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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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walt Whitmm,

Und immer neue Wogen wirft seine Entzückung. "O, die Freuden des
Ingenieurs," singt er, "O, die Freuden des muskelkräftigen Fechters, O, die
Freuden der Mutter, O, die Freuden meiner Seele." Es ist Whitmnns
"Trunkenes Lied". Man höre seinen Ausklang:

Man muß dieser Seligkeit auf den Grund spüren. Sie beruht uicht auf
dem Wohlgefallen an den Dingen, an der Erscheinung der Dinge an und für sich.
Obgleich Whitman der ausgesprochenste Optimist ist, weiß er wohl, daß die Dinge
dieser Welt ein Preislied in so hohem Ton nicht verdienen. Er weiß, daß es
Häßliches, Trübes, Dunkles gibt, aber er schlägt es mit einen: Dennoch aus
dem Felde. "Ich sehe unter die Hülle eurer hageren und gemeinen Masken,
ich sehe eure gerundeten, unzerstörteu Umrisse." Das ist die Stimme des Weisen.
Das Unvollkommenste gilt ihm als eine Entstellung und Verstellung des Voll¬
kommenen. Und dieses allein ehrt er in ihm. Das Geheimnis dieser Betrachtungs¬
weise ruht in dem Vermögen, die Welt als ein geschlossenes Ganzes zu begreifen.
Die Welt, das ist keine bunt zusammengewürfelte Menge von einzelnen Dingen
und Einzelerscheinungen, sie ist ein Eines, Einziges, und wer einen ihrer Teile
schaut, der schaut auch dieses Eine, dieses Ganze.

Whitman ist ein kosmisches Genie. Er vermag es gar nicht anders, als
alle Verhältnisse, Phänomene und Ereignisse unter den kosmischen Gesichtspunkt
zu stellen. Es gibt für ihn nichts Unzusammenhängeudes: der Weltenschöpfer
arbeitet nicht mit Jsolierschemeln. Und was heißt ihm dann groß und klein?
Alle diese Unterschiede sind aufgehoben, weggeblasen, das Kleinste steht gleich¬
berechtigt neben dem Großen, beide Dokumente, Erscheinungsformen eines
Wesens, jener einen gewaltigen Kraft, die alles in allem ist.

Wir verstehen es jetzt, wenn Whitman verkündet: "Nichts ist allein um
seiner selbst willen da; ich sage, die ganze Erde und alle Sterne am Himmel
sind der Religion wegen da." Und er fährt fort: "Ich sage, noch ist kein
Mensch halb andächtig genug gewesen, keiner hat halb genug verehrt oder
angebetet, keiner hat zu bedenken begonnen, wie göttlich er selbst ist und wie
sicher die Zukunft ist."

Nennt man Whitinnn einen Pantheisten, so wird man seiner religiösen
Eigenart kaun: gerecht geworden sein. Das, was wir Pantheismus nenne,:,
ist zumeist ein Gewächs philosophischer Betrachtung. Der Pantheist erschließt
eine Kraft, die er überall am Werke sieht, und die er, weil sie ihm göttliche
Macht und Bedeutung zu haben scheint, als göttliche Kraft, als Gott für sich
in Anspruch nimmt. Ich meine, daß Whitman auf anderen: Wege zu seinem
Glauben gekommen ist. Er fühlte die innere Verwandtschaft aller Dinge, die
innere Verwandtschaft feiner individuellen Persönlichkeit mit dem Grashalm, auf


walt Whitmm,

Und immer neue Wogen wirft seine Entzückung. „O, die Freuden des
Ingenieurs," singt er, „O, die Freuden des muskelkräftigen Fechters, O, die
Freuden der Mutter, O, die Freuden meiner Seele." Es ist Whitmnns
„Trunkenes Lied". Man höre seinen Ausklang:

Man muß dieser Seligkeit auf den Grund spüren. Sie beruht uicht auf
dem Wohlgefallen an den Dingen, an der Erscheinung der Dinge an und für sich.
Obgleich Whitman der ausgesprochenste Optimist ist, weiß er wohl, daß die Dinge
dieser Welt ein Preislied in so hohem Ton nicht verdienen. Er weiß, daß es
Häßliches, Trübes, Dunkles gibt, aber er schlägt es mit einen: Dennoch aus
dem Felde. „Ich sehe unter die Hülle eurer hageren und gemeinen Masken,
ich sehe eure gerundeten, unzerstörteu Umrisse." Das ist die Stimme des Weisen.
Das Unvollkommenste gilt ihm als eine Entstellung und Verstellung des Voll¬
kommenen. Und dieses allein ehrt er in ihm. Das Geheimnis dieser Betrachtungs¬
weise ruht in dem Vermögen, die Welt als ein geschlossenes Ganzes zu begreifen.
Die Welt, das ist keine bunt zusammengewürfelte Menge von einzelnen Dingen
und Einzelerscheinungen, sie ist ein Eines, Einziges, und wer einen ihrer Teile
schaut, der schaut auch dieses Eine, dieses Ganze.

Whitman ist ein kosmisches Genie. Er vermag es gar nicht anders, als
alle Verhältnisse, Phänomene und Ereignisse unter den kosmischen Gesichtspunkt
zu stellen. Es gibt für ihn nichts Unzusammenhängeudes: der Weltenschöpfer
arbeitet nicht mit Jsolierschemeln. Und was heißt ihm dann groß und klein?
Alle diese Unterschiede sind aufgehoben, weggeblasen, das Kleinste steht gleich¬
berechtigt neben dem Großen, beide Dokumente, Erscheinungsformen eines
Wesens, jener einen gewaltigen Kraft, die alles in allem ist.

Wir verstehen es jetzt, wenn Whitman verkündet: „Nichts ist allein um
seiner selbst willen da; ich sage, die ganze Erde und alle Sterne am Himmel
sind der Religion wegen da." Und er fährt fort: „Ich sage, noch ist kein
Mensch halb andächtig genug gewesen, keiner hat halb genug verehrt oder
angebetet, keiner hat zu bedenken begonnen, wie göttlich er selbst ist und wie
sicher die Zukunft ist."

Nennt man Whitinnn einen Pantheisten, so wird man seiner religiösen
Eigenart kaun: gerecht geworden sein. Das, was wir Pantheismus nenne,:,
ist zumeist ein Gewächs philosophischer Betrachtung. Der Pantheist erschließt
eine Kraft, die er überall am Werke sieht, und die er, weil sie ihm göttliche
Macht und Bedeutung zu haben scheint, als göttliche Kraft, als Gott für sich
in Anspruch nimmt. Ich meine, daß Whitman auf anderen: Wege zu seinem
Glauben gekommen ist. Er fühlte die innere Verwandtschaft aller Dinge, die
innere Verwandtschaft feiner individuellen Persönlichkeit mit dem Grashalm, auf


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[0307] walt Whitmm, Und immer neue Wogen wirft seine Entzückung. „O, die Freuden des Ingenieurs," singt er, „O, die Freuden des muskelkräftigen Fechters, O, die Freuden der Mutter, O, die Freuden meiner Seele." Es ist Whitmnns „Trunkenes Lied". Man höre seinen Ausklang: Man muß dieser Seligkeit auf den Grund spüren. Sie beruht uicht auf dem Wohlgefallen an den Dingen, an der Erscheinung der Dinge an und für sich. Obgleich Whitman der ausgesprochenste Optimist ist, weiß er wohl, daß die Dinge dieser Welt ein Preislied in so hohem Ton nicht verdienen. Er weiß, daß es Häßliches, Trübes, Dunkles gibt, aber er schlägt es mit einen: Dennoch aus dem Felde. „Ich sehe unter die Hülle eurer hageren und gemeinen Masken, ich sehe eure gerundeten, unzerstörteu Umrisse." Das ist die Stimme des Weisen. Das Unvollkommenste gilt ihm als eine Entstellung und Verstellung des Voll¬ kommenen. Und dieses allein ehrt er in ihm. Das Geheimnis dieser Betrachtungs¬ weise ruht in dem Vermögen, die Welt als ein geschlossenes Ganzes zu begreifen. Die Welt, das ist keine bunt zusammengewürfelte Menge von einzelnen Dingen und Einzelerscheinungen, sie ist ein Eines, Einziges, und wer einen ihrer Teile schaut, der schaut auch dieses Eine, dieses Ganze. Whitman ist ein kosmisches Genie. Er vermag es gar nicht anders, als alle Verhältnisse, Phänomene und Ereignisse unter den kosmischen Gesichtspunkt zu stellen. Es gibt für ihn nichts Unzusammenhängeudes: der Weltenschöpfer arbeitet nicht mit Jsolierschemeln. Und was heißt ihm dann groß und klein? Alle diese Unterschiede sind aufgehoben, weggeblasen, das Kleinste steht gleich¬ berechtigt neben dem Großen, beide Dokumente, Erscheinungsformen eines Wesens, jener einen gewaltigen Kraft, die alles in allem ist. Wir verstehen es jetzt, wenn Whitman verkündet: „Nichts ist allein um seiner selbst willen da; ich sage, die ganze Erde und alle Sterne am Himmel sind der Religion wegen da." Und er fährt fort: „Ich sage, noch ist kein Mensch halb andächtig genug gewesen, keiner hat halb genug verehrt oder angebetet, keiner hat zu bedenken begonnen, wie göttlich er selbst ist und wie sicher die Zukunft ist." Nennt man Whitinnn einen Pantheisten, so wird man seiner religiösen Eigenart kaun: gerecht geworden sein. Das, was wir Pantheismus nenne,:, ist zumeist ein Gewächs philosophischer Betrachtung. Der Pantheist erschließt eine Kraft, die er überall am Werke sieht, und die er, weil sie ihm göttliche Macht und Bedeutung zu haben scheint, als göttliche Kraft, als Gott für sich in Anspruch nimmt. Ich meine, daß Whitman auf anderen: Wege zu seinem Glauben gekommen ist. Er fühlte die innere Verwandtschaft aller Dinge, die innere Verwandtschaft feiner individuellen Persönlichkeit mit dem Grashalm, auf

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/307>, abgerufen am 22.12.2024.