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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Ernst Zahn

Wie wenig selbst die alten, alles unter sich beugenden Mächte der Kirche
die Bewohner solch einsamen Dorfes an den Felsenhängen zwingen, damit setzt
der Roman "Erni Behaim" (1898) ein; der milde, alte Geistliche, der bäurisch
mit den Bergbauern lebt, wird dem Eiferer des Klosters gegenübergestellt.
Aber der Sieg des Fanatikers ist nur scheinbar, und da er selbst von der neuen
Wirkungsstätte scheidet, ist auch sein Einfluß dahin, und die Dörfler von 1418
leben in ihrer festen Art weiter, wie sie es dort im Urner Land taten, bevor
der Pater Ambrosius den Weiler Abfrutt betreten hat. Es hat etwas von
großartiger, ganz unbezwuugener Menschengewalt, wie sie ganz auf sich gestellt
sind, keinen Richter über sich kennen als den selbsterwählten mitten unter ihnen.
Und da wächst Erni Behaim auf, zarter als die andern, von der Mutterseite
her fremdes Blut in den Adern; heilkundig ist er und feinen Herzens. Und er
erlöst die Mutter, die ihm dafür aus heißen: Herzen dankt, von der unsäglichen
Qual unheilbarer Schmerzen durch das ihm bekannte Gift weißer Knollen hoch
vom Gebirge. Dann aber wird er friedlos, dann aber dünkt er sich ein Mörder,
der sühnen muß und doch keine Sühne findet, nicht im Kloster, nicht im Heer,
das über den Paß gegen Bellenz (heut nennen wir's italienisch Bellinzona)
zieht, nicht als Einsiedler und hilfreicher Arzt nahe dem alten Heimatort. Hier
aber lebt ihn: ein Mädchen, dessen Lebenswille und Herzenskraft stärker ist als
die seine; und sie zieht ihn zurück, sie stellt ihn in den Ring der Dorfgenossen
und fordert den Spruch, Anklägerin und Beistand zugleich.

"Die Mienen der Männer im Ring blieben starr; keiner verriet, was in
ihm war. Der Spruch, der jetzt kam, war heilig, nicht Lärm noch geheime
Unterredung durfte ihm vorangehn; das Urteil, eines jeden mußte unbeeinflußt
sein. Nur der Richter hatte Freiheit der Rede.

,Du hast eine gute Fürsprecherin, Geselle', murmelte der Hofer, zu dem
Behaim gewendet. Dann forderte er die Schar zum Spruch:

.Richtet gerecht im Namen des Gerechten! Nach alter Satzung steht für
diesen der Todt Frei oder schuldig? -- Wer den Behaim freisprechen will von
Schuld und Fehle, der hebe die Rechte auf/

Ein Rauschen wie von schlagenden Fittichen! Der Erni starrte ungläubig,
kaum fassend was vorging, in den Ring. Mit erhobenen Händen sprachen sie
ihn los von Schuld."

Ein Rauschen wie von schlagenden Fittichen! -- welch ein wundervolles
Bild, gleichermaßen durch Auge und Ohr empfangen, empfangen in freier Luft.
Es ist ebenso feinster Beobachtung entsprungen, wie etwa, wenn Zahn ein
andermal von Stürmen des Lebens spricht, die in Menschengesichtern Hausen
wie Wetter im Weichholz der Hüttenwände.

Aber langsam und spröde, wie alles an ihm, entwickelte sich auch dieser
Dichter trotz aller großen Vorzüge, die schon seine ersten Gaben zeigten.
Abgerissen, noch unklar in der seelischen Verknüpfung, oft übertreibend in der
Charakteristik, zumal des Bösen und Harten, schuf er die Gestalten seiner ersten


Ernst Zahn

Wie wenig selbst die alten, alles unter sich beugenden Mächte der Kirche
die Bewohner solch einsamen Dorfes an den Felsenhängen zwingen, damit setzt
der Roman „Erni Behaim" (1898) ein; der milde, alte Geistliche, der bäurisch
mit den Bergbauern lebt, wird dem Eiferer des Klosters gegenübergestellt.
Aber der Sieg des Fanatikers ist nur scheinbar, und da er selbst von der neuen
Wirkungsstätte scheidet, ist auch sein Einfluß dahin, und die Dörfler von 1418
leben in ihrer festen Art weiter, wie sie es dort im Urner Land taten, bevor
der Pater Ambrosius den Weiler Abfrutt betreten hat. Es hat etwas von
großartiger, ganz unbezwuugener Menschengewalt, wie sie ganz auf sich gestellt
sind, keinen Richter über sich kennen als den selbsterwählten mitten unter ihnen.
Und da wächst Erni Behaim auf, zarter als die andern, von der Mutterseite
her fremdes Blut in den Adern; heilkundig ist er und feinen Herzens. Und er
erlöst die Mutter, die ihm dafür aus heißen: Herzen dankt, von der unsäglichen
Qual unheilbarer Schmerzen durch das ihm bekannte Gift weißer Knollen hoch
vom Gebirge. Dann aber wird er friedlos, dann aber dünkt er sich ein Mörder,
der sühnen muß und doch keine Sühne findet, nicht im Kloster, nicht im Heer,
das über den Paß gegen Bellenz (heut nennen wir's italienisch Bellinzona)
zieht, nicht als Einsiedler und hilfreicher Arzt nahe dem alten Heimatort. Hier
aber lebt ihn: ein Mädchen, dessen Lebenswille und Herzenskraft stärker ist als
die seine; und sie zieht ihn zurück, sie stellt ihn in den Ring der Dorfgenossen
und fordert den Spruch, Anklägerin und Beistand zugleich.

„Die Mienen der Männer im Ring blieben starr; keiner verriet, was in
ihm war. Der Spruch, der jetzt kam, war heilig, nicht Lärm noch geheime
Unterredung durfte ihm vorangehn; das Urteil, eines jeden mußte unbeeinflußt
sein. Nur der Richter hatte Freiheit der Rede.

,Du hast eine gute Fürsprecherin, Geselle', murmelte der Hofer, zu dem
Behaim gewendet. Dann forderte er die Schar zum Spruch:

.Richtet gerecht im Namen des Gerechten! Nach alter Satzung steht für
diesen der Todt Frei oder schuldig? — Wer den Behaim freisprechen will von
Schuld und Fehle, der hebe die Rechte auf/

Ein Rauschen wie von schlagenden Fittichen! Der Erni starrte ungläubig,
kaum fassend was vorging, in den Ring. Mit erhobenen Händen sprachen sie
ihn los von Schuld."

Ein Rauschen wie von schlagenden Fittichen! — welch ein wundervolles
Bild, gleichermaßen durch Auge und Ohr empfangen, empfangen in freier Luft.
Es ist ebenso feinster Beobachtung entsprungen, wie etwa, wenn Zahn ein
andermal von Stürmen des Lebens spricht, die in Menschengesichtern Hausen
wie Wetter im Weichholz der Hüttenwände.

Aber langsam und spröde, wie alles an ihm, entwickelte sich auch dieser
Dichter trotz aller großen Vorzüge, die schon seine ersten Gaben zeigten.
Abgerissen, noch unklar in der seelischen Verknüpfung, oft übertreibend in der
Charakteristik, zumal des Bösen und Harten, schuf er die Gestalten seiner ersten


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[0354] Ernst Zahn Wie wenig selbst die alten, alles unter sich beugenden Mächte der Kirche die Bewohner solch einsamen Dorfes an den Felsenhängen zwingen, damit setzt der Roman „Erni Behaim" (1898) ein; der milde, alte Geistliche, der bäurisch mit den Bergbauern lebt, wird dem Eiferer des Klosters gegenübergestellt. Aber der Sieg des Fanatikers ist nur scheinbar, und da er selbst von der neuen Wirkungsstätte scheidet, ist auch sein Einfluß dahin, und die Dörfler von 1418 leben in ihrer festen Art weiter, wie sie es dort im Urner Land taten, bevor der Pater Ambrosius den Weiler Abfrutt betreten hat. Es hat etwas von großartiger, ganz unbezwuugener Menschengewalt, wie sie ganz auf sich gestellt sind, keinen Richter über sich kennen als den selbsterwählten mitten unter ihnen. Und da wächst Erni Behaim auf, zarter als die andern, von der Mutterseite her fremdes Blut in den Adern; heilkundig ist er und feinen Herzens. Und er erlöst die Mutter, die ihm dafür aus heißen: Herzen dankt, von der unsäglichen Qual unheilbarer Schmerzen durch das ihm bekannte Gift weißer Knollen hoch vom Gebirge. Dann aber wird er friedlos, dann aber dünkt er sich ein Mörder, der sühnen muß und doch keine Sühne findet, nicht im Kloster, nicht im Heer, das über den Paß gegen Bellenz (heut nennen wir's italienisch Bellinzona) zieht, nicht als Einsiedler und hilfreicher Arzt nahe dem alten Heimatort. Hier aber lebt ihn: ein Mädchen, dessen Lebenswille und Herzenskraft stärker ist als die seine; und sie zieht ihn zurück, sie stellt ihn in den Ring der Dorfgenossen und fordert den Spruch, Anklägerin und Beistand zugleich. „Die Mienen der Männer im Ring blieben starr; keiner verriet, was in ihm war. Der Spruch, der jetzt kam, war heilig, nicht Lärm noch geheime Unterredung durfte ihm vorangehn; das Urteil, eines jeden mußte unbeeinflußt sein. Nur der Richter hatte Freiheit der Rede. ,Du hast eine gute Fürsprecherin, Geselle', murmelte der Hofer, zu dem Behaim gewendet. Dann forderte er die Schar zum Spruch: .Richtet gerecht im Namen des Gerechten! Nach alter Satzung steht für diesen der Todt Frei oder schuldig? — Wer den Behaim freisprechen will von Schuld und Fehle, der hebe die Rechte auf/ Ein Rauschen wie von schlagenden Fittichen! Der Erni starrte ungläubig, kaum fassend was vorging, in den Ring. Mit erhobenen Händen sprachen sie ihn los von Schuld." Ein Rauschen wie von schlagenden Fittichen! — welch ein wundervolles Bild, gleichermaßen durch Auge und Ohr empfangen, empfangen in freier Luft. Es ist ebenso feinster Beobachtung entsprungen, wie etwa, wenn Zahn ein andermal von Stürmen des Lebens spricht, die in Menschengesichtern Hausen wie Wetter im Weichholz der Hüttenwände. Aber langsam und spröde, wie alles an ihm, entwickelte sich auch dieser Dichter trotz aller großen Vorzüge, die schon seine ersten Gaben zeigten. Abgerissen, noch unklar in der seelischen Verknüpfung, oft übertreibend in der Charakteristik, zumal des Bösen und Harten, schuf er die Gestalten seiner ersten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/354>, abgerufen am 21.12.2024.