
solche Einwände verstummen. Und wiederum aus dem Schatten ins innre
Licht, ob auch nach das Aeußere entstellenden, unverdienten Leiden, gelangt
Lentin („Lentin" in demselben Bande), der Sohn, der — immer kehrt das
alte Motiv wieder — schwere, unbekannte Schuld des Vaters gegen den Nachbarn
durch ehrlichen, unbelohnten Dienst bei diesem führt bis an dessen Tod, und
der von den verkommenen Söhnen dann als einziges Aufgeld Messerstiche erntet.
Und bis zur tragischen Not steigert sich dies Leben schattenhalb >in der letzten
Novelle des Bandes: „Das Muttergöttesli"; da sehn wir im Hause des Trunken¬
bolds die Tochter mit dem alten Großvater, und am Schluß des Abendgebets
legt sie die beiden Hände über dem Buch zusammen und sagt ganz klar und
fest: „Herrgott, laß den Großvater sterben". Und der gequälte Mann, den
der rohe Sohn mißhandelt, wartet schon in der Ecke immer auf diese Worte,
„und wenn sie kommen, nickt er so hastig und ungeduldig wie ein Kind, das
noch nicht reden kann und doch um alle Welt ja sagen möchte".

Es sind immer wieder „Helden des Alltags" (1905), die in solcher Um¬
gebung wachsen, und immer ist Zahns spröder Stil biegsam genug, allen Wegen
der Seele nachgehn zu können, die in diesen Menschen kämpfen. Das zeigt sich
nun mit einer schlechthin meisterhaften Reinheit in der schönsten Novelle, die er
vielleicht geschrieben hat, „Keine Brücke" („Firnwind", 1906). In ihr tritt er
ganz und zum erstenmal nun mit vollem Gelingen aus der Enge der Gotthard-
täler in das weitere Leben einer Stadt am See, Se. Felix, wo schon die gehaltne
Erzählung „Verena Stadler" („Helden des Alltags") spielt; und zum erstenmal
stehn seine Menschen ganz in freier Luft gegeneinander ohne Mitwirkung der
großen Natur. Der Konflikt ist uns bekannt, der 'alte aus so vielen seiner
früheren Romane und Novellen, nur ins Städtische übertragen: die Verbindung
zwischen Menschen zweier verschiedener Sphären, zweier Kreise, die sich für
gewöhnlich gesellschaftlich nicht schneiden. Der Pfarrer Ludwig Heß, der Sohn
einer Patrizierfamilie, hat die schöne Tochter eines Weinhändlers geheiratet, die
er am Krankenbett des Vaters kennen lernte. Er aber ist so ganz mit allen
Nerven ein Sohn seiner alten Kultur, daß ihn immer wieder vieles in Art und
Umkreis der Frau und der Ihren empfindlich berührt. Aber nicht das gibt
schließlich ganz den Ausschlag, sondern es ist ungemein fein, wie es sich nur


GrenMten I 1910 44
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[0357] Ernst Jahr gewinnt und Marianus zurückkehrt, geil und gierig wie je. Da er nicht von ihr ablassen will mit Zweideutigkeiten und Bedrängung, tilgt sie den Schatten, indem sie den verlorenen Menschen auf einem Berggang mit fester Hand in den Abgrund stößt. Aber sie tilgt auch sich selbst und geht gefaßt, ihr Geheimnis in der Brust, aus dem Leben und läßt dein Mann und den Kindern das Gedächtnis einer heißen und festen ehrlichen Liebe. Ich möchte mit Zahn nicht darüber rechten, ob dieser Ausgang notwendig war, ob Violanta nicht, so hoch, wie sie jetzt innerlich steht, weiterleben könnte — der ganze Gehalt des Werkes ist so rein und einheitlich, die herrschende Erscheinung der Frau und die um sie herum sind so echt und voll, daß vor diesem Leben solche Einwände verstummen. Und wiederum aus dem Schatten ins innre Licht, ob auch nach das Aeußere entstellenden, unverdienten Leiden, gelangt Lentin („Lentin" in demselben Bande), der Sohn, der — immer kehrt das alte Motiv wieder — schwere, unbekannte Schuld des Vaters gegen den Nachbarn durch ehrlichen, unbelohnten Dienst bei diesem führt bis an dessen Tod, und der von den verkommenen Söhnen dann als einziges Aufgeld Messerstiche erntet. Und bis zur tragischen Not steigert sich dies Leben schattenhalb >in der letzten Novelle des Bandes: „Das Muttergöttesli"; da sehn wir im Hause des Trunken¬ bolds die Tochter mit dem alten Großvater, und am Schluß des Abendgebets legt sie die beiden Hände über dem Buch zusammen und sagt ganz klar und fest: „Herrgott, laß den Großvater sterben". Und der gequälte Mann, den der rohe Sohn mißhandelt, wartet schon in der Ecke immer auf diese Worte, „und wenn sie kommen, nickt er so hastig und ungeduldig wie ein Kind, das noch nicht reden kann und doch um alle Welt ja sagen möchte". Es sind immer wieder „Helden des Alltags" (1905), die in solcher Um¬ gebung wachsen, und immer ist Zahns spröder Stil biegsam genug, allen Wegen der Seele nachgehn zu können, die in diesen Menschen kämpfen. Das zeigt sich nun mit einer schlechthin meisterhaften Reinheit in der schönsten Novelle, die er vielleicht geschrieben hat, „Keine Brücke" („Firnwind", 1906). In ihr tritt er ganz und zum erstenmal nun mit vollem Gelingen aus der Enge der Gotthard- täler in das weitere Leben einer Stadt am See, Se. Felix, wo schon die gehaltne Erzählung „Verena Stadler" („Helden des Alltags") spielt; und zum erstenmal stehn seine Menschen ganz in freier Luft gegeneinander ohne Mitwirkung der großen Natur. Der Konflikt ist uns bekannt, der 'alte aus so vielen seiner früheren Romane und Novellen, nur ins Städtische übertragen: die Verbindung zwischen Menschen zweier verschiedener Sphären, zweier Kreise, die sich für gewöhnlich gesellschaftlich nicht schneiden. Der Pfarrer Ludwig Heß, der Sohn einer Patrizierfamilie, hat die schöne Tochter eines Weinhändlers geheiratet, die er am Krankenbett des Vaters kennen lernte. Er aber ist so ganz mit allen Nerven ein Sohn seiner alten Kultur, daß ihn immer wieder vieles in Art und Umkreis der Frau und der Ihren empfindlich berührt. Aber nicht das gibt schließlich ganz den Ausschlag, sondern es ist ungemein fein, wie es sich nur GrenMten I 1910 44

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/357>, abgerufen am 22.12.2024.